»An Sprachbegeisterung ist dieser Dichter schwerlich zu überbieten.« Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung
In den neuen Gedichten von Michael Lentz geht es buchstäblich um alles - von A bis Z, von der Kindheit bis zum Tod. Im Zentrum steht nicht zufällig das Gedicht von einem Kind, das eine tote Amsel gefunden hat. Und beide, Kind und Gedicht, wollen die Amsel wieder zum Singen bringen. In immer neuen Anläufen geben sich die neuen Gedichte von Michael Lentz der schöpferischen, lebendigen Kraft der Sprache hin und ziehen dabei vom Gebet bis zum Anagramm alle Register. Das hat etwas Barockes und Romantisches und kühl Modernes und zielt doch immer auf das Ganze unserer Existenz.
In den neuen Gedichten von Michael Lentz geht es buchstäblich um alles - von A bis Z, von der Kindheit bis zum Tod. Im Zentrum steht nicht zufällig das Gedicht von einem Kind, das eine tote Amsel gefunden hat. Und beide, Kind und Gedicht, wollen die Amsel wieder zum Singen bringen. In immer neuen Anläufen geben sich die neuen Gedichte von Michael Lentz der schöpferischen, lebendigen Kraft der Sprache hin und ziehen dabei vom Gebet bis zum Anagramm alle Register. Das hat etwas Barockes und Romantisches und kühl Modernes und zielt doch immer auf das Ganze unserer Existenz.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Lehmkuhl nimmt noch einmal Michael Lentz' Frankfurter Poetikvorlesungen zur Hand, in der Hoffnung, dadurch ein wenig Licht ins verwirrende Dunkel des neuen sprachspielerisch wie -künstlerisch herausfordernden Gedichtband zu bringen. So kann er sich mithilfe der Vorlesungen immerhin die Anspielungen des Gedichtes "adoneus helmut" auf Deutschland in den 70ern, die RAF und Helmut Schmidt erklären, die viel mit Anagrammen arbeiten. Damit begibt sich Lentz in die Tradition von Dichtern wie Oskar Pastior und Ernst Jandl, stellt Lehmkuhl fest, die Inspirationen, die sie dem Autor geben, fasst er im titelgebenden Begriff "Chora" zusammen, der als eine Art Urschleim der Poesie funktioniert. So ganz weiß der Kritiker noch nicht, was er von abenteuerlichen Aufforderungen wie "mach rhizom mit mir" halten soll, aber für alle, die in Sachen Lyrik ihren detektivischen Spürsinn auf die Probe stellen wollen, gibt es hier allemal eine Menge zu entdecken, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Amigo Imago
Mit dem Gedichtband "Chora" betreibt Michael Lentz Traditionspflege im Maschinenraum der Sprache.
Von Tobias Lehmkuhl
Ghu", "sehnarj", "o mein lateralsinn" - viele Titel der Gedichte in Michael Lentz' neuem Lyrikband "Chora" klingen ebenso reizvoll wie rätselhaft. Auch bei "adoneus helmut" meint man, es mit einer Art dadaistischem Scherz zu tun zu haben. In seiner 2013 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesung ging Lentz allerdings genau auf dieses Gedicht ein und machte klar, dass mehr darin steckt als bloßer Nonsens. Rilke nämlich. Dessen Gedicht "Schlußstück" diente Lentz als Folie für sein eigenes Gedicht, sowohl, was das Versmaß (besagten Adoneus), als auch, was das Vokabular angeht. "Der Tod ist groß", setzt Rilke ein, "der schmidt ist groß", heißt es (in konsequenter Kleinschreibung) bei Lentz. Dieser Schmidt ist, der Titel deutet darauf hin, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Darauf verweisen auch andere Elemente von "adoneus helmut". So wird die "landshut" erwähnt, außerdem ist die Rede von "vagen doppelbeschlüsse(n)". Andere Referenzen zu entschlüsseln, dazu braucht es die Poetikvorlesung des Autors: In "lüftet den schleier" hätte sicher nicht jedermann sofort den Bezug auf die Schleyer-Entführung erkannt, und wer hätte geahnt, dass sich in "magisch das duo bieder und meier" ein Anagramm von "Mogadischu" versteckt? Anagramme sind Hauptmotor der Lentz'schen Kombinatorik. "Was suche ich, was ist das Verborgene?", fragt er sich zu Anfang seiner Frankfurter Poetikvorlesungen und gibt sich selbst die Antwort: "Die Tradition." Die Tradition anagrammatischer Verfahrensweisen, überhaupt der regelorientierten Dichtung geht auf die Konkrete Poesie (über die Lentz promoviert hat) und auf die Arbeiten von Oulipo zurück; ihren Urgrund