Jahrelang erwartet: Bob Dylans Autobiographie - Teil 1
Am 11. April 1961 stand er zum ersten Mal auf einer großen Bühne: Der neunzehnjährige Bob Dylan spielte als Begleitmusiker der Blues-Legende John Lee Hooker im New Yorker „Gerde’s Folk City“. Plötzlich war er da, im Big Apple, das Milchgesicht aus Minnesota. Und schon ein halbes Jahr später unterschrieb er seinen ersten Plattenvertrag. Das Album „Bob Dylan“ erschien 1962, und mit ihm begann die Zeit der internationalen musikalischen Proteste – „blowing in the wind“. Angeführt von Bob Dylan in New Yorks Greenwich Village.
Dann kam ein Moment, der vielen als Verrat erschien. Auf dem Newport Folk Festival 1965 schloss Dylan seine Gitarre an einen Verstärker an und gab damit das Signal zum Übergang vom Folksong zum Rock, dem ein ganzes Heer von Musikern folgte. Die Zeit der Drogen, Flower Power und Hippies begann. Er heiratete, hatte einen Motorradunfall, der ihn fast das Leben kostete, ihm aber auch eine Zeit der Besinnung verschaffte. Und einen musikalischen Neubeginn: den Klassiker „John Wesley Harding“.
Das ist der Hintergrund eines Lebens in den sechziger Jahren, wie man es sich bewegter kaum vorstellen kann. Dylan, Protagonist der internationalen Rockszene und Identifikationsfigur ganzer Generationen, hat nie viel über sich erzählt. Jetzt tut er es.
Am 11. April 1961 stand er zum ersten Mal auf einer großen Bühne: Der neunzehnjährige Bob Dylan spielte als Begleitmusiker der Blues-Legende John Lee Hooker im New Yorker „Gerde’s Folk City“. Plötzlich war er da, im Big Apple, das Milchgesicht aus Minnesota. Und schon ein halbes Jahr später unterschrieb er seinen ersten Plattenvertrag. Das Album „Bob Dylan“ erschien 1962, und mit ihm begann die Zeit der internationalen musikalischen Proteste – „blowing in the wind“. Angeführt von Bob Dylan in New Yorks Greenwich Village.
Dann kam ein Moment, der vielen als Verrat erschien. Auf dem Newport Folk Festival 1965 schloss Dylan seine Gitarre an einen Verstärker an und gab damit das Signal zum Übergang vom Folksong zum Rock, dem ein ganzes Heer von Musikern folgte. Die Zeit der Drogen, Flower Power und Hippies begann. Er heiratete, hatte einen Motorradunfall, der ihn fast das Leben kostete, ihm aber auch eine Zeit der Besinnung verschaffte. Und einen musikalischen Neubeginn: den Klassiker „John Wesley Harding“.
Das ist der Hintergrund eines Lebens in den sechziger Jahren, wie man es sich bewegter kaum vorstellen kann. Dylan, Protagonist der internationalen Rockszene und Identifikationsfigur ganzer Generationen, hat nie viel über sich erzählt. Jetzt tut er es.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen
Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.
Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.
Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."
Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.
Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.
Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.
Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.
Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.
Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.
Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.
Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.
Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.
Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."
Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.
Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.
Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.
Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.
Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.
Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.
Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.
Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2004Geständnisse einer Maske
Bob Dylan schenkt uns sein Leben. Der Schurke hat eine riesige Autobiografie in die Maschine gehauen, alles, alles reingetippt. Und nur in Großbuchstaben. Der Buchherbst hat seine Sensation.
von Willi Winkler
Gesund soll er ausschauen, viel besser als all die Jahre. Er lacht sogar, wenn es sein muss. Und Kaffee trinkt er, aus einem Styroporbecher. Und: er redet.
