75 Jahre CDU: Bilanz einer Erfolgsgeschichte
Die Christlich-Demokratische Union, nach der Kapitulation Deutschlands 1945 gegründet, hat als interkonfessionelle Volkspartei das deutsche Parteiengefüge grundlegend verändert. Sie ist zweifellos die erfolgreichste Partei in der bundesdeutschen Geschichte und stellte bis heute über fünfzig Jahre lang den deutschen Kanzler bzw. die Kanzlerin. Die Essays im vorliegenden Sammelband widmen sich der Geschichte der CDU aus ganz verschiedenen, mitunter kontroversen Blickwinkeln und von divergierenden Standpunkten aus. Dabei geht es nicht nur um ihre historischen Rolle in der deutschen Geschichte - ebenso werden ihre politisch-weltanschaulichen Fundamente beleuchtet, ihr Umgang mit der Vergangenheit infolge der doppelten Diktatur-Erfahrung durch die NS-Zeit und die SED-Herrschaft und nicht zuletzt ihr Beitrag zur Überwindung der deutschen Teilung und zur Integration Europas.
Ausstattung: mit ca. 25 vierfarbigen Abbildungen
Die Christlich-Demokratische Union, nach der Kapitulation Deutschlands 1945 gegründet, hat als interkonfessionelle Volkspartei das deutsche Parteiengefüge grundlegend verändert. Sie ist zweifellos die erfolgreichste Partei in der bundesdeutschen Geschichte und stellte bis heute über fünfzig Jahre lang den deutschen Kanzler bzw. die Kanzlerin. Die Essays im vorliegenden Sammelband widmen sich der Geschichte der CDU aus ganz verschiedenen, mitunter kontroversen Blickwinkeln und von divergierenden Standpunkten aus. Dabei geht es nicht nur um ihre historischen Rolle in der deutschen Geschichte - ebenso werden ihre politisch-weltanschaulichen Fundamente beleuchtet, ihr Umgang mit der Vergangenheit infolge der doppelten Diktatur-Erfahrung durch die NS-Zeit und die SED-Herrschaft und nicht zuletzt ihr Beitrag zur Überwindung der deutschen Teilung und zur Integration Europas.
Ausstattung: mit ca. 25 vierfarbigen Abbildungen
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jasper von Altenbockum freut sich nicht nur über die Beiträge zum CDU-Jubiläum in dem von Norbert Lammert herausgegebenen Band, auch die Idee, jedes Kapitel mit einem historischen Wahlplakat zu beginnen, macht ihm Freude. Besonders lesenswert findet er die Beiträge von Klaus-Dietmar Henke (über die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit) und Mariam Lau über die CDU und die Frauen. Dass sich nur wenige Texte mit der Merkel-Zeit befassen, sieht er positiv. So werden andere Zusammenhänge für die "Krisenanalyse" sichtbar, meint er. Das Verhältnis CDU-FDP kommt ihm im Band entschieden zu kurz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2020Der große Schwamm
Die CDU wollte einst alle Christen und alle, die nichts mit dem Sozialismus am Hut hatten, einsammeln.
Ein Aufsatzband, herausgegeben von Norbert Lammert, beleuchtet 70 Jahre Parteiengeschichte
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Norbert Lammert als Bundestagspräsident schrie nie so durchdringend laut wie sein Pendant, John Bercow, der als Sprecher des britischen Unterhauses mit seinen Rufen zur Ordnung weltweit berühmt wurde. Lammert, auch ein Konservativer, hat es nie nötig gehabt, seine Stimmbänder so zu strapazieren wie Bercow. Beiden gemeinsam ist aber: Mit Witz und Wortgewalt haben sie sich für die Rechte des Parlaments eingesetzt und gegen Alleingänge ihrer Regierungen.
Nun hat Lammert ein Buch herausgegeben, in dem 26 „Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU“ versammelt sind; am vergangenen Donnerstag wurde es vorgestellt (siehe SZ vom 28. August). Als Autoren wurden etliche CDU-Mitglieder und CDU-Sympathisanten gewählt. Das stört aber nicht, weil es allen Autoren um getreuliche Entfaltung ihres Themas geht. Das gilt sogar für den Historiker Andreas Rödder, der die CDU als „Staatspartei“ der Bundesrepublik bezeichnet. Da die Partei von Adenauer bis Merkel die meisten Jahre lang die Kanzler gestellt hat, wäre an dieser Formulierung allenfalls auszusetzen, dass sie etwas Tautologisches an sich hat.
