Am 11. April 1961 stand er zum ersten Mal auf einer großen Bühne: Der neunzehnjährige Bob Dylan spielte als Begleitmusiker der Blues-Legende John Lee Hooker im New Yorker „Gerde’s Folk City“. Plötzlich war er da, im Big Apple, das Milchgesicht aus Minnesota. Und schon ein halbes Jahr später unterschrieb er seinen ersten Plattenvertrag. Das Album „Bob Dylan“ erschien 1962, und mit ihm begann die Zeit der internationalen musikalischen Proteste – „blowing in the wind“. Angeführt von Bob Dylan in New Yorks Greenwich Village.
Dann kam ein Moment, der vielen als Verrat erschien. Auf dem Newport Folk Festival 1965 schloss Dylan seine Gitarre an einen Verstärker an und gab damit das Signal zum Übergang vom Folksong zum Rock, dem ein ganzes Heer von Musikern folgte. Die Zeit der Drogen, Flower Power und Hippies begann. Er heiratete, hatte einen Motorradunfall, der ihn fast das Leben kostete, ihm aber auch eine Zeit der Besinnung verschaffte. Und einen musikalischen Neubeginn: den Klassiker „John Wesley Harding“. Das ist der Hintergrund eines Lebens in den sechziger Jahren, wie man es sich bewegter kaum vorstellen kann.
Dylan, Protagonist der internationalen Rockszene und Identifikationsfigur ganzer Generationen, hat nie viel über sich erzählt. Jetzt tut er es.
Dann kam ein Moment, der vielen als Verrat erschien. Auf dem Newport Folk Festival 1965 schloss Dylan seine Gitarre an einen Verstärker an und gab damit das Signal zum Übergang vom Folksong zum Rock, dem ein ganzes Heer von Musikern folgte. Die Zeit der Drogen, Flower Power und Hippies begann. Er heiratete, hatte einen Motorradunfall, der ihn fast das Leben kostete, ihm aber auch eine Zeit der Besinnung verschaffte. Und einen musikalischen Neubeginn: den Klassiker „John Wesley Harding“. Das ist der Hintergrund eines Lebens in den sechziger Jahren, wie man es sich bewegter kaum vorstellen kann.
Dylan, Protagonist der internationalen Rockszene und Identifikationsfigur ganzer Generationen, hat nie viel über sich erzählt. Jetzt tut er es.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen
Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.
Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.
Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."
Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.
Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.
Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.
Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.
Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.
Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.
Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.
Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.
Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.
Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."
Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.
Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.
Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.
Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.
Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.
Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.
Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.
Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Für Frank Schäfer klingt der ersten Band der Autobiografie von Bob Dylan, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, ein bisschen nach "Altvorderen-Prosa" in der der Mythos des alten Amerika noch einmal beschworen wird. Dazu passt seiner Meinung nach auch, dass der amerikanische Verlag es nicht versäumt hat zu betonen, Dylan habe seine Lebenserinnerungen auf einer "uralten Schreibmaschine" geschrieben. Der Rezensent betont, dass die Autobiografie keineswegs chronologisch geschlossen ist, sondern vielmehr in Sprüngen voranschreitet, die die jeweiligen "Wendepunkte" im Leben des Sängers und Songwriters einfangen. Dylan beschreibt, wie er 1961 zu seinem Plattenvertrag kommt, sich 1968 aus dem Musikbusiness zurückzuziehen versucht, weil ihm der Rummel um die eigene Person zu viel wird und er schildert den "Tiefpunkt seiner Karriere", 1987, wo er daran denkt mit der Musik aufzuhören, fasst der Rezensent zusammen. Schäfer fragt sich ein bisschen zweifelnd, ob die "kryptischen Passagen" über eine neue Gitarrenspieltechnik, die Dylan unter anderem aus der Krise hilft, eigentlich ernst zu nehmen sind, oder unter der Rubrik "Weihrauch" zu verbuchen sind. Insgesamt aber stellt der Rezensent beeindruckt fest, dass der Sänger seinem offenbar hohen literarischen Anspruch in diesem Buch durchaus gerecht wird. Schäfer preist die dichten Schilderungen der Milieus und Charaktere und findet, dies alles habe den "Anschein von Authentizität", was er als Ausweis jeder "guten Literatur" definiert. Ihn beeindrucken auch die "Verve" und der "nachgerade religiöse Enthusiasmus", mit dem Dylan insbesondere "musikalische Einflüsse" schildert und er gesteht, dass es ihm "Spaß" gemacht hat, Dylan hier "beim Schwärmen zu beobachten".