Bob Dylan redet? Weil er ein Buch geschrieben hat. Sein Buch. 63 Jahre alt ist er jetzt und durch viele Formen geschritten, war Jude, Christ, wieder Jude, wieder Christ und immer Fundamentalist, nämlich Bob Dylan, Autor und Sänger von „Just Like Tom Thumbs Blues” und „Tangled Up in Blue”, hat Fans und Verächter zu gleichen Teilen verstört über die Jahrzehnte und bekommt, nein, es ist keineswegs ausgeschlossen, in der übernächsten Woche womöglich endlich den Nobelpreis für Literatur. Darauf wird er gut verzichten können, obwohl man sich gern vorstellt, wie die Bunte dann deutsche, also leer ausgegangene Autoren nach der Entscheidung fragt und den Martin Walser an seine Bemerkung erinnert, was man denn an diesem „herumzigeunernden Israeliten” (M.W. 1978 über B.D.) eigentlich so toll finde.
Seine Musik, könnte man sagen.
Seine Lieder.
Also ihn.
Dieser Bob Dylan hat auf eigner Schreibmaschine mit lauter Großbuchstaben ein Buch getippt (oder doch auf ein allzeit bereites Tonband gesprochen), das endlich die Wahrheit über sein Leben bringen soll. Genug Lügen sind über ihn verbreitet, jetzt sollen, so hat er es wieder und wieder angekündigt, die Fakten folgen. Drei Bände „Chronicles” sind vorgesehen, und der erste Band erscheint jetzt. Niemand hat ihn bisher zu lesen bekommen, aber bei amazon.com steht er bereits auf Platz 7. Nur unter konspirativsten Bedingungen - „auf seiner Farm in Minnesota”, „irgendwo in einem Motel im Mittleren Westen” - ließ sich der Autor für ein paar Journalisten sprechen und offenbar nur in Gesellschaft eines stark eingerosteten Autos, neben dem er sich fürs Cover von Newsweek fotografieren ließ. Dort erschien eine Kostprobe aus dem Buch, die aber ebenso wie das von dem Schauspieler und Regisseur Sean Penn gesprochene Hörbuch nicht allzu viel über den Autor verrät.
Wenn er all die Jahre so kostbar tat mit seinem Leben, warum sollte er jetzt plötzlich plaudern, alles austratschen, was unsereins schon immer wissen wollte? Ja, warum? Nun, zum Beispiel, weil wirs wissen wollen. Aber, das weiß er schon selber: „Mir gehört das, worauf es ankommt.” Drum verfügt er allein drüber. Und in sehr freier Weise.
Im „Buch der Chronik” (auf Englisch: „Chronicles”) des Alten Testaments, bei Martin Luther noch „Chronica” geheißen, wird sehr aufwändig die Abstammungslinie des Volkes Israel erzählt, und so weiß man, dass dem Ur-Vater Adam Seth nachfolgte (denn Kain hatte doch Abel erschlagen und kam damit nicht mehr für die Nachfolge in Frage), dann Enosch, Kenan, Mahalaleel, Jared, Henoch, Metuschalach, Lamech und schließlich Noah, der wiederum Sem, Ham und Japheth zeugte, die mit dem Zeugen dann gar nicht mehr aufhören konnten, was die Nachfahren erst recht ermutigte, bis die Chronik der Zeugungen und der Söhne (Töchter spielen einfach nicht die Rolle im Buch der Bücher) unweigerlich zum König David führt, den der Richter Samuel salbt, und den Höhepunkt des Königreichs Israel unter Salomo bringt, der den schönsten aller Tempel in Jerusalem bauen lässt.
Aber der Autor der neuen Chronik hat erkennbar keine Lust, wieder bei Adam und Eva und Hibbing und 1941 in den Eisenerzgruben von Minnesota anzufangen, den Weg nach New York und Newport zu beschreiben, die jugend- und drogenbewegte Entwicklung von „Judas!” und Sara-oh-Sara bis an die Klagemauer in Jerusalem und zum Budokan in Tokio nachzuerzählen.
Und die Herzbeutelinfektion.
Und der Papst.
Die zweite Ehe.
Noch ein Kind.
Der Oscar für „Wonderboys”.
Der leckere Werbe-Clip neulich, für „Victorias Secret”.