Der einzige ärgerliche Beitrag – „Die CDU zwischen transatlantischer Bündnistreue und Ausgleich mit dem Osten“ – stammt von dem Bundeswehrgeneral a.D. Klaus Naumann. Seit 1966, klagt er, sei das Außenministerium der CDU verloren gewesen: „Damit ging ein bis heute spürbarer Verlust an außenpolitischem Sachverstand einher.“ Die anerkanntermaßen exzellente Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt hält Naumann offenbar für schlecht. Dass der SPD-Kanzler Gerhard Schröder beim Irakkrieg 2003 nicht mitmachte, hält er für verantwortungslos, ignoriert aber, dass Frankreich unter dem Konservativen Jacques Chirac auch nicht mitmachte. So gut wie common sense ist mittlerweile, dass dieser Krieg unter der Ägide der Vereinigten Staaten ein Fehler war, weil er nicht bloß die Staatlichkeit des Irak demolierte, sondern die gesamte Region auf Dauer destabilisierte. Will Klaus Naumann, der USA-Freund, das nicht wissen, oder hat er es etwa nicht mitbekommen?
Das Gros der Aufsätze hingegen macht das Werk fast zu einem Handbuch: Gedächtnisauffrischung für jene, die die Zeiten erlebt haben, informativ für jene, die wenig Ahnung haben. Besonders eindrucksvoll, weil von aufrechter Haltung zeugend, ist Peter Müllers Text über „die CDU und die innere Sicherheit“. Der frühere CDU-Ministerpräsident und Justizminister des Saarlands ist alles andere denn ein Parteisoldat. Er schreibt etwa, was nicht als Lob gemeint ist, sondern bloß objektiv: „Statt der Maxime ,Hilfe statt Strafe‘ scheint die Union sich eher dem Grundsatz ,Strafe hilft‘ verpflichtet zu fühlen.“
Die größte Leistung der CDU ist vielleicht gewesen, dass diese Partei den Jahrhunderte währenden Konfessionsstreit zwischen Katholiken und Protestanten beseitigte. Sie nannte sich „christlich“: Das genügte. Wie das möglich war, schildern die Historiker Frank-Lothar Kroll und Edgar Wolfrum. Das Erfolgsrezept der CDU bestand Jahrzehnte lang nicht zuletzt darin, dass sie – anders als die SPD – kein Grundsatzprogramm hatte. Das erste wurde 1978 verabschiedet. Und das war ziemlich schwammig. Die Partei wollte alle einsammeln, die nichts mit Sozialismus am Hut haben. Die CDU: ein Schwamm. Anders gesagt, nämlich mit dem Historiker Frank Bösch: Die Vorsitzenden „profitierten von dem bürgerlich geprägten Bedürfnis nach Harmonie und Respekt“.
Außerdem hat die CDU alles, was zum Formenkreis des Wortes „Tradition“ gehört, zumindest bis zur Kanzlerschaft Angela Merkels, hochgehalten. Dazu gehörte dann eben auch, dass ehemalige Nazis willkommen waren. Adenauers Wort, wenn man kein sauberes Wasser habe, müsse man mit altem waschen, beschönigte den Umstand, dass er sich im Kanzleramt besser aufgehoben fühlte als im Einklang mit seiner Moral. Der Historiker Klaus-Dietmar Henke schreibt: „Jahrelang saßen im rechtskonservativen Bürgerblock achtmal mehr Bundestagsabgeordnete, die der NSDAP angehört hatten, als in den Reihen der Sozialdemokratie.“ Henke schildert, wie schwer die CDU sich damit getan hat, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg und an der Shoah anzuerkennen. Traditionsgemäß haben alle CDU-Kanzler die deutsche Wiedervereinigung beschworen. Zunehmend waren es lediglich Lippenbekenntnisse, wie der Jurist und Politologe Wolfgang Jäger zeigt. Helmut Kohl war bis 1989 mehr an einem einigen Westeuropa interessiert als an der deutschen Einheit.
Die CDU als Volkspartei hat immer auch einen „linken“ Flügel gehabt: „Die Sozialausschüsse“ der Partei, erklärt der Politologe Wolfgang Schroeder, „waren zuständig für die sozialen Fragen, während Mittelstandsvereinigung und Wirtschaftsausschuss die Deutungshoheit für wirtschaftliche Fragen besaßen.“ Die Sozialausschüsse hatten es nicht leicht. Es brauchte starke Persönlichkeiten wie Jakob Kaiser, Norbert Blüm und Heiner Geißler, ihre Anliegen zu Gehör zu bringen.
Seit den 1990er-Jahren ist oft gesagt worden, die Grenzen zwischen Links und Rechts in der deutschen Politik seien aufgehoben. Wie sich gezeigt hat, stimmt das nicht ganz. Angela Merkel machte die CDU linker und grüner – was viele CDU-Wähler missmutig stimmte. Der Zeithistoriker Thomas Brechenmacher hat die Ära Merkel gut zusammengefasst und erlaubt sich eine kritische Bemerkung, die es in sich hat: Merkels Reden, diese oder jene politische Maßnahme sei „alternativlos“, hätte sie besser unterlassen. Denn „Politik wird dadurch ihres prinzipiell offenen Charakters entkleidet“.
Offen und zur Lektüre einladend ist Lammerts Sammelband. Als Handbuch ist er am Ende aber leider nicht ganz geeignet: Anstatt jedem Kapitel die farbige Abbildung eines CDU-Wahlplakats voranzustellen, was die Druckkosten enorm erhöht, hätte man dieses Geld besser für ein Namens- und Sachregister ausgegeben.