hat sie nicht zuletzt im Barock. Dass Lentz seine Suche nach Tradition und Urgrund in den Jahren seit "adoneus helmut" (das 2011 zuerst in der Wochenzeitung "Die Zeit" erschien) fortgesetzt hat, verrät wiederum der Titel, unter dem Lentz seine neuen Arbeiten bündelt: "Chora". Hinter diesem Begriff steckt ein sich einer eindeutigen Definition entziehendes philosophisches Konzept, das auf Platons Dialog "Timaios" zurückgeht: Chora gilt dort als "Amme des Werdens", als Raum, der zugleich die noch gestaltlose Materie enthält, aus dem die Welt hervorgeht. Für Derrida stellt Chora das "dritte Geschlecht" dar: Sie gibt allem einen Ort, ohne sich selbst auf einen Ort festlegen zu lassen. Im übertragenen Sinn gilt dies nun auch für die Dichtung. Als Chora fungieren dabei die 26 Buchstaben des Alphabets. Aus ihnen geht alle Bedeutung hervor, sie selbst aber haben, jeder Buchstabe für sich genommen, überhaupt keine Bedeutung, sind in ontologischer Hinsicht ortlos. Potentiell steckt sehr viel Tod in der Liebe, steckt sehr viel Liebe im Tod, potentiell sind, folgt man Lentz, Tod und Liebe zudem mit viel Aroma gewürzt: "nota / bene nota mora amor aromamor". Zur regelgeleiteten Poetik gehört immer auch der Regelbruch. Das Anagramm stellt in "Chora" zudem nicht die einzige poetische Verfahrensweise dar. Wer möchte, kann noch weitere entschlüsseln, ja die Lektüre der Gedichte in "Chora" ist etwas für Menschen, die gerne Schachprobleme lösen: Welcher ausgeklügelte Plan steckt hinter diesem oder jenem Gedicht, wie wurden Buchstaben, Wörter, ganze Verse verschoben oder miteinander gekreuzt, wann variiert der Dichter seinen Plan, wann gibt er ihn auf? Das ist Literatur, sagt Lentz in seinen Poetikvorlesungen: "Bewegung im Stillstand." Eine Zeile bleibt eine Zeile, aber in jeder Zeile spielen die Buchstaben fröhlich Bäumchen-wechsel-dich. Wobei selbst die Zeilen für den Konkreten Poeten und seine Nachfolger nicht immer geradlinige Zeilen bleiben, sondern auch mal Bögen, Kreise, Wellen bilden. Apropos typographische Bilder: Sprachbilder, in denen die sinnliche Welt sprachlich gefasst wird, Beschreibungen äußerer Wirklichkeit gar findet man in "Chora" eher nicht. Wer inhaltlich liest, wird also enttäuscht. Zwar kann man über mehrere Gedichte und Seiten hinweg das Brüder-Motiv verfolgen, etwa wenn von "tuom und abel" und von "kainer und aber" die Rede ist, und man kann sogar einen Bruderzwist beobachten, der zugleich ein babylonischer Kampf der Wörter ist: "ich bin der bruder des bruders ich bin der bruder / des bruders der tot ist ich bin der bruder des toten / bruders der lebt wenn ich sage ich bin der bruder / des bruders der tot ist der geist aus der flasche die wolke / in hosen die dosen der rauch bin ich der bruder." Aber wenn man daraus biographische Rückschlüsse ziehen oder etwas über das Verhältnis von Brüdern im Allgemeinen ableiten möchte, ist man sicher auf der falschen Fährte. Wahrscheinlicher ist, dass sich Lentz hier auf ein Gedicht von Oskar Pastior bezieht, das er ebenfalls in seiner Poetikvorlesung erwähnt, "Wer auf den Wellen geht". Darin steht die Frage: "Wo schläft heute Kain?", und einige Verse später findet sich auch die Antwort: "Ich rolle schwer wie ein Rad / übern Kai". Es hat sich also das Wort "Kain" sozusagen selbst zur Ruhe gelegt und ist "übern Kai" diffundiert. Ähnlich geht Lentz in Gedichten von "Chora" vor. Seine Traditionspflege wirkt dabei keineswegs angestaubt, ja es ist immer wieder die postulierte Bewegung im Stillstand zu spüren, die Lust an der Sprache: "amigo imago mach rhizom mit mir." "Chora" ist eine Hommage an Gomringer, Rühm, Jandl und Pastior. Dass Lentz weder Sinnbilder noch Botschaften produziert, gehört zum Programm. Hier besingt der Maschinenraum der Sprache sich selbst. L'art pour l'art im wahrsten Sinne des Wortes. Der poetische Gewinn des Ganzen ist zwar fraglich. Aber falls es nach Franz Mon noch eines Beweises bedurft hätte: Was Schweizer, Österreicher und Siebenbürger können, können wir hier im Land der Ingenieure allemal. Michael Lentz: "Chora". Gedichte. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 128 S., geb., 24,- Euro.
