Paul Steinberg war 16 Jahre, als ihn die französische Miliz festnahm und nach Auschwitz brachte. Und er versuchte, um jeden Preis zu überleben. Dank eines schlauen Manövers wurde er in das Chemikerkommando aufgenommen, dem auch Primo Levi angehörte. Levi beschreibt Steinberg als "hart und unnahbar, unmenschlich schlau". Erst fünfzig Jahre später ist es dem Autor möglich, über seine Erinnerungen zu schreiben und zu zeigen, wie das Lager ihn zu dem gemacht hat, der er war. "Ein verstörendes Bekenntnis zur Schuld und zum Haß... Ein atemberaubendes Dokument." Claus Philipp, DER STANDARD
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.1998Mein Freund Henri
Paul Steinbergs dunkle Chronik · Von Gerhard Schulz
"Ich weiß schon jetzt, was ich vermeiden will. Das Museum der Greuel. Die Litanei der Abscheulichkeiten. Alles ist bereits gesagt worden, oft auf ziemlich grausame Art." Der Satz steht in einer vor zwei Jahren auf französisch und jetzt auf deutsch erschienenen "Chronik aus einer dunklen Welt", einem Bericht über Auschwitz. Gibt es, so muß man sich fragen, auch bei Büchern über die Vernichtungslager des Dritten Reiches eine Art ästhetisches Originalitätsgebot? Gib es auch bei ihnen für das literarisch Wirkungsvolle und Bedeutende die Bedingung, daß etwas bisher nie Gesagtes gesagt werde und auf eine Weise wie nie zuvor? Oder setzt - alte Frage - eine Welt, in der Menschen sich anderer Menschen entledigten wie lästige Insekten, alle Regeln der Ästhetik außer Kraft? Und ist im übrigen darüber wirklich bereits alles gesagt worden, und was ist überhaupt "alles"?
Paul Steinbergs "Chronik aus einer dunklen Welt" ist mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Geschehnissen geschrieben worden, von denen sie berichtet, und sie stammt von jemandem, den nicht schriftstellerische Ambitionen und literarische Erfahrung zum Schreiben veranlaßt haben, sondern einzig und allein das unverdrängbare Trauma dieser anderthalb Jahre seiner Begegnung mit dem Tod als Meister aus Deutschland. "Und jetzt schließt, ihr, die ihr mich lest, die Augen. Versucht, euch hinter euren geschlossenen Lidern das Bild vorzustellen, das ich euch beschreibe."
Im September 1943 wird ein sechzehnjähriger Junge, Deutscher, inzwischen zum Franzosen geworden, eine "Randfigur der Judenheit", nicht einmal beschnitten, von der französischen Polizei in Paris den Deutschen zugeführt. Knapp einen Monat später findet er sich in Auschwitz, und man sieht wieder, was nun in der Tat inzwischen beschämend genug weltbekannt geworden ist: die Rampe, SS, die unüberschaubare Schar der Todgeweihten, Appellplatz, elektrisch geladene Zäune, Wachtürme, das unendliche Elend der Baracken, Kriminelle, Kapos, Hunger, Angst, Krankheit, Tod und immer wieder Tod. Nur wenige haben das überlebt.
Von ebendiesem Überleben in Auschwitz aber handelt der Bericht, handelt davon geradezu zwanghaft, so daß das Wort selbst immer wiederkehrt und zu einer Art Kammerton des ganzen Buches wird. Damit aber hat es eine besondere Bewandtnis. In seinen "Erinnerungen an Auschwitz", erschienen unter dem Titel "Ist das ein Mensch?", schreibt Primo Levi von einem jungen französischen Mithäftling, den er Henri nennt. Der Junge versteht es, sich geschickt und kalt kalkulierend allen denen anzudienen, die in der Entmenschlichungsmaschine des Lagers über irgendeine Form von Macht und Vorteil verfügen, zum Beispiel über ein Brot, über die Erlaubnis zum Aufenthalt in der Krankenbaracke oder über die Zuteilung zu einem weniger aufreibenden Arbeitskommando. So wird er, in Levis Worten, "ein Feind aller, unmenschlich schlau und unbegreiflich wie die Schlange in der Genesis". Und Levi fügt hinzu: "Heute weiß ich, daß Henri lebt. Mir wäre viel daran gelegen, sein Leben als freier Mensch zu kennen, aber wiedersehen möchte ich ihn nicht." Dieser Mensch aber ist nach seinem eigenen Bekenntnis Paul Steinberg.