Auf „Tradition“ legte man Wert.
Dazu gehörte anfangs auch,
dass alte Nazis willkommen waren
Unter dem Motto „Einigkeit und Recht und Freiheit“ (Einigkeit auf dem Foto nicht erkennbar) fand in Goslar im Oktober 1950 der erste CDU-Parteitag statt.
dpa
Norbert Lammert (Hg.):
Christlich-Demokratische Union. Beiträge und
Positionen zur Geschichte der CDU. Siedler-Verlag, München 2020.
840 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die CDU wollte einst alle Christen und alle, die nichts mit dem Sozialismus am Hut hatten, einsammeln.
Ein Aufsatzband, herausgegeben von Norbert Lammert, beleuchtet 70 Jahre Parteiengeschichte
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Norbert Lammert als Bundestagspräsident schrie nie so durchdringend laut wie sein Pendant, John Bercow, der als Sprecher des britischen Unterhauses mit seinen Rufen zur Ordnung weltweit berühmt wurde. Lammert, auch ein Konservativer, hat es nie nötig gehabt, seine Stimmbänder so zu strapazieren wie Bercow. Beiden gemeinsam ist aber: Mit Witz und Wortgewalt haben sie sich für die Rechte des Parlaments eingesetzt und gegen Alleingänge ihrer Regierungen.
Nun hat Lammert ein Buch herausgegeben, in dem 26 „Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU“ versammelt sind; am vergangenen Donnerstag wurde es vorgestellt (siehe SZ vom 28. August). Als Autoren wurden etliche CDU-Mitglieder und CDU-Sympathisanten gewählt. Das stört aber nicht, weil es allen Autoren um getreuliche Entfaltung ihres Themas geht. Das gilt sogar für den Historiker Andreas Rödder, der die CDU als „Staatspartei“ der Bundesrepublik bezeichnet. Da die Partei von Adenauer bis Merkel die meisten Jahre lang die Kanzler gestellt hat, wäre an dieser Formulierung allenfalls auszusetzen, dass sie etwas Tautologisches an sich hat.
Der einzige ärgerliche Beitrag – „Die CDU zwischen transatlantischer Bündnistreue und Ausgleich mit dem Osten“ – stammt von dem Bundeswehrgeneral a.D. Klaus Naumann. Seit 1966, klagt er, sei das Außenministerium der CDU verloren gewesen: „Damit ging ein bis heute spürbarer Verlust an außenpolitischem Sachverstand einher.“ Die anerkanntermaßen exzellente Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt hält Naumann offenbar für schlecht. Dass der SPD-Kanzler Gerhard Schröder beim Irakkrieg 2003 nicht mitmachte, hält er für verantwortungslos, ignoriert aber, dass Frankreich unter dem Konservativen Jacques Chirac auch nicht mitmachte. So gut wie common sense ist mittlerweile, dass dieser Krieg unter der Ägide der Vereinigten Staaten ein Fehler war, weil er nicht bloß die Staatlichkeit des Irak demolierte, sondern die gesamte Region auf Dauer destabilisierte. Will Klaus Naumann, der USA-Freund, das nicht wissen, oder hat er es etwa nicht mitbekommen?
Das Gros der Aufsätze hingegen macht das Werk fast zu einem Handbuch: Gedächtnisauffrischung für jene, die die Zeiten erlebt haben, informativ für jene, die wenig Ahnung haben. Besonders eindrucksvoll, weil von aufrechter Haltung zeugend, ist Peter Müllers Text über „die CDU und die innere Sicherheit“. Der frühere CDU-Ministerpräsident und Justizminister des Saarlands ist alles andere denn ein Parteisoldat. Er schreibt etwa, was nicht als Lob gemeint ist, sondern bloß objektiv: „Statt der Maxime ,Hilfe statt Strafe‘ scheint die Union sich eher dem Grundsatz ,Strafe hilft‘ verpflichtet zu fühlen.“
Die größte Leistung der CDU ist vielleicht gewesen, dass diese Partei den Jahrhunderte währenden Konfessionsstreit zwischen Katholiken und Protestanten beseitigte. Sie nannte sich „christlich“: Das genügte. Wie das möglich war, schildern die Historiker Frank-Lothar Kroll und Edgar Wolfrum. Das Erfolgsrezept der CDU bestand Jahrzehnte lang nicht zuletzt darin, dass sie – anders als die SPD – kein Grundsatzprogramm hatte. Das erste wurde 1978 verabschiedet. Und das war ziemlich schwammig. Die Partei wollte alle einsammeln, die nichts mit Sozialismus am Hut haben. Die CDU: ein Schwamm. Anders gesagt, nämlich mit dem Historiker Frank Bösch: Die Vorsitzenden „profitierten von dem bürgerlich geprägten Bedürfnis nach Harmonie und Respekt“.
