Jonathan Lethem hat einen großartigen Gesellschaftsroman geschrieben, ein surreales Panorama New Yorks. Chase Insteadman, ein ehemaliger Kinderstar, treibt haltlos durch seinen Alltag, bis er den schielenden Kulturkritiker Perkus Tooth kennenlernt. Zwischen Migräneanfällen und durchkifften Nächten versuchen sie das Rätsel Manhattan zu lösen: ein geheimnisvoller Tiger treibt sein Unwesen, Downtown versinkt im Nebel und die Realität wird immer brüchiger - was ist noch wahr, was manipuliert?
Lethem erzählt in seinen eigenen, [...] so zauberhaften wie präzisen Worten, Bildern und Gestalten von nichts anderem als von der Wirklichkeit unsere Tage Katrin Schuster Stuttgarter Zeitung 20110408
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2011Literatur I Ein seltsamer Fall, dieser Jonathan Lethem, der einen phantastischen Roman schrieb ("Motherless Brooklyn") und zwei Drittel von einem weiteren ("Die Festung der Einsamkeit"), was andere im ganzen Leben nicht schaffen, und der seitdem automatisch zu jenen Schriftstellern gezählt wird, an deren neuen Büchern gemessen wird, wie es nun gerade mal wieder steht um das amerikanische Gegenwartserzählen. Ein Wettbewerb, in dem Autoren dann gegeneinander ausgespielt werden, Realitätskonzepte, Verfremdungstheorien, und bei dem Lethem, weil er viel von Popkultur und schwarzer Musik versteht, als Topcheckerintellektueller gehandelt wird, die coole Version von Michael Chabon, während sein Vornamensvetter Franzen als Kleinbürgerstreber herhalten muss, mit einem Bein bei Oprah Winfrey, mit dem anderen im 19. Jahrhundert. Wie das nervt! Dass Lethem einen nicht weniger ausgeprägten Hang zur Prätention hat, zum Schnörkel, der nicht besser wird, nur weil er aus Punkrock gedrechselt ist, merkt man jetzt wieder in seinem neuen Roman "Chronic City" (Tropen, 495 Seiten, 24,95 Euro), in dem, zum Beispiel, alle Figuren sprechende Namen tragen, wie sie seit Thomas Manns Serenus Zeitblom keinen Roman mehr heimgesucht haben: als Hauptfigur der austauschbare Chase Insteadman, der schief in die Welt gewachsene Perkus Tooth, der Aufschneidekünstler Strabo Blandiani, die undurchsichtige Oona Laszlo und immer so weiter. Es geht um ein New York, in dem ein Tiger frei herumläuft, es ständig schneit, viel gekifft wird und alles, was gebaut ist, nur als Arsenal gespeicherter Popcodes in der Welt steht: eine Stadt als Chronik alternativer Lebensmodelle, die in ihrer Andersartigkeit die bestehende Ordnung und ihre Simulationen bedrohen. Über allem kreist Janice Trumbull, die Verlobte von Chase Insteadman, als Astronautin lost in space, todgeweiht. Irgendwann beginnt man, Jonathan Lethems Einfällen zu misstrauen - und seine Fabulierkunst für Manipulation zu halten, um eine Geschichte, die zweihundert Seiten zu lang ist, künstlich am Leben zu halten. Das ist zwar jeder Roman: künstliches Leben. Dieser hier aber gefällt sich zu sehr dabei.
tob
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2011Unendlicher Spaß
Stadt als Beute: Mit „Chronic City“ hat Jonathan Lethem den großen New-York-Roman der Nullerjahre geschrieben
„Ich meine, ich würde auch unter deinem Fenster singen, aber ich weiß nicht, welches es ist.“ – „Vielleicht habe ich gar kein Fenster.“ – „Vielleicht kann ich gar nicht besonders singen.“ – „Okay, na dann, das hört sich doch gut an.“ – „Perfekt.“ So ironisch abtastend und checkermäßig smart bahnt sich also eine Romanze unter intellektuellen New Yorker Hipstern an. Auf keinen Fall uncool rüberkommen, bloß nie um den schnelleren Spruch verlegen sein. Als einzige akzeptierte kommunikative Darreichungsform bildet die Ironie in den Kreisen, in denen Chase Insteadman verkehrt, eine Art Ektoskelett, einen emotionalen Panzer, den man sich zulegt, um in diesem Babylon nicht unterzugehen.