Oder warum er so ruhelos umherzieht, fast jeden zweiten Tag ein Konzert gibt.
Sondern von dem dahinsiechenden Woody Guthrie berichtet er, der seit Jahren an der unheilbaren Krankheit Chorea Huntington leidet und inzwischen im Greystone Hospital lebt. Kaum angekommen in New York, fährt der 20-jährige Bob Dylan hinüber nach New Jersey und erlebt eine gespenstische Irrenhausszene: im Flur schreien und heulen und (sind wir doch in der Bibel?) zähneklappern die Kranken, von Spinnen fühlt sich einer verfolgt, einer trägt einen Zylinder und hält sich für Uncle Sam, einer schmatzt, weil er wieder damit beschäftigt ist, zum Frühstück Kommunisten zu verspeisen. Bob Dylan, der noch Robert Zimmermann heißt, spielt dem verehrten Meister Guthrie dessen eigene Lieder vor und findet Anerkennung. Das würde man im klassischen Bildungsroman die Designierung nennen, der Ältere segnet den Jungen, dessen Talent er erkannt hat, und erwählt ihn zu seinem Nachfolger. Dylan pfeift aufs patentierte Schema und bringt uns eine vollkommen absurde Geschichte vor: Woody Guthrie sagt ihm also, bei sich zu Hause, unterm Bett, da finde er eine Schachtel mit Songs, und die seien für ihn, ein Geschenk, ein Vermächtnis! Der junge Mann steigt in Manhattan brav in die U-Bahn und fährt bis an die Endstation nach Coney Island, wo er die beschriebene Häuserzeile sieht, drauf zugeht und sich unversehens in einem Sumpf findet, den er dennoch zielstrebig durchwatet. Nass und steif gefroren bis hinauf zu den Knien, langt er bei Guthries Haus an, eine Babysitterin tut ihm auf, keine Ehefrau daheim, nur der Sohn Arlo, der den Penner hereinlässt, aber natürlich nichts weiß von einer Schachtel mit wertvollen, unveröffentlichten Songs seines kranken Vaters. Vierzig Jahre später seien die Songs Billy Bragg und Wilco in die Hände gefallen, und die haben sie dann aufgenommen. Vierzig Jahre später!
Aber Zeit und Raum sind aufgehoben bei diesem Schriftsteller, der Anfang ist das Ende und doch nur ein Versuch, den Leser irrezuführen. Rhapso- und ein wenig psalmodierend erzählt Bob Dylan diese und andere Geschichten aus seinem Leben. Er ist freundlich zu seinen Mitmenschen und will niemandem weh. Die Feinde von einst, die Freunde, die ihn eifersüchtig belauerten; Joan Baez, der er sich erst an den Hals warf, um sie dann doch sitzen zu lassen; der Manager Albert Grossman, der ihn auf mörderische Tourneen schickte; die Kollegen alle: Sie treten kaum mit ihren chronikalischen Namen auf, denn hier muss sich ein Einzelner, ein allerdings maßlos gefeierter Einzelner gegen die immer anbrandende Masse der anderen behaupten.
Vielleicht ist er schon auserwählt geboren, jedenfalls macht sich dieser Königssohn keine Mühe, eine Karriere aus der Finsternis ans Licht oder nur von unten nach oben nachzuerzählen.
Er war immer schon da, und dann wollte er immer sofort weg.
Weg aus dem Licht, fort mit dem Ruhm. In Ruhe sollen sie ihn lassen, und die Musik, seine, die ist doch nichts weiter als Musik. (So kann man sich täuschen.) Gelesen hat er auch in dieser ersten Zeit in New York wie ein Verrückter, Machiavellis „Fürsten” durchgearbeitet, den „Contrat social” von Rousseau und „Vom Kriege” des guten Herrn Clausewitz. Wer weiß, wozus gut ist, später. Aber wollte er nicht mal, noch in Minnesota, vor New York, wie der Autor von „Masters of War” jetzt einer kuhäugig staunenden Weltöffentlichkeit entbirgt, auf die Akademie nach West Point, Offizier werden, in den Krieg ziehen, General, Außenminister, Präsident werden sogar? „Hatt ich ganz vergessen, fiel mir aber beim Schreiben wieder ein.” Toll.