Außerdem hat die CDU alles, was zum Formenkreis des Wortes „Tradition“ gehört, zumindest bis zur Kanzlerschaft Angela Merkels, hochgehalten. Dazu gehörte dann eben auch, dass ehemalige Nazis willkommen waren. Adenauers Wort, wenn man kein sauberes Wasser habe, müsse man mit altem waschen, beschönigte den Umstand, dass er sich im Kanzleramt besser aufgehoben fühlte als im Einklang mit seiner Moral. Der Historiker Klaus-Dietmar Henke schreibt: „Jahrelang saßen im rechtskonservativen Bürgerblock achtmal mehr Bundestagsabgeordnete, die der NSDAP angehört hatten, als in den Reihen der Sozialdemokratie.“ Henke schildert, wie schwer die CDU sich damit getan hat, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg und an der Shoah anzuerkennen. Traditionsgemäß haben alle CDU-Kanzler die deutsche Wiedervereinigung beschworen. Zunehmend waren es lediglich Lippenbekenntnisse, wie der Jurist und Politologe Wolfgang Jäger zeigt. Helmut Kohl war bis 1989 mehr an einem einigen Westeuropa interessiert als an der deutschen Einheit.
Die CDU als Volkspartei hat immer auch einen „linken“ Flügel gehabt: „Die Sozialausschüsse“ der Partei, erklärt der Politologe Wolfgang Schroeder, „waren zuständig für die sozialen Fragen, während Mittelstandsvereinigung und Wirtschaftsausschuss die Deutungshoheit für wirtschaftliche Fragen besaßen.“ Die Sozialausschüsse hatten es nicht leicht. Es brauchte starke Persönlichkeiten wie Jakob Kaiser, Norbert Blüm und Heiner Geißler, ihre Anliegen zu Gehör zu bringen.
Seit den 1990er-Jahren ist oft gesagt worden, die Grenzen zwischen Links und Rechts in der deutschen Politik seien aufgehoben. Wie sich gezeigt hat, stimmt das nicht ganz. Angela Merkel machte die CDU linker und grüner – was viele CDU-Wähler missmutig stimmte. Der Zeithistoriker Thomas Brechenmacher hat die Ära Merkel gut zusammengefasst und erlaubt sich eine kritische Bemerkung, die es in sich hat: Merkels Reden, diese oder jene politische Maßnahme sei „alternativlos“, hätte sie besser unterlassen. Denn „Politik wird dadurch ihres prinzipiell offenen Charakters entkleidet“.
Offen und zur Lektüre einladend ist Lammerts Sammelband. Als Handbuch ist er am Ende aber leider nicht ganz geeignet: Anstatt jedem Kapitel die farbige Abbildung eines CDU-Wahlplakats voranzustellen, was die Druckkosten enorm erhöht, hätte man dieses Geld besser für ein Namens- und Sachregister ausgegeben.
Auf „Tradition“ legte man Wert.
Dazu gehörte anfangs auch,
dass alte Nazis willkommen waren
Unter dem Motto „Einigkeit und Recht und Freiheit“ (Einigkeit auf dem Foto nicht erkennbar) fand in Goslar im Oktober 1950 der erste CDU-Parteitag statt.
dpa
Norbert Lammert (Hg.):
Christlich-Demokratische Union. Beiträge und
Positionen zur Geschichte der CDU. Siedler-Verlag, München 2020.
840 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2020Himmelsanker und Dehnungsübungen
Ein lesenswerter Sammelband über 75 Jahre CDU
Selbst die CDU, immer noch ein Fels in der Brandung der Volksparteien, kann gar nicht genug Vergangenheit haben, um zu wissen, wie sie ihre Zukunft meistern soll. Kaum ein Beitrag in dieser von Norbert Lammert und der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Festschrift auf 75 Jahre Christlich Demokratische Union endet nicht mit einem verklausulierten großen Fragezeichen. Exemplarisch: "Ob die CDU eine starke Partei bleiben wird, die als integrative Kraft zur Stabilität der Bundesrepublik beiträgt und über ihre Richtung bestimmt, ist daher eine offene Frage." So oder so ähnlich lesen sich viele der durchweg anregenden Aufsätze.
Wie labil die Statik der CDU geworden ist, lässt sich am derzeitigen Wettbewerb um den Parteivorsitz ablesen. Zwar waren auch die Generationswechsel nach Adenauer und Kohl eine holprige Zeit für die Partei. Sie spielten sich allerdings immer als Neuformierung in einer für die CDU ungewohnten Oppositionsrolle ab. Anders gesagt: Unsicherheit an der Oberfläche ergab sich für die Partei immer dann, wenn sie nicht auf ihr Markenzeichen, den Kanzlerbonus, setzen konnte. Der war lange Zeit so ausgeprägt, dass ein Besuch des Kanzlers und Parteivorsitzenden in der Parteizentrale überflüssig zu sein schien. Frank Bösch beschreibt, dass es Jahre dauerte, bis sich ein Vorsitzender überhaupt dort blicken ließ. Die derzeitige Situation ist für die CDU deshalb doppelt ungewohnt: Die Parteivorsitzende ist nicht Kanzlerin, und die Partei geht in einen Wahlkampf ohne Kanzlerbonus, obwohl sie nicht in der Opposition ist. Wenigstens in einem Punkt kehrt sie zu ihren Ursprüngen zurück: Zwar hat die CDU eine Vorsitzende, aber man merkt es kaum.