Doch hinter der allfälligen Ironie liegt eine latente Wut, die sich wie eine Smogglocke über Manhattan stülpt. Denn das New York, in dem „Chronic City“, der neue Roman von Jonathan Lethem, spielt, ist in den Jahren nach 9/11, nach dem Irak-Krieg und der Finanzkrise noch härter geworden. Die Zeiten des Aufbruchs, der Subkultur und der alternativen Szene sind längst vorbei, New York gehört nicht mehr den Künstlern und Hippies, sondern den „Geldmännern“ sowie der geheimen „Gesellschaft für Verdinglichung“, die alle Fäden in der Hand hält. Es wird regiert von dem milliardenschweren Bürgermeister Arnheim, einer Kreuzung von Rudolph Giuliani und Michael Bloomberg mit Arnold Schwarzenegger. Und es ist eine Stadt der noblen Townhouses, der Gentrifizierung und der gated communities, der Benefiz-Galas und Luxus-Diners, während sich täglich lebensmüde Geldmänner aus der Wall Street in die urbanen Fjords stürzen, die ein Landschaftskünstler in die Stadtbrachen reißt und als „atopisches“ Statement zur Gegenwart verstanden wissen will.
Die New York Times erscheint hier in einer „kriegsfreien“ Ausgabe, in der unter anderem die Liebesbotschaften nachzulesen sind, die Janice Trumbull, mit der Insteadman eine Fernstbeziehung führt, aus dem All funkt. Denn Janice hängt als Astronautin einer Raumstation lost in space in einer Umlaufbahn fest, ein Minenfeld der Chinesen verhindert die Rückkehr zu Erde. Und zu allem Überfluss spielt in Folge des Klimawandels auch noch die Natur verrückt: Fast das ganze Jahr über liegt Schnee in New York, manchmal hängt eine Schokoladenduftwolke über der Stadt, Kojoten streifen durch den Central Park, und im Hudson wurde unlängst ein Wal gesichtet. Ausgerechnet vor dem Apartment des städtischen Mitarbeiters für Mietrecht horstet ein Adler in einer Fensternische, und als der entnervte Ex-Hausbesetzer das Nest kurzerhand in die Straßenschlucht stößt, ruft er damit die Tierschützer auf den Plan und muss um sein politisches Amt fürchten. Und ein riesiger Tiger macht nachts die Stadt unsicher, reißt Gebäude nieder und bringt ganze Blocks zum Einsturz, indem er sich durch den Untergrund wühlt.
Doch vielleicht handelt es sich bei dem Tiger nur um ein lanciertes Gerücht, während in Wahrheit eine gigantische Tunnelbohrmaschine am Werk ist, um im Auftrag des Bürgermeisters die letzten mietpreisgebundenen Häuser zu schleifen und so die Armen aus der Stadt zu verbannen. Oder ist das alles, die urbanen Fjorde, die eingestürzten Straßenzüge in Wahrheit nur ein Programmierfehler in der Matrix? Könnte es sein, dass New York nichts anderes ist als eine Simulation? Und seine Einwohner – sind sie ihre eigenen Avatare, Figuren in dem Computerspiel Yet Another World, nach dem die ganze Stadt süchtig ist?
So weit das ziemlich durchgedrehte Setting von „Chronic City“, das den permanent zugedröhnten und von paranoiden Phantasien heimgesuchten Hirnen seiner Protagonisten entsprungen zu sein scheint. Dabei zählt die Persiflage der virtuellen Parallelwelt von Second Life allerdings zu den Schwachpunkten des Romans, schließlich sind die dankbaren Spekulationen um Schein und Sein doch etwas passé und allenfalls damit zu entschuldigen, dass 2009, als das Buch in den USA herauskam, das Simulationsgeraune unter zeitkritischen Intellektuellen noch nicht ganz so ausgelutscht war.
Was als Motiv eher verblasst wirkt, leistet Lethem – der seinen Gesellschaftsroman abermals mit Genre-Zitaten von Science-Fiction über Film Noir bis zum Marvel Comic verschneidet und sein ausgekochtes Spiel mit intertextuellen Rückkopplungen, hier vor allem mit Saul Bellows „Humboldts Vermächtnis“ treibt – dennoch großartige Dienste als Mittel der Verfremdung. Schließlich trägt die surreale Verschiebung der dauerbekifften Verschwörungstheoretiker im Roman dem Umstand Rechnung, dass deren Welt ein einziger Echoraum popkultureller Referenzen ist – und das ist eben auch ein Stück Realität, das einzufangen dem Autor durch einen Kunstgriff gelingt, wie ihn kein planer Abbildungsrealismus kennt. Lethems Roman ist so heillose übercodiert und seine Prosa so hochdelirant wie die Wirklichkeit seiner Figuren, die alles um sich herum nur noch gebrochen und gespiegelt wahrnehmen können wie mit einem riesigen Facettenauge.