In Freiheit führte er das Leben eines französischen Geschäftsmannes, der oft nach Deutschland gereist ist, eine Familie gründete, auch deutsche Freunde fand und den der Vorwurf nicht losgelassen hat, ein Opfer gewesen zu sein, das den Tätern entgegenkam, sich um des Überlebens willen seiner Würde begab. Ein strenges, unnachsichtiges Selbstgericht also wird eingeleitet, wo eigentlich nur unablässig und immer wieder neu Anklage zu erheben wäre gegen die ganze Tatsache dieser "anticartesianischen Welt" einer "grenzenlosen Barbarei". Der wahrhaft erschütternde Satz "Ist man denn schuldig, wenn man überlebt?" faßt das in sich zusammen.
Steinberg gibt einen Bericht von großer Dichte, läßt Stufe für Stufe die "Tötung des Mitleids", die Reduktion der Gefühle und die Zerstörung psychischer Integrität nacherlebbar werden, die sich in diesem jungen Mann ereignen, und er läßt spüren, wie ihm aus der Todesangst der Wunsch erwächst, der Hölle zu entkommen. "Wir waren die Tiere, zu denen man uns gemacht hat", heißt es gegen Ende des Buches. Angesichts der Monstrosität dieser Hölle kann es erklärende, schlüssige Antworten auf seine Frage nicht geben; der Tag, an dem darüber "alles" gesagt sein wird, wird nie heraufziehen.
Steinberg deshalb also Absolution erteilen? Dazu hätten seine deutschen Leser am allerwenigsten ein Recht. Die Literaturwissenschaft könnte vielleicht für ihn den Trost bereithalten, daß Levi seiner Gestalt einen anderen Namen gab, sie älter machte, also jenen Umsetzungsprozeß vollzog, der aus einer wirklichen eine literarische Gestalt macht - eine fiktive Figur, die, wie in aller Literatur, nicht mehr mit einer wirklichen Person identisch ist. Die Gesetze der Ästhetik haben also wohl selbst für die Erinnerungen an Auschwitz nicht ihre Gültigkeit verloren. Aber sie betreffen nicht den Kern des Konflikts, von dem Steinberg in seinem tiefbewegenden Buch erzählt.
Nur wenige sind, wie gesagt, der Hölle der Vernichtungslager entkommen. Manchen hat das Trauma, darin gewesen zu sein, noch nachträglich eingeholt, wie man von Primo Levi weiß, der 1987 in Turin starb. Andere, wie Paul Steinberg oder vor ihm Ruth Klüger und Louis Begley, haben erst spät niedergeschrieben, was sie über ein halbes Jahrhundert hinweg nicht losgelassen hat. Sie haben es niedergeschrieben als Versuch, sich von einer Hölle zu erlösen, aus der sie einst entkommen konnten.
Es gibt jedoch noch jene andere Hölle, mit der Heinrich Heine einmal am Ende seines großen Deutschland-Gedichts dem preußischen König gedroht hat: Es ist die Hölle der Verse und der Bücher. "Kennst du die Hölle des Dante nicht, / Die schrecklichen Terzetten? Wen da der Dichter hineingesperrt, / Den kann kein Gott mehr retten." In die Hölle der Bücher über die Menschenvernichtungsmaschine des Dritten Reiches wird Deutschland unerlösbar eingesperrt bleiben, denn was immer im einzelnen oder im großen getan worden ist, getan wird und weiterhin getan werden muß, um ihm zu neuer Würde zu verhelfen - in seinem Namen wurde diese Maschine ersonnen, konstruiert und in tödliche Bewegung gesetzt.