Die Verunsicherung reicht aber tiefer. Da der Band ein Dreivierteljahrhundert nachzeichnet, beschäftigen sich nur wenige Beiträge mit der Ära Merkel. Das führt dazu, dass zur Krisenanalyse andere Zusammenhänge in den Blick rücken als der übliche Dreiklang der Merkel-Kritik aus Wehrpflicht, Atomausstieg und Willkommenskultur. Nebenbei: Die Integration der Vertriebenen, die Auseinandersetzung mit den Ostverträgen, selbst die Einheit der Nation waren Themen, die größere Sprengkraft für die Partei hatten, dennoch nicht die Narben hinterlassen haben wie die Reizthemen der Merkel-Zeit. Matthias Stickler, Andreas Wirsching und Wolfgang Jäger zeigen, dass und wie die Partei daraus sogar jeweils gestärkt hervorging.
Herfried Münkler sieht darin den großen Unterschied zur gegenwärtigen Herausforderung durch die AfD. Überspitzt gesagt: Die Rolle als Volkspartei eroberte und verteidigte die CDU laut Münkler durch die Assimilierung nicht der linken, sondern der rechten Mitte, indem sie nationale Interessen betonte (in den Debatten über Wiederbewaffnung, 68er-Bewegung und Nachrüstung). Das sei Merkel "gründlich misslungen". Die "Abbrüche am rechten Flügel" beschleunigten in den vergangenen Jahren vielmehr die Bewegung der Partei nach links, eine Tendenz, die es allerdings, so muss man fairerweise hinzufügen, nicht erst unter Angela Merkel gab.
Erfrischend in diesem Zusammenhang ist das Kapitel von Mariam Lau über die CDU und die Frauen: "Wenn es überhaupt so etwas wie einen konservativen Feminismus gibt, ist er in Rheinland-Pfalz geboren" und sei von einem "zornigen jungen Mann" vorangetrieben worden, der "im Rollkragenpulli zum Gottesdienst" ging. Richtig geraten: Helmut Kohl ist gemeint, der sich mit Heiner Geißler und anderen Rebellen umgab, um das zu tun, was heute keiner der drei Kandidaten für den Vorsitz zu tun wagte, nämlich eine Entrümpelung der Partei an Haupt und Gliedern im Sinne einer Modernisierung und starker Zugeständnisse an den Zeitgeist.
Das ging so weit, dass in Kohls Zeit die Spannbreite von "links" nach "rechts" in der Partei mehr als ein Jahrzehnt lang so groß war, dass sie wieder fast, wie in der Adenauer-Zeit, für eine absolute Mehrheit reichte. Die Gründe für die aktuelle Krise der CDU in der programmatischen "Überdehnung" oder auch "Sozialdemokratisierung" zu suchen, ist deshalb gewagt. Kohl verstand es, die Dehnung durch geschickte Personalpolitik wieder zusammenzuziehen - in der Merkel-Ära war es eher umgekehrt. Wie tief die Spuren der vergangenen 15 Jahre (und ihres Vorspiels in der Kohl-Ära) sind, zeigt Thomas Brechenmacher, der an eine Mitgliederbefragung von 2007 erinnert, in der die Milieus noch sorgfältig typologisiert wurden: in "gesellschaftspolitisch-liberal" (17 Prozent), "traditionsbewusst" (oder "konservativ", 26), "marktwirtschaftsorientiert" (32) und "christlich-sozial" (25). Brechenmacher schreibt: "Ob es ein Indiz für die Entwicklungsrichtung der Partei ist, dass die Mitgliederstudie von 2017 auf die Bestimmung dieser Typologien verzichtete, muss offen bleiben." Man könnte auch sagen: Es ist ein für die CDU beklagenswertes Versäumnis.
In einem wichtigen, für die CDU vielleicht dem wichtigsten Punkt, dem sich Frank-Lothar Kroll und Antonius Liedhegener widmen, verfolgte Merkel aber einen ähnlich konsequenten Kurs wie Helmut Kohl. Sie widersetzte sich allen Tendenzen zur Säkularisierung der Partei. Anfang der siebziger Jahre konnte Kurt Biedenkopf noch sagen: "Die christlichen Bekenntnisse sind keine wirksame Grundlage politischer Integration mehr." Kohl verhinderte, dass daraus programmatische und organisatorische Konsequenzen gezogen wurden (sieht man von der Koalition mit der antiklerikalen FDP ab). Aber es zeigt, wo die langfristige Krisenanfälligkeit der CDU zu suchen ist. Denn das "C" ist bei aller programmatischen Wandlungsfähigkeit der "Himmelsanker" der Partei geblieben, leidet aber darunter, dass er porös zu werden droht.