Das beginnt schon bei den sprechenden Namen des Romanpersonals um Chase Insteadman, dem geborenen Lückenbüßer und Stellvertreter, der von sich sagt: „Ich bin wahrlich ein Vakuum, angefüllt mit den Leuten, mit denen ich gerade zusammen bin“. Sein chamäleonartiges Wesen begabt ihn jedoch mit der Fähigkeit zur Empathie, die Insteadman, der gewesene Kinderstar einer Vorabend-Soap und heutige Tantiemenritter, lange schweifend der New Yorker Society zuteil werden lässt, bis er dem zerbeulten Charisma des verkrachten und verlachten Pop-Kritikers Perkus Tooth verfällt, der seinen Biss noch nicht verloren hat.
Tooth, für den der Kritiker Paul Nelson Modell gestanden hat, hatte es einst mit interventionistischen Plakatieraktionen im Stadtraum zur Szenegröße gebracht, bevor er sich vom Mainstream vereinnahmen ließ. Doch anders als der Dritte im Bunde, der yuppiefizierte Richard Abneg, der im Rathaus dafür sorgt, das dieselben Wohnungen, die er den Obdachlosen vorenthält, in luxuriöse Hundeapartments umgewidmet werden, geht Perkus den Weg der Verweigerung. Von „Cluster-Kopfschmerzen“ gebeutelt, verschanzt er sich in seiner versifften Küche und dekonstruiert in endlosen, von der Marihuana-Sorte „Chronic“ beflügelten Monolog-Sessions Gott und die Welt. Gemeinsam lassen sich die Freunde auf den zahllosen Partys und Empfängen durchfüttern und pflegen ihren Ennui. Sie bieten bei Ebay auf sagenumwobene Keramiken, sogenannte Kaldrone, die sie für den heiligen Gral halten, und meinen schließlich, einem Komplott auf die Spur zu kommen. Demzufolge sind diese Kaldrone nur ein am Computer generierter Fetisch, das einzige Unikat in einer reproduzierbaren Welt, die Suggestion von Unverfügbarkeit in einer Stadt, in der alles käuflich ist. Und sie glauben, dass auch sie selbst Spielfiguren sind in einem Drehbuch, das die Geliebte von Chase, die Ghostwriterin Oona Laszlo geschrieben hat.
„Die drei Musketiere“ nennt Lethem seine Glücksritter einmal, dieses Dreigestirn havarierter Chaoten, die das bessere New York verkörpern und deren Revolte zutiefst romantische Züge trägt. Und das ist zugleich das Besondere an Lethems Buch, das sich so überdreht und spinös gibt. Was als hypertropher Referenzpop vergnüglich ins Ohr flutscht, ist im Grunde ein nachgerade altmodischer Bildungsroman, befeuert von Hippie-Nostalgie und idealistischer Sinnsuche, bei der ausgerechnet der amöbenhafte Insteadman zu einer Erlöserfigur geläutert wird. Sein heißes Herz verbirgt Jonathan Lethem unter dem Schuppenkleid eines Gesellschaftschronisten von elegantem Zynismus, der die Helden seiner Donquichotterie durch immer aberwitzigere Kapriolen taumeln lässt.
„Störrischer Staub“ heißt eines der Bücher, die Perkus Tooth bei seinem Dealer versetzt und das Chase Insteadman zurückkauft, um es würdig in einem der städtischen Kunst-Krater zu bestatten. Der Titel ist eine ironische Verneigung vor David Foster Wallaces Monumental-Roman „Unendlicher Spaß“, dem ratifizierten Lieblingsbuch der amerikanische Literaturgemeinde. Man könnte hier einen symbolischen Brudermord an einem Nebenbuhler aus der eigenen Generation argwöhnen. Im echten Leben aber hat der 47-jährige Lethem den verwaisten Thron Wallaces, der sich 2008 das Leben nahm, bereits bestiegen. Als dessen Nachfolger lehrt er seit vergangenem Herbst Creative Writing am kleinen, exklusiven Pomona College im kalifornischen Claremont. Für den Trip, auf den Lethem den Leser schickt, braucht man übrigens keine Drogen, das Buch ist selber eine. Dieser witzige, scharfe, schillernde Roman ist – auch dank der leichtfüßigen deutschen Übersetzung – alles andere als der störrische Staub eines prätentiösen Avantgardismus, sondern: ein unendlicher Spaß. CHRISTOPHER SCHMIDT
JONATHAN LETHEM: Chronic City. Roman. Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner. Tropen-Verlag, Stuttgart 2011. 495 Seiten, 24,95 Euro.