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Mit dem Gedichtband "Chora" betreibt Michael Lentz Traditionspflege im Maschinenraum der Sprache.
Von Tobias Lehmkuhl
Ghu", "sehnarj", "o mein lateralsinn" - viele Titel der Gedichte in Michael Lentz' neuem Lyrikband "Chora" klingen ebenso reizvoll wie rätselhaft. Auch bei "adoneus helmut" meint man, es mit einer Art dadaistischem Scherz zu tun zu haben. In seiner 2013 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesung ging Lentz allerdings genau auf dieses Gedicht ein und machte klar, dass mehr darin steckt als bloßer Nonsens. Rilke nämlich. Dessen Gedicht "Schlußstück" diente Lentz als Folie für sein eigenes Gedicht, sowohl, was das Versmaß (besagten Adoneus), als auch, was das Vokabular angeht. "Der Tod ist groß", setzt Rilke ein, "der schmidt ist groß", heißt es (in konsequenter Kleinschreibung) bei Lentz. Dieser Schmidt ist, der Titel deutet darauf hin, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Darauf verweisen auch andere Elemente von "adoneus helmut". So wird die "landshut" erwähnt, außerdem ist die Rede von "vagen doppelbeschlüsse(n)". Andere Referenzen zu entschlüsseln, dazu braucht es die Poetikvorlesung des Autors: In "lüftet den schleier" hätte sicher nicht jedermann sofort den Bezug auf die Schleyer-Entführung erkannt, und wer hätte geahnt, dass sich in "magisch das duo bieder und meier" ein Anagramm von "Mogadischu" versteckt? Anagramme sind Hauptmotor der Lentz'schen Kombinatorik. "Was suche ich, was ist das Verborgene?", fragt er sich zu Anfang seiner Frankfurter Poetikvorlesungen und gibt sich selbst die Antwort: "Die Tradition." Die Tradition anagrammatischer Verfahrensweisen, überhaupt der regelorientierten Dichtung geht auf die Konkrete Poesie (über die Lentz promoviert hat) und auf die Arbeiten von Oulipo zurück; ihren Urgrund hat sie nicht zuletzt im Barock. Dass Lentz seine Suche nach Tradition und Urgrund in den Jahren seit "adoneus helmut" (das 2011 zuerst in der Wochenzeitung "Die Zeit" erschien) fortgesetzt hat, verrät wiederum der Titel, unter dem Lentz seine neuen Arbeiten bündelt: "Chora". Hinter diesem Begriff steckt ein sich einer eindeutigen Definition entziehendes philosophisches Konzept, das auf Platons Dialog "Timaios" zurückgeht: Chora gilt dort als "Amme des Werdens", als Raum, der zugleich die noch gestaltlose Materie enthält, aus dem die Welt hervorgeht. Für Derrida stellt Chora das "dritte Geschlecht" dar: Sie gibt allem einen Ort, ohne sich selbst auf einen Ort festlegen zu lassen. Im übertragenen Sinn gilt dies nun auch für die Dichtung. Als Chora fungieren dabei die 26 Buchstaben des Alphabets. Aus ihnen geht alle Bedeutung hervor, sie selbst aber haben, jeder Buchstabe für sich genommen, überhaupt keine Bedeutung, sind in ontologischer Hinsicht ortlos. Potentiell steckt sehr viel Tod in der Liebe, steckt sehr viel Liebe im Tod, potentiell sind, folgt man Lentz, Tod und Liebe zudem mit viel Aroma gewürzt: "nota / bene nota mora amor aromamor". Zur regelgeleiteten Poetik gehört immer auch der Regelbruch. Das Anagramm stellt in "Chora" zudem nicht die