Es war doch alles ganz anders, sagt er.
Der legendäre Unfall 1966 - Ist Dylan tot? Querschnittsgelähmt? Debilisiert? - war nichts weiter als eine Gelegenheit, sich dem Geschiebe, Geziehe, Gezerre der bösen Welt zu entziehen. „Ich hatte einen Unfall mit dem Motorrad, war verletzt worden, aber ich erholte mich.” Vom Ruhm, der so schnell über ihn gekommen war, von „Bob Dylan”, den sie haben wollten. „Denn ich war gesalbt zum Chef der Rebellion, zum Hohepriester des Protests, zum Zar des Dissidententums, zum Großmeister des Ungehorsams, zum Führer der Freischärler, zum Kaiser der Abtrünnigen, zum Erzbischof der Anarchie, zum Großmonster. Alles nur Codenamen für den Außenseiter.”
Denn er wollte nicht mehr das „Sprachrohr meiner Generation” sein, auserkoren von - was für eine hinreißende Bezeichnung! - „schelmenhaften Radikalen”, kein Messias, kein nichts. Meint er das ernst? Er hatte doch nicht etwa einen Nervenzusammenbruch, fragt ihn der Sunday Telegraph fürsorglich. „Doch ja, wahrscheinlich. Trotzdem muss man irgendwie weiter machen, so gut es eben geht.” Nach den großen Platten, den großen Tourneen, den großen Frauen, nach Ruhm, Warhol und Kiffen mit den Beatles wollte er nur noch seine Familie. Also heiratete Bob Sara, zeugte mit ihr Jesse, zeugte Anna, zeugte Samuel, zeugte Jacob und träumte (s ist doch wohl nicht wahr!) „von einem Acht-Stunden-Tag, einem Haus mit Bäumen vor der Tür, einem weißen Gartenzaun und rosanen Rosen hinten draußen”. In Woodstock ganz oben im Staat New York fand er ein Haus für sich und die wachsende Familie. Aber keinen Frieden. Sie waren doch auf der Suche nach ihm, die Hippies, die Außenseiter, all die Leute, die den Outlaw brauchten, damit sie am Montag wieder halbwegs beruhigt zur Arbeit und in den Acht-Stunden-Tag fahren konnten.
Wie hätten sie ihn da ausgerechnet in Woodstock in Ruhe lassen können, in der Künstlerkolonie, wo das wilde Tier, der Rätselmann doch frei und für alle zu bestaunen herumlief? Drum belästigten sie ihn im Restaurant, lauerten vor seiner Tür, kamen bis aus Kalifornien angefahren, um aufs Dach seines Hauses zu kraxeln. „Wenn sie mich sahen, starrten sie mich an, als wär ich ein Schrumpfkopf oder eine riesenhafte Dschungelratte.” Was ihm für Bilder einfallen!
Schließlich bewaffnete er sich und legte sich ein Arsenal an Revolvern und Schrotflinten zu. Geschossen hat er dann doch nicht, sondern ist weggezogen nach New York, wo ihm dann ein anderer Fan auflauerte, der jeden Tag den Müll durchmusterte und eine „Befreit-Dylan-von-der-Nadel”-Kampagne begründete. Das hält keiner aus ohne einen wenigstens kleinen Nervenzusammenbruch.
Folgen einige sehr kryptische Bemerkungen über die Platten, die er in dieser Zeit aufnahm, an deren Titel er sich gar nicht mehr zu erinnern scheint, die er vielleicht sogar verachtet, aber das musste er doch tun, sagt er, damit er seine Fans abschüttelte und das „Sprachrohr einer Generation” nicht mehr machen musste, die er gar nicht kannte.