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»Bob Dylan schenkt uns sein Leben. Der Schurke hat eine riesige Autobiographie in die Maschine gehauen und alles, alles reingetippt.« Willi Winkler Süddeutsche Zeitung
Hierher kommt der Teufel, um zu seufzen
Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.
Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.
Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."
Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.
Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.
Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.
Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.
Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.
Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.
Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.
Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].
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Visionär der Sünde: Bob Dylans Bildungsroman und seine Songs / Von Heinrich Detering
Die Geschichte beginnt mit einer Autofahrt durch das winterliche New York 1961, zum Restaurant des Ex-Boxers Jack Dempsey, der dem Ich-Erzähler wenig Talent für eine Boxkarriere bescheinigt. Dieser namenlose Junge aus einem weltfernen "north country fair" vagabundiert durch die Metropole wie ein urbaner Huckleberry Finn, halb Unschuldslamm, halb Picaro, ohne festen Wohnsitz und mit stabilem Selbstvertrauen. Er spielt Mundharmonika in obskuren Clubs in Greenwich Village und singt die Songs der amerikanischen Traditionen, Folksongs, Country-Balladen, Bluesnummern, die irgendwie schon immer seine Atemluft waren. Er gewinnt lokalen Ruhm als wanderndes Song-Lexikon, als lebendes Archiv einer romantischen Popularkultur. Gelegentlich ertönen aus dieses Knaben Wunderhorn auch eigene Songs, frei improvisiert aus den Traditionsbeständen, Diebstahl aus Liebe, "love and theft". Und irgendwann findet sich der Hobo dann auch in kleinen Aufnahmestudios wieder.
Die uneitle Selbstdistanz, die die amerikanischen Rezensenten an Bob Dylans "Chronicles" überrascht hat, ergibt sich schon daraus, daß dieser Erzähler sich vom ersten Kapitel an durch eine Welt trudeln läßt, in der er ganz Auge und ganz Ohr ist. Dazu gehört auch die Chuzpe, mit der er stets haarscharf an den Ereignissen vorbeierzählt, auf deren Enthüllung seine Fans so dringend gewartet haben. Nichts also über die Revolution der Rockmusik, kaum ein Wort über die wichtigsten Alben, nichts von der Ehescheidung, nichts von Jesus. Gerade so aber entsteht hier ein plastisches Selbstporträt aus schrägen Perspektiven.
Unter der scheinbaren Spontaneität dieser autobiographischen Geschichten verbirgt sich ein Kunstbewußtsein, dessen Raffinesse der Leser nie ganz auf die Schliche kommt. Schon der Titel kann nur ironisch gelesen werden - Dylans zeitraffendes und zeitdehnendes Erzählen unternimmt einige Anstrengungen, alle Chronologie aufzuheben. Mit Techniken, wie er sie in seinen Songs seit den siebziger Jahren entwickelt hat, zielt er auch hier auf den stehenden Augenblick jenseits der verstreichenden Zeit. Und in welcher Zeit lebt dieser wandernde Held überhaupt? "Die Nachrichten, die mich interessierten und die ich im Auge behielt", berichtet er über das Jahr 1961, waren "der Untergang der ,Titanic', die Flut von Galveston, John Henry, der Schienenleger": Balladenstoffe aus einem versunkenen Amerika. Auch das Wiederauftauchen des Künstlers Dylan aus einer langen Stagnation, zwanzig Jahre später, spielt sich hier ab zwischen den Kolonialhäusern und nächtlichen Friedhöfen eines New Orleans, das außerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen scheint: "hierher kommt der Teufel, um zu seufzen."