einzige poetische Verfahrensweise dar. Wer möchte, kann noch weitere entschlüsseln, ja die Lektüre der Gedichte in "Chora" ist etwas für Menschen, die gerne Schachprobleme lösen: Welcher ausgeklügelte Plan steckt hinter diesem oder jenem Gedicht, wie wurden Buchstaben, Wörter, ganze Verse verschoben oder miteinander gekreuzt, wann variiert der Dichter seinen Plan, wann gibt er ihn auf? Das ist Literatur, sagt Lentz in seinen Poetikvorlesungen: "Bewegung im Stillstand." Eine Zeile bleibt eine Zeile, aber in jeder Zeile spielen die Buchstaben fröhlich Bäumchen-wechsel-dich. Wobei selbst die Zeilen für den Konkreten Poeten und seine Nachfolger nicht immer geradlinige Zeilen bleiben, sondern auch mal Bögen, Kreise, Wellen bilden. Apropos typographische Bilder: Sprachbilder, in denen die sinnliche Welt sprachlich gefasst wird, Beschreibungen äußerer Wirklichkeit gar findet man in "Chora" eher nicht. Wer inhaltlich liest, wird also enttäuscht. Zwar kann man über mehrere Gedichte und Seiten hinweg das Brüder-Motiv verfolgen, etwa wenn von "tuom und abel" und von "kainer und aber" die Rede ist, und man kann sogar einen Bruderzwist beobachten, der zugleich ein babylonischer Kampf der Wörter ist: "ich bin der bruder des bruders ich bin der bruder / des bruders der tot ist ich bin der bruder des toten / bruders der lebt wenn ich sage ich bin der bruder / des bruders der tot ist der geist aus der flasche die wolke / in hosen die dosen der rauch bin ich der bruder." Aber wenn man daraus biographische Rückschlüsse ziehen oder etwas über das Verhältnis von Brüdern im Allgemeinen ableiten möchte, ist man sicher auf der falschen Fährte. Wahrscheinlicher ist, dass sich Lentz hier auf ein Gedicht von Oskar Pastior bezieht, das er ebenfalls in seiner Poetikvorlesung erwähnt, "Wer auf den Wellen geht". Darin steht die Frage: "Wo schläft heute Kain?", und einige Verse später findet sich auch die Antwort: "Ich rolle schwer wie ein Rad / übern Kai". Es hat sich also das Wort "Kain" sozusagen selbst zur Ruhe gelegt und ist "übern Kai" diffundiert. Ähnlich geht Lentz in Gedichten von "Chora" vor. Seine Traditionspflege wirkt dabei keineswegs angestaubt, ja es ist immer wieder die postulierte Bewegung im Stillstand zu spüren, die Lust an der Sprache: "amigo imago mach rhizom mit mir." "Chora" ist eine Hommage an Gomringer, Rühm, Jandl und Pastior. Dass Lentz weder Sinnbilder noch Botschaften produziert, gehört zum Programm. Hier besingt der Maschinenraum der Sprache sich selbst. L'art pour l'art im wahrsten Sinne des Wortes. Der poetische Gewinn des Ganzen ist zwar fraglich. Aber falls es nach Franz Mon noch eines Beweises bedurft hätte: Was Schweizer, Österreicher und Siebenbürger können, können wir hier im Land der Ingenieure allemal. Michael Lentz: "Chora". Gedichte. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 128 S., geb., 24,- Euro.
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[...] ein Gewinn für alle, die schätzen, was gute Literatur kann: scheinbar Vertrautes so zu verbinden, dass es Abgründe und Größe des Menschseins neu aufschließt. Philipp Werner Buchreport 20230427