Rost hat auch ein anderer Anker angesetzt, die Europapolitik. Die CDU ist darin paradoxerweise ein Opfer ihrer größten Leistung, der Einheit Deutschlands und der von ihr betriebenen Erweiterung der EU. Michael Gehler zeigt, dass das Jahr 1989 das Ende der Vision der "Vereinigten europäischen Staaten" war, eine Vision, über die es im ersten Grundsatzprogramm der CDU noch hieß: "Unser Ziel ist die Herausbildung eines demokratischen europäischen Bundesstaates." Davon kann heute keine Rede mehr sein. Aber was will die Partei stattdessen? Wie schwierig es geworden ist, diesen Teil der Volkspartei als Lebenselixier zu begreifen, wird deutlich, wenn Gehler schreibt, dass sich Merkel und Macron "nicht als supranationale Gemeinschaftseuropäer der europäischen Institutionen, sondern als intergouvernementale Unionseuropäer der Staats - und Regierungschefs" begreifen. Da kommt keine Stimmung auf.
Vieles wiederholt sich, was in einem Sammelband über die Geschichte einer Partei und ihres Personals nicht zu vermeiden ist. Erstaunlich (oder symptomatisch?) ist, dass keines der Kapitel die Nähe der CDU zur FDP unter die Lupe nimmt. Sie war zeitweise fast so intensiv wie die zur CSU. Horst Möller weist darauf hin, dass darin einer der Gründe lag, warum sich die CSU notorisch zu kurz gekommen fühlte - Kreuth und die Flüchtlingskrise nicht als Ausreißer, sondern als extreme Normalfälle. Darin steckt wohl ein Trauma, das wahrscheinlich nur durch eine bayerische Kanzlerschaft geheilt werden könnte (und durch ein neues ersetzt würde?). Die FDP war als Koalitionspartner aber aus einem anderen Grund fast so wichtig für die CDU wie die CSU. Sie störte die programmatischen Kreise und Konsensbereitschaft der Partei nicht, die Marktwirtschaft und Liberalismus nach 1945 schnell aufgesogen hatte und sich allenfalls durch ihren "elastischen Sicherheitskonservatismus" (Karl-Rudolf Koste) an den linksliberalen Kanten des Konkurrenten rieb (und reibt).
Das ist in Zeiten, in denen die CDU auf SPD und Grüne angewiesen ist, ja sogar vor die Frage gestellt wird, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten, fundamental anders. Die Dehnung ist auf diese Weise nicht mehr gewollt, sondern von außen erzwungen. Die gleichzeitige, seltsame Abwendung von der FDP spiegelt sich in diesem Buch im Kapitel von Ralf Fücks über (grüne) Koalitionsoptionen der CDU, dem einzigen, in dem strategische Fragen auf die CDU einhageln und auch der Tadel, dass die Partei auf wichtige Fragen keine überzeugenden Antworten gebe - zum Vorteil der Grünen, die so ungestört trotz ihrer Widersprüche im liberalen und konservativen Milieu hausieren gehen können.
Viele renommierte Autoren und Wissenschaftler sind in dieser publizistischen Liebeserklärung an eine 75-jährige Jubilarin versammelt - von Günter Bannas über Lars Feld, Klaus-Dietmar Henke (Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit - sehr aufschlussreich!), Ursula Münch, Heinrich Oberreuter bis Barbara Zehnpfennig. Oft verschwimmt dabei die deutsche Geschichte mit der engeren Parteigeschichte. Das ist nicht anders zu erwarten, wenn es um die dominierende politische Kraft der Nachkriegszeit geht. Ein geschickter und durchaus selbstironisch zu nennender Griff ins Archiv fördert per Illustrierung die eine oder andere Überraschung zutage: Jeder der 26 Beiträge ist mit einem Wahlplakat der CDU seit 1946 illustriert - großes Kino! Das alles macht den stolzen Wälzer nicht nur lesens- sondern auch sehenswert.
JASPER VON ALTENBOCKUM
Norbert Lammert (Hg.): Christlich Demokratische Union. Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU.
Siedler Verlag, München 2020. 838 S., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein lesenswerter Sammelband über 75 Jahre CDU
Selbst die CDU, immer noch ein Fels in der Brandung der Volksparteien, kann gar nicht genug Vergangenheit haben, um zu wissen, wie sie ihre Zukunft meistern soll. Kaum ein Beitrag in dieser von Norbert Lammert und der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Festschrift auf 75 Jahre Christlich Demokratische Union endet nicht mit einem verklausulierten großen Fragezeichen. Exemplarisch: "Ob die CDU eine starke Partei bleiben wird, die als integrative Kraft zur Stabilität der Bundesrepublik beiträgt und über ihre Richtung bestimmt, ist daher eine offene Frage." So oder so ähnlich lesen sich viele der durchweg anregenden Aufsätze.