Insgeheim erzählt Dylan einen selbstironischen Bildungsroman über den Weg in eine zeitlose, mit religiösen Vorstellungen verschwimmende Sphäre der Kunst. Sein Held ist ein Ich, das lange namenlos bleibt. Seinen Geburtsnamen hören wir zum ersten und letzten Mal in dieser Anekdote: "Was Bobby Zimmerman angeht, sage ich's, wie's ist, und das kann man jederzeit nachprüfen. Einer der ersten Präsidenten der San Bernardino Angels war Bobby Zimmerman, und er kam 1964 beim Bass Lake Run ums Leben. Sein Motorrad hatte den Schalldämpfer verloren - um ihn aufzuheben, hatte Zimmerman vor den übrigen Teilnehmern kehrtgemacht und war auf der Straße überfahren worden. Jetzt gibt es keinen Bobby Zimmerman mehr. Das war sein Ende." Mit diesem ersten Erscheinen verschwindet Bob Zimmerman schon wieder aus diesem Buch, an seiner Stelle bleibt eine vor unseren Augen erfundene Kunstfigur, die den Namen "Bob Dylan" trägt.
Die Initiation dieses Helden in die Welt der Kunst ereignet sich in der karnevalistischen Welt der New Yorker Clubs. Man muß das unbedingt ausführlich zitieren: "Plötzlich wurden die Türen aufgerissen, und herein trat Gorgeous George persönlich . . . Er schritt einher wie vierzig Mann. Es war Gorgeous George in all seiner atemberaubenden Pracht, mit aller Glorie und Vitalität, die man erwarten durfte. Er hatte Diener dabei, war umringt von Frauen mit Rosen in den Händen, trug ein majestätisches Cape mit Pelzbesatz, und seine langen blonden Locken tanzten um ihn her. Er stürmte auf meine improvisierte Bühne zu und horchte auf. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sah er mich an, und in seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er blinzelte, und es sah aus, als formten seine Lippen den Satz: ,Du machst die Musik lebendig.' Ob er das wirklich gesagt hat, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß ich dachte, ich hätte es gehört, und ich habe es nie vergessen . . . Gorgeous George. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen. Vielleicht stimmt das." Vielleicht ist es auch erfunden. Erwiese sich der komplette Text mitsamt seiner Erzählerfigur als freie Erfindung - er würde wenig von seiner Spannung und seinem Witz verlieren.
Gorgeous George ist eine der vielen Gestalten in Dylans bizarrem und vergnüglichem Panoptikum. Nicht nur den musikalischen Weggefährten begegnen wir hier und den kanonisierten Kunst-Heiligen, dem sterbend schon ins Übermenschliche entrückten Woody Guthrie etwa oder Johnny Cash, sondern auch einem falsettsprechenden Ukulelespieler namens "Tiny Tim" oder "Billy the Butcher", der unverdrossen immer nur einen einzigen Song spielt, oder Honoré de Balzac, dem Dylan ein hübsches Porträt widmet. Mondäne Dandys und kleine Gangster bevölkern diese Welt, Beatniks und Bürgerkriegshelden. Ganz am Ende kommen dann auch die Lieder eines Songwriters namens Bertolt Brecht hinzu, den Dylan zu seinen Geburtshelfern zählt, namentlich dank eines Songs, der hier "Pirate Jenny" heißt; und es ist schön anzusehen, wie diese Lieder hier aufgehen in den Outlaw-Balladen von Hank Williams und dem Blues von Robert Johnson.
Der junge Dylan in New York: das ist ein Mystiker der Folksongs, den es in die Schriftkultur verschlagen hat; ein imaginärer Gefährte der wandernden Sänger, der auf einmal Thukydides, Rimbaud und Eliot begegnet. So wie er die Songs eingeatmet hat, so liest er nun wahllos, was ihm in die Finger gerät. Bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sein unbekümmerter Eklektizismus eine Grundfigur. Da ist Clausewitz' "Vom Kriege", eines seiner Lieblingsbücher, da sind Tschechow und Melville, da trifft sich Tarzan mit Carl Sandburg, Machiavelli mit Kerouac. Im Schnittpunkt der heterogenen Lektüren zeichnet sich ab, was der Literaturwissenschaftler Christopher Ricks in einer kürzlich erschienenen Studie "Dylan's Vision of Sin" genannt hat: ein religiös grundiertes Weltbild, das dem Kampfplatz der Sünde die Hoffnung auf eine Erlösung gegenüberstellt, deren Licht aus den Popularmythen leuchtet wie aus der Heiligen Schrift. Hier die "political world", dort aber, und immer in Sichtweite, die "Highlands", die er in einem seiner schönsten Songs aus Burns und dem Blues komponiert hat.