Eine Schokoladenwolke hängt
über der Stadt, und der Hass
hat sich smogartig verdichtet
Sein heißes Herz verbirgt
der Autor unter dem Tarnkleid
bitterböser Kulturkritik
„In Manhatten zu leben bedeutet, ständig darüber zu staunen, wie viele Welten hier ineinander verschachtelt sind, mit welch chaotischer Komplexität sie sich verschränken, ähnlich den Fernsehkabeln und den Wasser-, Heizungs- und Abflussrohren.“ Foto: Nina Buesing / plainpicture
Jonathan Lethem
Foto: Todd Heisler / Redux / laif
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Stadt als Beute: Mit „Chronic City“ hat Jonathan Lethem den großen New-York-Roman der Nullerjahre geschrieben
„Ich meine, ich würde auch unter deinem Fenster singen, aber ich weiß nicht, welches es ist.“ – „Vielleicht habe ich gar kein Fenster.“ – „Vielleicht kann ich gar nicht besonders singen.“ – „Okay, na dann, das hört sich doch gut an.“ – „Perfekt.“ So ironisch abtastend und checkermäßig smart bahnt sich also eine Romanze unter intellektuellen New Yorker Hipstern an. Auf keinen Fall uncool rüberkommen, bloß nie um den schnelleren Spruch verlegen sein. Als einzige akzeptierte kommunikative Darreichungsform bildet die Ironie in den Kreisen, in denen Chase Insteadman verkehrt, eine Art Ektoskelett, einen emotionalen Panzer, den man sich zulegt, um in diesem Babylon nicht unterzugehen.
Doch hinter der allfälligen Ironie liegt eine latente Wut, die sich wie eine Smogglocke über Manhattan stülpt. Denn das New York, in dem „Chronic City“, der neue Roman von Jonathan Lethem, spielt, ist in den Jahren nach 9/11, nach dem Irak-Krieg und der Finanzkrise noch härter geworden. Die Zeiten des Aufbruchs, der Subkultur und der alternativen Szene sind längst vorbei, New York gehört nicht mehr den Künstlern und Hippies, sondern den „Geldmännern“ sowie der geheimen „Gesellschaft für Verdinglichung“, die alle Fäden in der Hand hält. Es wird regiert von dem milliardenschweren Bürgermeister Arnheim, einer Kreuzung von Rudolph Giuliani und Michael Bloomberg mit Arnold Schwarzenegger. Und es ist eine Stadt der noblen Townhouses, der Gentrifizierung und der gated communities, der Benefiz-Galas und Luxus-Diners, während sich täglich lebensmüde Geldmänner aus der Wall Street in die urbanen Fjords stürzen, die ein Landschaftskünstler in die Stadtbrachen reißt und als „atopisches“ Statement zur Gegenwart verstanden wissen will.
Die New York Times erscheint hier in einer „kriegsfreien“ Ausgabe, in der unter anderem die Liebesbotschaften nachzulesen sind, die Janice Trumbull, mit der Insteadman eine Fernstbeziehung führt, aus dem All funkt. Denn Janice hängt als Astronautin einer Raumstation lost in space in einer Umlaufbahn fest, ein Minenfeld der Chinesen verhindert die Rückkehr zu Erde. Und zu allem Überfluss spielt in Folge des Klimawandels auch noch die Natur verrückt: Fast das ganze Jahr über liegt Schnee in New York, manchmal hängt eine Schokoladenduftwolke über der Stadt, Kojoten streifen durch den Central Park, und im Hudson wurde unlängst ein Wal gesichtet. Ausgerechnet vor dem Apartment des städtischen Mitarbeiters für Mietrecht horstet ein Adler in einer Fensternische, und als der entnervte Ex-Hausbesetzer das Nest kurzerhand in die Straßenschlucht stößt, ruft er damit die Tierschützer auf den Plan und muss um sein politisches Amt fürchten. Und ein riesiger Tiger macht nachts die Stadt unsicher, reißt Gebäude nieder und bringt ganze Blocks zum Einsturz, indem er sich durch den Untergrund wühlt.