Paul Steinberg: "Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht". Aus dem Französischen übersetzt von Moshe Kahn. Carl Hanser Verlag, München 1998. 166 S., geb., 34,- DM.
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Paul Steinbergs dunkle Chronik · Von Gerhard Schulz
"Ich weiß schon jetzt, was ich vermeiden will. Das Museum der Greuel. Die Litanei der Abscheulichkeiten. Alles ist bereits gesagt worden, oft auf ziemlich grausame Art." Der Satz steht in einer vor zwei Jahren auf französisch und jetzt auf deutsch erschienenen "Chronik aus einer dunklen Welt", einem Bericht über Auschwitz. Gibt es, so muß man sich fragen, auch bei Büchern über die Vernichtungslager des Dritten Reiches eine Art ästhetisches Originalitätsgebot? Gib es auch bei ihnen für das literarisch Wirkungsvolle und Bedeutende die Bedingung, daß etwas bisher nie Gesagtes gesagt werde und auf eine Weise wie nie zuvor? Oder setzt - alte Frage - eine Welt, in der Menschen sich anderer Menschen entledigten wie lästige Insekten, alle Regeln der Ästhetik außer Kraft? Und ist im übrigen darüber wirklich bereits alles gesagt worden, und was ist überhaupt "alles"?
Paul Steinbergs "Chronik aus einer dunklen Welt" ist mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Geschehnissen geschrieben worden, von denen sie berichtet, und sie stammt von jemandem, den nicht schriftstellerische Ambitionen und literarische Erfahrung zum Schreiben veranlaßt haben, sondern einzig und allein das unverdrängbare Trauma dieser anderthalb Jahre seiner Begegnung mit dem Tod als Meister aus Deutschland. "Und jetzt schließt, ihr, die ihr mich lest, die Augen. Versucht, euch hinter euren geschlossenen Lidern das Bild vorzustellen, das ich euch beschreibe."
Im September 1943 wird ein sechzehnjähriger Junge, Deutscher, inzwischen zum Franzosen geworden, eine "Randfigur der Judenheit", nicht einmal beschnitten, von der französischen Polizei in Paris den Deutschen zugeführt. Knapp einen Monat später findet er sich in Auschwitz, und man sieht wieder, was nun in der Tat inzwischen beschämend genug weltbekannt geworden ist: die Rampe, SS, die unüberschaubare Schar der Todgeweihten, Appellplatz, elektrisch geladene Zäune, Wachtürme, das unendliche Elend der Baracken, Kriminelle, Kapos, Hunger, Angst, Krankheit, Tod und immer wieder Tod. Nur wenige haben das überlebt.
Von ebendiesem Überleben in Auschwitz aber handelt der Bericht, handelt davon geradezu zwanghaft, so daß das Wort selbst immer wiederkehrt und zu einer Art Kammerton des ganzen Buches wird. Damit aber hat es eine besondere Bewandtnis. In seinen "Erinnerungen an Auschwitz", erschienen unter dem Titel "Ist das ein Mensch?", schreibt Primo Levi von einem jungen französischen Mithäftling, den er Henri nennt. Der Junge versteht es, sich geschickt und kalt kalkulierend allen denen anzudienen, die in der Entmenschlichungsmaschine des Lagers über irgendeine Form von Macht und Vorteil verfügen, zum Beispiel über ein Brot, über die Erlaubnis zum Aufenthalt in der Krankenbaracke oder über die Zuteilung zu einem weniger aufreibenden Arbeitskommando. So wird er, in Levis Worten, "ein Feind aller, unmenschlich schlau und unbegreiflich wie die Schlange in der Genesis". Und Levi fügt hinzu: "Heute weiß ich, daß Henri lebt. Mir wäre viel daran gelegen, sein Leben als freier Mensch zu kennen, aber wiedersehen möchte ich ihn nicht." Dieser Mensch aber ist nach seinem eigenen Bekenntnis Paul Steinberg.