An Herman Melville denkt er, den die Mitwelt vergaß, nachdem er den „Moby-Dick” veröffentlicht hatte, und man weiß nicht, ob er das beklagt oder nicht vielleicht doch gut findet: Vergessen zu Lebzeiten, unerkannt, wenn er auf die Straße geht, losgelöst von seinem Werk und: befreit. So sind die „Chronicles” ein weiterer Versuch, sich zu befreien vom Ruhm und ihn endlich ins Unermessliche zu steigern. Gibt ja nicht so viele, von denen man jedes Wort auf den Knien seines Herzens entgegennähme.
Bald geht Bob Dylan wieder auf Tournee. Im Oktober, wenn sein Buch in den Läden liegt (und am 15. November in der Übersetzung von Gerhard Henschel auf deutsch bei Hoffmann & Campe), fährt er ihm nicht hinterher, hält keine Lesungen und auch keine Signierstunden (lächerlich!), sondern bereist wie immer die Welt. Singt „Desolation Row” oder „On A Night Like This” oder „Man In The Long Black Coat”, über die Frau in der Bar, die vom Tode zum Tanze aufgefordert wird, „and he had a face like a mask”.
Diesmal erreicht er die amerikanische Westküste, tritt in Santa Clara und Fresno auf, geht dann auf die College-Tour durch Berkeley, Davis, Irvine und Santa Barbara, berührt San Diego, um sich dann Boulder, Iowa City, Kenosha und De Kalb zuzuwenden. Biblisch.
Die Chronik, sie höret niemals auf.
„Schelmenhafte Radikale” nannten ihn Messias. Er wollte eine Familie, rosane Rosen, einen Gartenzaun.
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Bob Dylan schenkt uns sein Leben. Der Schurke hat eine riesige Autobiografie in die Maschine gehauen, alles, alles reingetippt. Und nur in Großbuchstaben. Der Buchherbst hat seine Sensation.
von Willi Winkler
Gesund soll er ausschauen, viel besser als all die Jahre. Er lacht sogar, wenn es sein muss. Und Kaffee trinkt er, aus einem Styroporbecher. Und: er redet.
Bob Dylan redet? Weil er ein Buch geschrieben hat. Sein Buch. 63 Jahre alt ist er jetzt und durch viele Formen geschritten, war Jude, Christ, wieder Jude, wieder Christ und immer Fundamentalist, nämlich Bob Dylan, Autor und Sänger von „Just Like Tom Thumbs Blues” und „Tangled Up in Blue”, hat Fans und Verächter zu gleichen Teilen verstört über die Jahrzehnte und bekommt, nein, es ist keineswegs ausgeschlossen, in der übernächsten Woche womöglich endlich den Nobelpreis für Literatur. Darauf wird er gut verzichten können, obwohl man sich gern vorstellt, wie die Bunte dann deutsche, also leer ausgegangene Autoren nach der Entscheidung fragt und den Martin Walser an seine Bemerkung erinnert, was man denn an diesem „herumzigeunernden Israeliten” (M.W. 1978 über B.D.) eigentlich so toll finde.
Seine Musik, könnte man sagen.
Seine Lieder.
Also ihn.
Dieser Bob Dylan hat auf eigner Schreibmaschine mit lauter Großbuchstaben ein Buch getippt (oder doch auf ein allzeit bereites Tonband gesprochen), das endlich die Wahrheit über sein Leben bringen soll. Genug Lügen sind über ihn verbreitet, jetzt sollen, so hat er es wieder und wieder angekündigt, die Fakten folgen. Drei Bände „Chronicles” sind vorgesehen, und der erste Band erscheint jetzt. Niemand hat ihn bisher zu lesen bekommen, aber bei amazon.com steht er bereits auf Platz 7. Nur unter konspirativsten Bedingungen - „auf seiner Farm in Minnesota”, „irgendwo in einem Motel im Mittleren Westen” - ließ sich der Autor für ein paar Journalisten sprechen und offenbar nur in Gesellschaft eines stark eingerosteten Autos, neben dem er sich fürs Cover von Newsweek fotografieren ließ. Dort erschien eine Kostprobe aus dem Buch, die aber ebenso wie das von dem Schauspieler und Regisseur Sean Penn gesprochene Hörbuch nicht allzu viel über den Autor verrät.
