Ein Renaissance-Roman, der aus Fakten und Fiktionen ein faszinierendes Bild vergangener Zeiten webt - und wie nebenbei wird klar, dass alle Fragen absolut gegenwärtig und lebendig sind.Eine junge Frau ist schwanger und kann keinen Vater vorweisen; in ihrer Not erzähltsie eine phantastische Geschichte, in der der Teufel eine Rolle spielt. Eine Bauerntochter rebelliert gegen das patriarchalische System. Ein Bischof auf Visitation in den innerösterreichischen Erbländern streitet mit seinem alten Freund, einem protestantischen Grafen, über Macht und Sünde. Als er mit allen Raffinessen einen Hexenprozess anzuzetteln versucht, unterläuft das ein liberaler Bürgermeister, und ein Stadtschreiber fühlt sich zum Philosophen berufen und lässt sich nicht mehr diktieren, was er zu sagen hat. Aufklärung und Aberglaube widerstreiten im Volk, Heiligkeit und Scheinheiligkeit sind nur im Ausnahmefall voneinander zu trennen.Mojca Kumerdej führt in ihrem polyphonen historischen Roman in die Zeit der beginnenden Gegenreformation im späten 16. Jahrhundert. Sie zeichnet ein überaus farbiges, lebenspralles Bild der Verhältnisse und lässt Angehörige aller Klassen und Schichten zu Wort kommen: voller funkelnder Einfälle, Witz und fesselnder Dialoge. Mojca Kumerdejs großer Roman zielt immer auf Heutiges - nicht nur, weil er den Frauen eine besondere Rolle für die Befreiung von falscher Autorität zuweist, sondern weil er überhaupt nach den Prozessen fragt, die zu Diktatur und Unterdrückung führen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2020Fritzi, die Pinke ist da
Mojca Kumerdejs "Chronos erntet"
Wenn das nicht mit dem Teufel zugeht! Ein Hexereiprozess, in dem der Richter ein anständiger, aufgeklärter Mann ist, nicht oder vielleicht nur ganz am Rande glaubt, dass es so etwas wie Zauberei und Satanspakte wirklich geben könnte, und die Angeklagten ganz gerne freisprechen oder zumindest für verrückt, also nicht zurechnungsfähig und damit frei von Schuld erklären möchte. Kein Wunder wiederum, dass dieser Richter nicht lange zu leben hat - Lebensmittelvergiftung! Kommt ja an der Wende vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert häufiger vor.
In diesem sehr geschickt als historischer Roman getarnten zornigen Aufschrei gegen ungerechte, korrupte Autoritäten von Mojca Kumerdej, einer slowenischen Autorin, Philosophin und Journalistin, ist die Schilderung jenes dann von einem anderen, nun willfährigen Richter zum gewünschten Ergebnis - Tod auf dem Scheiterhaufen - gebrachten Verfahrens nur eine von zahlreichen Episoden. Am ehesten könnte als durchlaufender Handlungsstrang der Besuch des Fürstbischofs Wolfgang während seiner - übrigens letzten, wie er selbst ahnt - Visitationsreise durch die innerösterreichischen Lande bei seinem Jugendfreund Graf Friedrich (vom Fürstbischof gerne "Fritzi" tituliert) herausgeschält werden. Da philosophiert Wolfgang weniger über das Göttliche als über die irdischen Freuden, die ihm sein Amt beschert. Wozu freilich auch Unzucht jeglicher Art, vor allem aber gutes, reichliches Essen und Reichtümer unverschämten Ausmaßes gehören. Immerhin weiß er ja so viel: In ein eventuell mögliches anderes Leben kann er nichts davon mitnehmen, also warum nicht jetzt genießen? Sein sehnlichster Wunsch wäre es, noch in die Neue Welt zu reisen oder gar vom Papst dorthin gesandt zu werden. Aber dazu wird es nicht mehr kommen.
Verblüfft ist sein Gesprächspartner, der nicht ganz katholische, aber auch nicht ganz lutherische Graf Friedrich, nicht, eher angeekelt. Das darf er sich aber nicht anmerken lassen, denn einen Ketzereiprozess möchte er nicht riskieren. Ihm so einen anzuhängen, traut Friedrich seinem "Freund" Wolfgang auf jeden Fall zu.
Daneben zeichnet Kumerdej ein überzeugend uneinheitliches Bild der verwirrenden Zustände in der ausgehenden Renaissancezeit. Juden werden selbstverständlich nicht geduldet, wenn sie sich aber als "Triestiner" vorstellen, können sie sogar als Hofastrologen anheuern oder einem von Verarmung bedrohten Landbesitzer Golems zur Verfügung stellen. Die erledigen dann schwere Arbeit, ohne zu murren. Ein junger Mann, der behauptet, eine Marienerscheinung gehabt zu haben, wird so lange von Ordensbrüdern bearbeitet, bis diese Vision ihnen zur Gründung eines Wallfahrtsortes verhilft. Ein protestantischer Bürgermeister wird gezwungen, sein Amt aufzugeben und in die Verbannung - nach Venedig, oder ist das nur ein Synonym für "in den Tod"? - zu gehen. Einzig dem Stadtschreiber und seiner Geliebten gelingt am Ende - vielleicht - eine Flucht in eine neue, bessere Zukunft. Doch auch das lässt Kumerdej offen.
Ungewöhnlich viel wird in dieser Erzählung über Gespräche vermittelt. Einige Kapitel erscheinen mitunter auch in Ich-Form, verfasst als Berichte an (meist katholisch-kirchliche) Vorgesetzte oder Institutionen. "Chronos erntet" ist Kumerdejs zweiter Roman, im slowenischen Original 2016 erschienen und im Jahr darauf mit dem renommierten Preseren-Preis ausgezeichnet.