Dylan erzählt solche Passagen mit spürbarer Provokationslust gegenüber jenen, die ihn noch immer auf die Rolle eines "Protestsängers" festlegen wollen, der er nie war. Ausgiebig läßt er seiner Empörung und Verzweiflung darüber freien Lauf, wie "radikale Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung" ihn zur Erlöserfigur einer Kunstreligion des Pop erhoben, erzählt von der Verleihung seiner Ehrendoktorwürde in Princeton und der Zusammenarbeit mit Archibald MacLeish, von seinen dilettierenden Versuchen als Zeichner und Bildhauer. Manchmal genügt eine einzige Wendung, um solche Berichte umschlagen zu lassen ins Metaphysische. Während der Pause bei einer Aufnahmesession beobachtet er den vor sich hin träumenden Schlagzeuger: "Er starrte durch einen Spiegel in ein dunkles Bild." Wie nebenbei fällt da der Blitzschein des Bibelwortes auf die Studio-Szene.
Das Schlußkapitel schließt die Zeitschleife; hier geht es zurück vor die Zeit, mit der das Buch begann, zurück ins winterkalte Minnesota und zurück in die Zeit Harry S. Trumans. Die letzten der alten Minstrel Shows gibt es da noch zu sehen, und Woody Guthries Autobiographie (die zu den Vorbildern der vorliegenden gehört) ist eben erst erschienen. Es ist jenes vergangene und nie ganz wirkliche Amerika, aus dem Dylans Songpoesie lebt und in die dieses Buch, nach einem weit ausholenden Bogen hinauf in unsere Gegenwart, sich wieder zurückbiegt. Es ist die Geschichte von Gorgeous Bob. Ein großer Geist. Man sagt, er habe die Größe seines Volkes besessen.
Gleichzeitig mit den "Chronicles" hat Dylan die erweiterte Fassung seines Songbooks veröffentlicht. 1150 Seiten umfaßt die zweisprachige Ausgabe mitsamt Gisbert Haefs' angenehm unambitionierter und genauer Übersetzung - ein Lebenswerk, über das längst eine ganze Bibliothek geschrieben worden ist. Und doch bloß ein umfangreicher, vom Autor komponierter Ausschnitt, in dem nicht nur viele der unveröffentlichten Songs fehlen, sondern auch einige der bekannten, von "Heartland" bis zur Bürgerkriegs-Ballade "Cross the Green Mountain". Auch in der Wiedergabe von Varianten ist Dylan sehr wählerisch. Die Neufassung von "Gonna Change My Way of Thinking" wird uns mitgeteilt, die nicht minder radikale Überarbeitung von "Tangled Up In Blue", die auf dem Album "Real Life" doch unüberhörbar war, bleibt ausgespart - und so fort. Und schließlich sind hier die Gedichtzyklen und Prosatexte, die in den früheren Auflagen enthalten waren, komplett entfallen; hier präsentiert der Poet aus seinem Werk nichts als die Songs. Es ist ein wunderbarer Band geworden, Dylans Dylan-Anthologie. Wer aber auf eine Werkausgabe gehofft hat, muß weiter warten. Die Unmöglichkeit, die Fülle der Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auf deutsch wiederzugeben, erörtert Haefs selbst im Vorwort. So unvermeidlich aber die Vereindeutigungen sind, so betrüblich bleiben sie doch. Das gilt auch für die zunehmende Zahl kryptischer Zitate - noch der vorerst letzte Vers, ein prophetischer Ausblick auf das Weltgericht, entstammt hier weder der Bibel noch Dylans eigenem Ingenium, sondern einem Sinatra-Song. Wer solche Entschlüsselungshilfen sucht, findet sie vorerst nur bei Dylan-Philologen wie Christopher Ricks, Michael Gray oder Paul Williams. Wo der Poet selber Spuren legt, verwischt er sie sogleich wieder. Wir haben ihn nur, indem er sich entzieht.
Bob Dylan: "Chronicles". Volume One. Deutsch/Englisch. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Passig und Gerhard Henschel. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Bob Dylan: "Lyrics 1962 - 2001". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisbert Haefs. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 1152 S., geb., 39,95 [Euro].
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