Wie labil die Statik der CDU geworden ist, lässt sich am derzeitigen Wettbewerb um den Parteivorsitz ablesen. Zwar waren auch die Generationswechsel nach Adenauer und Kohl eine holprige Zeit für die Partei. Sie spielten sich allerdings immer als Neuformierung in einer für die CDU ungewohnten Oppositionsrolle ab. Anders gesagt: Unsicherheit an der Oberfläche ergab sich für die Partei immer dann, wenn sie nicht auf ihr Markenzeichen, den Kanzlerbonus, setzen konnte. Der war lange Zeit so ausgeprägt, dass ein Besuch des Kanzlers und Parteivorsitzenden in der Parteizentrale überflüssig zu sein schien. Frank Bösch beschreibt, dass es Jahre dauerte, bis sich ein Vorsitzender überhaupt dort blicken ließ. Die derzeitige Situation ist für die CDU deshalb doppelt ungewohnt: Die Parteivorsitzende ist nicht Kanzlerin, und die Partei geht in einen Wahlkampf ohne Kanzlerbonus, obwohl sie nicht in der Opposition ist. Wenigstens in einem Punkt kehrt sie zu ihren Ursprüngen zurück: Zwar hat die CDU eine Vorsitzende, aber man merkt es kaum.
Die Verunsicherung reicht aber tiefer. Da der Band ein Dreivierteljahrhundert nachzeichnet, beschäftigen sich nur wenige Beiträge mit der Ära Merkel. Das führt dazu, dass zur Krisenanalyse andere Zusammenhänge in den Blick rücken als der übliche Dreiklang der Merkel-Kritik aus Wehrpflicht, Atomausstieg und Willkommenskultur. Nebenbei: Die Integration der Vertriebenen, die Auseinandersetzung mit den Ostverträgen, selbst die Einheit der Nation waren Themen, die größere Sprengkraft für die Partei hatten, dennoch nicht die Narben hinterlassen haben wie die Reizthemen der Merkel-Zeit. Matthias Stickler, Andreas Wirsching und Wolfgang Jäger zeigen, dass und wie die Partei daraus sogar jeweils gestärkt hervorging.
Herfried Münkler sieht darin den großen Unterschied zur gegenwärtigen Herausforderung durch die AfD. Überspitzt gesagt: Die Rolle als Volkspartei eroberte und verteidigte die CDU laut Münkler durch die Assimilierung nicht der linken, sondern der rechten Mitte, indem sie nationale Interessen betonte (in den Debatten über Wiederbewaffnung, 68er-Bewegung und Nachrüstung). Das sei Merkel "gründlich misslungen". Die "Abbrüche am rechten Flügel" beschleunigten in den vergangenen Jahren vielmehr die Bewegung der Partei nach links, eine Tendenz, die es allerdings, so muss man fairerweise hinzufügen, nicht erst unter Angela Merkel gab.
Erfrischend in diesem Zusammenhang ist das Kapitel von Mariam Lau über die CDU und die Frauen: "Wenn es überhaupt so etwas wie einen konservativen Feminismus gibt, ist er in Rheinland-Pfalz geboren" und sei von einem "zornigen jungen Mann" vorangetrieben worden, der "im Rollkragenpulli zum Gottesdienst" ging. Richtig geraten: Helmut Kohl ist gemeint, der sich mit Heiner Geißler und anderen Rebellen umgab, um das zu tun, was heute keiner der drei Kandidaten für den Vorsitz zu tun wagte, nämlich eine Entrümpelung der Partei an Haupt und Gliedern im Sinne einer Modernisierung und starker Zugeständnisse an den Zeitgeist.
Das ging so weit, dass in Kohls Zeit die Spannbreite von "links" nach "rechts" in der Partei mehr als ein Jahrzehnt lang so groß war, dass sie wieder fast, wie in der Adenauer-Zeit, für eine absolute Mehrheit reichte. Die Gründe für die aktuelle Krise der CDU in der programmatischen "Überdehnung" oder auch "Sozialdemokratisierung" zu suchen, ist deshalb gewagt. Kohl verstand es, die Dehnung durch geschickte Personalpolitik wieder zusammenzuziehen - in der Merkel-Ära war es eher umgekehrt. Wie tief die Spuren der vergangenen 15 Jahre (und ihres Vorspiels in der Kohl-Ära) sind, zeigt Thomas Brechenmacher, der an eine Mitgliederbefragung von 2007 erinnert, in der die Milieus noch sorgfältig typologisiert wurden: in "gesellschaftspolitisch-liberal" (17 Prozent), "traditionsbewusst" (oder "konservativ", 26), "marktwirtschaftsorientiert" (32) und "christlich-sozial" (25). Brechenmacher schreibt: "Ob es ein Indiz für die Entwicklungsrichtung der Partei ist, dass die Mitgliederstudie von 2017 auf die Bestimmung dieser Typologien verzichtete, muss offen bleiben." Man könnte auch sagen: Es ist ein für die CDU beklagenswertes Versäumnis.