In Freiheit führte er das Leben eines französischen Geschäftsmannes, der oft nach Deutschland gereist ist, eine Familie gründete, auch deutsche Freunde fand und den der Vorwurf nicht losgelassen hat, ein Opfer gewesen zu sein, das den Tätern entgegenkam, sich um des Überlebens willen seiner Würde begab. Ein strenges, unnachsichtiges Selbstgericht also wird eingeleitet, wo eigentlich nur unablässig und immer wieder neu Anklage zu erheben wäre gegen die ganze Tatsache dieser "anticartesianischen Welt" einer "grenzenlosen Barbarei". Der wahrhaft erschütternde Satz "Ist man denn schuldig, wenn man überlebt?" faßt das in sich zusammen.
Steinberg gibt einen Bericht von großer Dichte, läßt Stufe für Stufe die "Tötung des Mitleids", die Reduktion der Gefühle und die Zerstörung psychischer Integrität nacherlebbar werden, die sich in diesem jungen Mann ereignen, und er läßt spüren, wie ihm aus der Todesangst der Wunsch erwächst, der Hölle zu entkommen. "Wir waren die Tiere, zu denen man uns gemacht hat", heißt es gegen Ende des Buches. Angesichts der Monstrosität dieser Hölle kann es erklärende, schlüssige Antworten auf seine Frage nicht geben; der Tag, an dem darüber "alles" gesagt sein wird, wird nie heraufziehen.
Steinberg deshalb also Absolution erteilen? Dazu hätten seine deutschen Leser am allerwenigsten ein Recht. Die Literaturwissenschaft könnte vielleicht für ihn den Trost bereithalten, daß Levi seiner Gestalt einen anderen Namen gab, sie älter machte, also jenen Umsetzungsprozeß vollzog, der aus einer wirklichen eine literarische Gestalt macht - eine fiktive Figur, die, wie in aller Literatur, nicht mehr mit einer wirklichen Person identisch ist. Die Gesetze der Ästhetik haben also wohl selbst für die Erinnerungen an Auschwitz nicht ihre Gültigkeit verloren. Aber sie betreffen nicht den Kern des Konflikts, von dem Steinberg in seinem tiefbewegenden Buch erzählt.
Nur wenige sind, wie gesagt, der Hölle der Vernichtungslager entkommen. Manchen hat das Trauma, darin gewesen zu sein, noch nachträglich eingeholt, wie man von Primo Levi weiß, der 1987 in Turin starb. Andere, wie Paul Steinberg oder vor ihm Ruth Klüger und Louis Begley, haben erst spät niedergeschrieben, was sie über ein halbes Jahrhundert hinweg nicht losgelassen hat. Sie haben es niedergeschrieben als Versuch, sich von einer Hölle zu erlösen, aus der sie einst entkommen konnten.
Es gibt jedoch noch jene andere Hölle, mit der Heinrich Heine einmal am Ende seines großen Deutschland-Gedichts dem preußischen König gedroht hat: Es ist die Hölle der Verse und der Bücher. "Kennst du die Hölle des Dante nicht, / Die schrecklichen Terzetten? Wen da der Dichter hineingesperrt, / Den kann kein Gott mehr retten." In die Hölle der Bücher über die Menschenvernichtungsmaschine des Dritten Reiches wird Deutschland unerlösbar eingesperrt bleiben, denn was immer im einzelnen oder im großen getan worden ist, getan wird und weiterhin getan werden muß, um ihm zu neuer Würde zu verhelfen - in seinem Namen wurde diese Maschine ersonnen, konstruiert und in tödliche Bewegung gesetzt.
Paul Steinberg: "Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht". Aus dem Französischen übersetzt von Moshe Kahn. Carl Hanser Verlag, München 1998. 166 S., geb., 34,- DM.
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"Ein verstörendes Bekenntnis zur Schuld und zum Haß. Ein atemberaubendes Dokument." (Claus Philipp, Der Standard)