Doch vielleicht handelt es sich bei dem Tiger nur um ein lanciertes Gerücht, während in Wahrheit eine gigantische Tunnelbohrmaschine am Werk ist, um im Auftrag des Bürgermeisters die letzten mietpreisgebundenen Häuser zu schleifen und so die Armen aus der Stadt zu verbannen. Oder ist das alles, die urbanen Fjorde, die eingestürzten Straßenzüge in Wahrheit nur ein Programmierfehler in der Matrix? Könnte es sein, dass New York nichts anderes ist als eine Simulation? Und seine Einwohner – sind sie ihre eigenen Avatare, Figuren in dem Computerspiel Yet Another World, nach dem die ganze Stadt süchtig ist?
So weit das ziemlich durchgedrehte Setting von „Chronic City“, das den permanent zugedröhnten und von paranoiden Phantasien heimgesuchten Hirnen seiner Protagonisten entsprungen zu sein scheint. Dabei zählt die Persiflage der virtuellen Parallelwelt von Second Life allerdings zu den Schwachpunkten des Romans, schließlich sind die dankbaren Spekulationen um Schein und Sein doch etwas passé und allenfalls damit zu entschuldigen, dass 2009, als das Buch in den USA herauskam, das Simulationsgeraune unter zeitkritischen Intellektuellen noch nicht ganz so ausgelutscht war.
Was als Motiv eher verblasst wirkt, leistet Lethem – der seinen Gesellschaftsroman abermals mit Genre-Zitaten von Science-Fiction über Film Noir bis zum Marvel Comic verschneidet und sein ausgekochtes Spiel mit intertextuellen Rückkopplungen, hier vor allem mit Saul Bellows „Humboldts Vermächtnis“ treibt – dennoch großartige Dienste als Mittel der Verfremdung. Schließlich trägt die surreale Verschiebung der dauerbekifften Verschwörungstheoretiker im Roman dem Umstand Rechnung, dass deren Welt ein einziger Echoraum popkultureller Referenzen ist – und das ist eben auch ein Stück Realität, das einzufangen dem Autor durch einen Kunstgriff gelingt, wie ihn kein planer Abbildungsrealismus kennt. Lethems Roman ist so heillose übercodiert und seine Prosa so hochdelirant wie die Wirklichkeit seiner Figuren, die alles um sich herum nur noch gebrochen und gespiegelt wahrnehmen können wie mit einem riesigen Facettenauge.
Das beginnt schon bei den sprechenden Namen des Romanpersonals um Chase Insteadman, dem geborenen Lückenbüßer und Stellvertreter, der von sich sagt: „Ich bin wahrlich ein Vakuum, angefüllt mit den Leuten, mit denen ich gerade zusammen bin“. Sein chamäleonartiges Wesen begabt ihn jedoch mit der Fähigkeit zur Empathie, die Insteadman, der gewesene Kinderstar einer Vorabend-Soap und heutige Tantiemenritter, lange schweifend der New Yorker Society zuteil werden lässt, bis er dem zerbeulten Charisma des verkrachten und verlachten Pop-Kritikers Perkus Tooth verfällt, der seinen Biss noch nicht verloren hat.
Tooth, für den der Kritiker Paul Nelson Modell gestanden hat, hatte es einst mit interventionistischen Plakatieraktionen im Stadtraum zur Szenegröße gebracht, bevor er sich vom Mainstream vereinnahmen ließ. Doch anders als der Dritte im Bunde, der yuppiefizierte Richard Abneg, der im Rathaus dafür sorgt, das dieselben Wohnungen, die er den Obdachlosen vorenthält, in luxuriöse Hundeapartments umgewidmet werden, geht Perkus den Weg der Verweigerung. Von „Cluster-Kopfschmerzen“ gebeutelt, verschanzt er sich in seiner versifften Küche und dekonstruiert in endlosen, von der Marihuana-Sorte „Chronic“ beflügelten Monolog-Sessions Gott und die Welt. Gemeinsam lassen sich die Freunde auf den zahllosen Partys und Empfängen durchfüttern und pflegen ihren Ennui. Sie bieten bei Ebay auf sagenumwobene Keramiken, sogenannte Kaldrone, die sie für den heiligen Gral halten, und meinen schließlich, einem Komplott auf die Spur zu kommen. Demzufolge sind diese Kaldrone nur ein am Computer generierter Fetisch, das einzige Unikat in einer reproduzierbaren Welt, die Suggestion von Unverfügbarkeit in einer Stadt, in der alles käuflich ist. Und sie glauben, dass auch sie selbst Spielfiguren sind in einem Drehbuch, das die Geliebte von Chase, die Ghostwriterin Oona Laszlo geschrieben hat.