In einem wichtigen, für die CDU vielleicht dem wichtigsten Punkt, dem sich Frank-Lothar Kroll und Antonius Liedhegener widmen, verfolgte Merkel aber einen ähnlich konsequenten Kurs wie Helmut Kohl. Sie widersetzte sich allen Tendenzen zur Säkularisierung der Partei. Anfang der siebziger Jahre konnte Kurt Biedenkopf noch sagen: "Die christlichen Bekenntnisse sind keine wirksame Grundlage politischer Integration mehr." Kohl verhinderte, dass daraus programmatische und organisatorische Konsequenzen gezogen wurden (sieht man von der Koalition mit der antiklerikalen FDP ab). Aber es zeigt, wo die langfristige Krisenanfälligkeit der CDU zu suchen ist. Denn das "C" ist bei aller programmatischen Wandlungsfähigkeit der "Himmelsanker" der Partei geblieben, leidet aber darunter, dass er porös zu werden droht.
Rost hat auch ein anderer Anker angesetzt, die Europapolitik. Die CDU ist darin paradoxerweise ein Opfer ihrer größten Leistung, der Einheit Deutschlands und der von ihr betriebenen Erweiterung der EU. Michael Gehler zeigt, dass das Jahr 1989 das Ende der Vision der "Vereinigten europäischen Staaten" war, eine Vision, über die es im ersten Grundsatzprogramm der CDU noch hieß: "Unser Ziel ist die Herausbildung eines demokratischen europäischen Bundesstaates." Davon kann heute keine Rede mehr sein. Aber was will die Partei stattdessen? Wie schwierig es geworden ist, diesen Teil der Volkspartei als Lebenselixier zu begreifen, wird deutlich, wenn Gehler schreibt, dass sich Merkel und Macron "nicht als supranationale Gemeinschaftseuropäer der europäischen Institutionen, sondern als intergouvernementale Unionseuropäer der Staats - und Regierungschefs" begreifen. Da kommt keine Stimmung auf.
Vieles wiederholt sich, was in einem Sammelband über die Geschichte einer Partei und ihres Personals nicht zu vermeiden ist. Erstaunlich (oder symptomatisch?) ist, dass keines der Kapitel die Nähe der CDU zur FDP unter die Lupe nimmt. Sie war zeitweise fast so intensiv wie die zur CSU. Horst Möller weist darauf hin, dass darin einer der Gründe lag, warum sich die CSU notorisch zu kurz gekommen fühlte - Kreuth und die Flüchtlingskrise nicht als Ausreißer, sondern als extreme Normalfälle. Darin steckt wohl ein Trauma, das wahrscheinlich nur durch eine bayerische Kanzlerschaft geheilt werden könnte (und durch ein neues ersetzt würde?). Die FDP war als Koalitionspartner aber aus einem anderen Grund fast so wichtig für die CDU wie die CSU. Sie störte die programmatischen Kreise und Konsensbereitschaft der Partei nicht, die Marktwirtschaft und Liberalismus nach 1945 schnell aufgesogen hatte und sich allenfalls durch ihren "elastischen Sicherheitskonservatismus" (Karl-Rudolf Koste) an den linksliberalen Kanten des Konkurrenten rieb (und reibt).
Das ist in Zeiten, in denen die CDU auf SPD und Grüne angewiesen ist, ja sogar vor die Frage gestellt wird, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten, fundamental anders. Die Dehnung ist auf diese Weise nicht mehr gewollt, sondern von außen erzwungen. Die gleichzeitige, seltsame Abwendung von der FDP spiegelt sich in diesem Buch im Kapitel von Ralf Fücks über (grüne) Koalitionsoptionen der CDU, dem einzigen, in dem strategische Fragen auf die CDU einhageln und auch der Tadel, dass die Partei auf wichtige Fragen keine überzeugenden Antworten gebe - zum Vorteil der Grünen, die so ungestört trotz ihrer Widersprüche im liberalen und konservativen Milieu hausieren gehen können.
Viele renommierte Autoren und Wissenschaftler sind in dieser publizistischen Liebeserklärung an eine 75-jährige Jubilarin versammelt - von Günter Bannas über Lars Feld, Klaus-Dietmar Henke (Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit - sehr aufschlussreich!), Ursula Münch, Heinrich Oberreuter bis Barbara Zehnpfennig. Oft verschwimmt dabei die deutsche Geschichte mit der engeren Parteigeschichte. Das ist nicht anders zu erwarten, wenn es um die dominierende politische Kraft der Nachkriegszeit geht. Ein geschickter und durchaus selbstironisch zu nennender Griff ins Archiv fördert per Illustrierung die eine oder andere Überraschung zutage: Jeder der 26 Beiträge ist mit einem Wahlplakat der CDU seit 1946 illustriert - großes Kino! Das alles macht den stolzen Wälzer nicht nur lesens- sondern auch sehenswert.
JASPER VON ALTENBOCKUM
Norbert Lammert (Hg.): Christlich Demokratische Union. Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU.
Siedler Verlag, München 2020. 838 S., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main