Wenn er all die Jahre so kostbar tat mit seinem Leben, warum sollte er jetzt plötzlich plaudern, alles austratschen, was unsereins schon immer wissen wollte? Ja, warum? Nun, zum Beispiel, weil wirs wissen wollen. Aber, das weiß er schon selber: „Mir gehört das, worauf es ankommt.” Drum verfügt er allein drüber. Und in sehr freier Weise.
Im „Buch der Chronik” (auf Englisch: „Chronicles”) des Alten Testaments, bei Martin Luther noch „Chronica” geheißen, wird sehr aufwändig die Abstammungslinie des Volkes Israel erzählt, und so weiß man, dass dem Ur-Vater Adam Seth nachfolgte (denn Kain hatte doch Abel erschlagen und kam damit nicht mehr für die Nachfolge in Frage), dann Enosch, Kenan, Mahalaleel, Jared, Henoch, Metuschalach, Lamech und schließlich Noah, der wiederum Sem, Ham und Japheth zeugte, die mit dem Zeugen dann gar nicht mehr aufhören konnten, was die Nachfahren erst recht ermutigte, bis die Chronik der Zeugungen und der Söhne (Töchter spielen einfach nicht die Rolle im Buch der Bücher) unweigerlich zum König David führt, den der Richter Samuel salbt, und den Höhepunkt des Königreichs Israel unter Salomo bringt, der den schönsten aller Tempel in Jerusalem bauen lässt.
Aber der Autor der neuen Chronik hat erkennbar keine Lust, wieder bei Adam und Eva und Hibbing und 1941 in den Eisenerzgruben von Minnesota anzufangen, den Weg nach New York und Newport zu beschreiben, die jugend- und drogenbewegte Entwicklung von „Judas!” und Sara-oh-Sara bis an die Klagemauer in Jerusalem und zum Budokan in Tokio nachzuerzählen.
Und die Herzbeutelinfektion.
Und der Papst.
Die zweite Ehe.
Noch ein Kind.
Der Oscar für „Wonderboys”.
Der leckere Werbe-Clip neulich, für „Victorias Secret”.
Oder warum er so ruhelos umherzieht, fast jeden zweiten Tag ein Konzert gibt.
Sondern von dem dahinsiechenden Woody Guthrie berichtet er, der seit Jahren an der unheilbaren Krankheit Chorea Huntington leidet und inzwischen im Greystone Hospital lebt. Kaum angekommen in New York, fährt der 20-jährige Bob Dylan hinüber nach New Jersey und erlebt eine gespenstische Irrenhausszene: im Flur schreien und heulen und (sind wir doch in der Bibel?) zähneklappern die Kranken, von Spinnen fühlt sich einer verfolgt, einer trägt einen Zylinder und hält sich für Uncle Sam, einer schmatzt, weil er wieder damit beschäftigt ist, zum Frühstück Kommunisten zu verspeisen. Bob Dylan, der noch Robert Zimmermann heißt, spielt dem verehrten Meister Guthrie dessen eigene Lieder vor und findet Anerkennung. Das würde man im klassischen Bildungsroman die Designierung nennen, der Ältere segnet den Jungen, dessen Talent er erkannt hat, und erwählt ihn zu seinem Nachfolger. Dylan pfeift aufs patentierte Schema und bringt uns eine vollkommen absurde Geschichte vor: Woody Guthrie sagt ihm also, bei sich zu Hause, unterm Bett, da finde er eine Schachtel mit Songs, und die seien für ihn, ein Geschenk, ein Vermächtnis! Der junge Mann steigt in Manhattan brav in die U-Bahn und fährt bis an die Endstation nach Coney Island, wo er die beschriebene Häuserzeile sieht, drauf zugeht und sich unversehens in einem Sumpf findet, den er dennoch zielstrebig durchwatet. Nass und steif gefroren bis hinauf zu den Knien, langt er bei Guthries Haus an, eine Babysitterin tut ihm auf, keine Ehefrau daheim, nur der Sohn Arlo, der den Penner hereinlässt, aber natürlich nichts weiß von einer Schachtel mit wertvollen, unveröffentlichten Songs seines kranken Vaters. Vierzig Jahre später seien die Songs Billy Bragg und Wilco in die Hände gefallen, und die haben sie dann aufgenommen. Vierzig Jahre später!