„Die drei Musketiere“ nennt Lethem seine Glücksritter einmal, dieses Dreigestirn havarierter Chaoten, die das bessere New York verkörpern und deren Revolte zutiefst romantische Züge trägt. Und das ist zugleich das Besondere an Lethems Buch, das sich so überdreht und spinös gibt. Was als hypertropher Referenzpop vergnüglich ins Ohr flutscht, ist im Grunde ein nachgerade altmodischer Bildungsroman, befeuert von Hippie-Nostalgie und idealistischer Sinnsuche, bei der ausgerechnet der amöbenhafte Insteadman zu einer Erlöserfigur geläutert wird. Sein heißes Herz verbirgt Jonathan Lethem unter dem Schuppenkleid eines Gesellschaftschronisten von elegantem Zynismus, der die Helden seiner Donquichotterie durch immer aberwitzigere Kapriolen taumeln lässt.
„Störrischer Staub“ heißt eines der Bücher, die Perkus Tooth bei seinem Dealer versetzt und das Chase Insteadman zurückkauft, um es würdig in einem der städtischen Kunst-Krater zu bestatten. Der Titel ist eine ironische Verneigung vor David Foster Wallaces Monumental-Roman „Unendlicher Spaß“, dem ratifizierten Lieblingsbuch der amerikanische Literaturgemeinde. Man könnte hier einen symbolischen Brudermord an einem Nebenbuhler aus der eigenen Generation argwöhnen. Im echten Leben aber hat der 47-jährige Lethem den verwaisten Thron Wallaces, der sich 2008 das Leben nahm, bereits bestiegen. Als dessen Nachfolger lehrt er seit vergangenem Herbst Creative Writing am kleinen, exklusiven Pomona College im kalifornischen Claremont. Für den Trip, auf den Lethem den Leser schickt, braucht man übrigens keine Drogen, das Buch ist selber eine. Dieser witzige, scharfe, schillernde Roman ist – auch dank der leichtfüßigen deutschen Übersetzung – alles andere als der störrische Staub eines prätentiösen Avantgardismus, sondern: ein unendlicher Spaß. CHRISTOPHER SCHMIDT
JONATHAN LETHEM: Chronic City. Roman. Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner. Tropen-Verlag, Stuttgart 2011. 495 Seiten, 24,95 Euro.
Eine Schokoladenwolke hängt
über der Stadt, und der Hass
hat sich smogartig verdichtet
Sein heißes Herz verbirgt
der Autor unter dem Tarnkleid
bitterböser Kulturkritik
„In Manhatten zu leben bedeutet, ständig darüber zu staunen, wie viele Welten hier ineinander verschachtelt sind, mit welch chaotischer Komplexität sie sich verschränken, ähnlich den Fernsehkabeln und den Wasser-, Heizungs- und Abflussrohren.“ Foto: Nina Buesing / plainpicture
Jonathan Lethem
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jonathan Lethem ist nach einem missglückten Los-Angeles-Ausflug in seinem vorangegangenen Roman zurück auf vertrautem Terrain in New York und damit auch wieder, freut sich der Rezensent Alexander Müller, in Bestform. Randvoll ist das Werk mit vielen sehr absonderlichen Motiven, Figuren und Episoden. Wie der Autor sie jedoch zu einem Porträt eines so eigentlich nicht und dann eben doch existierenden New York zu verweben verstehe, das sei einfach meisterhaft, wenn auch in seiner der Postmoderne verhafteten Ästhetik nicht rasend originell, und in jeder Wendung als Gegenwartsdiagnose plausibel. Im Zentrum stehen ein gealterter Kinderstar, eine im Weltall gefangene Astronautin und ein aussortierter schielender Rockjournalist. Daneben gibt es einen Tiger, der vielleicht eine Tunnelbohrmaschine ist und vieles, vieles mehr. "Mitreißend", "vielschichtig" und "ungemein spannend" sind nur ein paar der lobenden Worte, die Müller für das Werk findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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