Aber Zeit und Raum sind aufgehoben bei diesem Schriftsteller, der Anfang ist das Ende und doch nur ein Versuch, den Leser irrezuführen. Rhapso- und ein wenig psalmodierend erzählt Bob Dylan diese und andere Geschichten aus seinem Leben. Er ist freundlich zu seinen Mitmenschen und will niemandem weh. Die Feinde von einst, die Freunde, die ihn eifersüchtig belauerten; Joan Baez, der er sich erst an den Hals warf, um sie dann doch sitzen zu lassen; der Manager Albert Grossman, der ihn auf mörderische Tourneen schickte; die Kollegen alle: Sie treten kaum mit ihren chronikalischen Namen auf, denn hier muss sich ein Einzelner, ein allerdings maßlos gefeierter Einzelner gegen die immer anbrandende Masse der anderen behaupten.
Vielleicht ist er schon auserwählt geboren, jedenfalls macht sich dieser Königssohn keine Mühe, eine Karriere aus der Finsternis ans Licht oder nur von unten nach oben nachzuerzählen.
Er war immer schon da, und dann wollte er immer sofort weg.
Weg aus dem Licht, fort mit dem Ruhm. In Ruhe sollen sie ihn lassen, und die Musik, seine, die ist doch nichts weiter als Musik. (So kann man sich täuschen.) Gelesen hat er auch in dieser ersten Zeit in New York wie ein Verrückter, Machiavellis „Fürsten” durchgearbeitet, den „Contrat social” von Rousseau und „Vom Kriege” des guten Herrn Clausewitz. Wer weiß, wozus gut ist, später. Aber wollte er nicht mal, noch in Minnesota, vor New York, wie der Autor von „Masters of War” jetzt einer kuhäugig staunenden Weltöffentlichkeit entbirgt, auf die Akademie nach West Point, Offizier werden, in den Krieg ziehen, General, Außenminister, Präsident werden sogar? „Hatt ich ganz vergessen, fiel mir aber beim Schreiben wieder ein.” Toll.
Es war doch alles ganz anders, sagt er.
Der legendäre Unfall 1966 - Ist Dylan tot? Querschnittsgelähmt? Debilisiert? - war nichts weiter als eine Gelegenheit, sich dem Geschiebe, Geziehe, Gezerre der bösen Welt zu entziehen. „Ich hatte einen Unfall mit dem Motorrad, war verletzt worden, aber ich erholte mich.” Vom Ruhm, der so schnell über ihn gekommen war, von „Bob Dylan”, den sie haben wollten. „Denn ich war gesalbt zum Chef der Rebellion, zum Hohepriester des Protests, zum Zar des Dissidententums, zum Großmeister des Ungehorsams, zum Führer der Freischärler, zum Kaiser der Abtrünnigen, zum Erzbischof der Anarchie, zum Großmonster. Alles nur Codenamen für den Außenseiter.”
Denn er wollte nicht mehr das „Sprachrohr meiner Generation” sein, auserkoren von - was für eine hinreißende Bezeichnung! - „schelmenhaften Radikalen”, kein Messias, kein nichts. Meint er das ernst? Er hatte doch nicht etwa einen Nervenzusammenbruch, fragt ihn der Sunday Telegraph fürsorglich. „Doch ja, wahrscheinlich. Trotzdem muss man irgendwie weiter machen, so gut es eben geht.” Nach den großen Platten, den großen Tourneen, den großen Frauen, nach Ruhm, Warhol und Kiffen mit den Beatles wollte er nur noch seine Familie. Also heiratete Bob Sara, zeugte mit ihr Jesse, zeugte Anna, zeugte Samuel, zeugte Jacob und träumte (s ist doch wohl nicht wahr!) „von einem Acht-Stunden-Tag, einem Haus mit Bäumen vor der Tür, einem weißen Gartenzaun und rosanen Rosen hinten draußen”. In Woodstock ganz oben im Staat New York fand er ein Haus für sich und die wachsende Familie. Aber keinen Frieden. Sie waren doch auf der Suche nach ihm, die Hippies, die Außenseiter, all die Leute, die den Outlaw brauchten, damit sie am Montag wieder halbwegs beruhigt zur Arbeit und in den Acht-Stunden-Tag fahren konnten.
Wie hätten sie ihn da ausgerechnet in Woodstock in Ruhe lassen können, in der Künstlerkolonie, wo das wilde Tier, der Rätselmann doch frei und für alle zu bestaunen herumlief? Drum belästigten sie ihn im Restaurant, lauerten vor seiner Tür, kamen bis aus Kalifornien angefahren, um aufs Dach seines Hauses zu kraxeln. „Wenn sie mich sahen, starrten sie mich an, als wär ich ein Schrumpfkopf oder eine riesenhafte Dschungelratte.” Was ihm für Bilder einfallen!
Schließlich bewaffnete er sich und legte sich ein Arsenal an Revolvern und Schrotflinten zu. Geschossen hat er dann doch nicht, sondern ist weggezogen nach New York, wo ihm dann ein anderer Fan auflauerte, der jeden Tag den Müll durchmusterte und eine „Befreit-Dylan-von-der-Nadel”-Kampagne begründete. Das hält keiner aus ohne einen wenigstens kleinen Nervenzusammenbruch.
Folgen einige sehr kryptische Bemerkungen über die Platten, die er in dieser Zeit aufnahm, an deren Titel er sich gar nicht mehr zu erinnern scheint, die er vielleicht sogar verachtet, aber das musste er doch tun, sagt er, damit er seine Fans abschüttelte und das „Sprachrohr einer Generation” nicht mehr machen musste, die er gar nicht kannte.
An Herman Melville denkt er, den die Mitwelt vergaß, nachdem er den „Moby-Dick” veröffentlicht hatte, und man weiß nicht, ob er das beklagt oder nicht vielleicht doch gut findet: Vergessen zu Lebzeiten, unerkannt, wenn er auf die Straße geht, losgelöst von seinem Werk und: befreit. So sind die „Chronicles” ein weiterer Versuch, sich zu befreien vom Ruhm und ihn endlich ins Unermessliche zu steigern. Gibt ja nicht so viele, von denen man jedes Wort auf den Knien seines Herzens entgegennähme.
Bald geht Bob Dylan wieder auf Tournee. Im Oktober, wenn sein Buch in den Läden liegt (und am 15. November in der Übersetzung von Gerhard Henschel auf deutsch bei Hoffmann & Campe), fährt er ihm nicht hinterher, hält keine Lesungen und auch keine Signierstunden (lächerlich!), sondern bereist wie immer die Welt. Singt „Desolation Row” oder „On A Night Like This” oder „Man In The Long Black Coat”, über die Frau in der Bar, die vom Tode zum Tanze aufgefordert wird, „and he had a face like a mask”.
Diesmal erreicht er die amerikanische Westküste, tritt in Santa Clara und Fresno auf, geht dann auf die College-Tour durch Berkeley, Davis, Irvine und Santa Barbara, berührt San Diego, um sich dann Boulder, Iowa City, Kenosha und De Kalb zuzuwenden. Biblisch.
Die Chronik, sie höret niemals auf.
„Schelmenhafte Radikale” nannten ihn Messias. Er wollte eine Familie, rosane Rosen, einen Gartenzaun.
Foto: Sony Music
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