Beim Lesen kommt uns vieles geradezu erschreckend vertraut vor, und das zwar weniger als historisch interessierte Menschen, denn als wachsame Zeitgenossen unserer Gegenwart. Erwin Köstler hat völlig zu Recht für seine gelungene Übersetzung des Buchs ins Deutsche den diesjährigen Fabjan-Hafner-Preis für Übertragungen aus dem Slowenischen zugesprochen bekommen, vergeben vom Goethe-Institut Ljubljana in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Colloquium Berlin und dem Robert-Musil-Institut Klagenfurt, der ihm wegen des Ausfalls der Leipziger Buchmesse aber noch nicht offiziell verliehen werden konnte.
MARTIN LHOTZKY.
Mojca Kumerdej: "Chronos erntet". Roman.
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 472 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mojca Kumerdejs "Chronos erntet"
Wenn das nicht mit dem Teufel zugeht! Ein Hexereiprozess, in dem der Richter ein anständiger, aufgeklärter Mann ist, nicht oder vielleicht nur ganz am Rande glaubt, dass es so etwas wie Zauberei und Satanspakte wirklich geben könnte, und die Angeklagten ganz gerne freisprechen oder zumindest für verrückt, also nicht zurechnungsfähig und damit frei von Schuld erklären möchte. Kein Wunder wiederum, dass dieser Richter nicht lange zu leben hat - Lebensmittelvergiftung! Kommt ja an der Wende vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert häufiger vor.
In diesem sehr geschickt als historischer Roman getarnten zornigen Aufschrei gegen ungerechte, korrupte Autoritäten von Mojca Kumerdej, einer slowenischen Autorin, Philosophin und Journalistin, ist die Schilderung jenes dann von einem anderen, nun willfährigen Richter zum gewünschten Ergebnis - Tod auf dem Scheiterhaufen - gebrachten Verfahrens nur eine von zahlreichen Episoden. Am ehesten könnte als durchlaufender Handlungsstrang der Besuch des Fürstbischofs Wolfgang während seiner - übrigens letzten, wie er selbst ahnt - Visitationsreise durch die innerösterreichischen Lande bei seinem Jugendfreund Graf Friedrich (vom Fürstbischof gerne "Fritzi" tituliert) herausgeschält werden. Da philosophiert Wolfgang weniger über das Göttliche als über die irdischen Freuden, die ihm sein Amt beschert. Wozu freilich auch Unzucht jeglicher Art, vor allem aber gutes, reichliches Essen und Reichtümer unverschämten Ausmaßes gehören. Immerhin weiß er ja so viel: In ein eventuell mögliches anderes Leben kann er nichts davon mitnehmen, also warum nicht jetzt genießen? Sein sehnlichster Wunsch wäre es, noch in die Neue Welt zu reisen oder gar vom Papst dorthin gesandt zu werden. Aber dazu wird es nicht mehr kommen.
Verblüfft ist sein Gesprächspartner, der nicht ganz katholische, aber auch nicht ganz lutherische Graf Friedrich, nicht, eher angeekelt. Das darf er sich aber nicht anmerken lassen, denn einen Ketzereiprozess möchte er nicht riskieren. Ihm so einen anzuhängen, traut Friedrich seinem "Freund" Wolfgang auf jeden Fall zu.
Daneben zeichnet Kumerdej ein überzeugend uneinheitliches Bild der verwirrenden Zustände in der ausgehenden Renaissancezeit. Juden werden selbstverständlich nicht geduldet, wenn sie sich aber als "Triestiner" vorstellen, können sie sogar als Hofastrologen anheuern oder einem von Verarmung bedrohten Landbesitzer Golems zur Verfügung stellen. Die erledigen dann schwere Arbeit, ohne zu murren. Ein junger Mann, der behauptet, eine Marienerscheinung gehabt zu haben, wird so lange von Ordensbrüdern bearbeitet, bis diese Vision ihnen zur Gründung eines Wallfahrtsortes verhilft. Ein protestantischer Bürgermeister wird gezwungen, sein Amt aufzugeben und in die Verbannung - nach Venedig, oder ist das nur ein Synonym für "in den Tod"? - zu gehen. Einzig dem Stadtschreiber und seiner Geliebten gelingt am Ende - vielleicht - eine Flucht in eine neue, bessere Zukunft. Doch auch das lässt Kumerdej offen.
Ungewöhnlich viel wird in dieser Erzählung über Gespräche vermittelt. Einige Kapitel erscheinen mitunter auch in Ich-Form, verfasst als Berichte an (meist katholisch-kirchliche) Vorgesetzte oder Institutionen. "Chronos erntet" ist Kumerdejs zweiter Roman, im slowenischen Original 2016 erschienen und im Jahr darauf mit dem renommierten Preseren-Preis ausgezeichnet.
Beim Lesen kommt uns vieles geradezu erschreckend vertraut vor, und das zwar weniger als historisch interessierte Menschen, denn als wachsame Zeitgenossen unserer Gegenwart. Erwin Köstler hat völlig zu Recht für seine gelungene Übersetzung des Buchs ins Deutsche den diesjährigen Fabjan-Hafner-Preis für Übertragungen aus dem Slowenischen zugesprochen bekommen, vergeben vom Goethe-Institut Ljubljana in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Colloquium Berlin und dem Robert-Musil-Institut Klagenfurt, der ihm wegen des Ausfalls der Leipziger Buchmesse aber noch nicht offiziell verliehen werden konnte.
MARTIN LHOTZKY.
Mojca Kumerdej: "Chronos erntet". Roman.
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 472 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Beim Lesen kommt uns vieles geradezu erschreckend vertraut vor, und das zwar weniger als historisch interessierte Menschen, denn als wachsame Zeitgenossen unserer Gegenwart.« (Martin Lhotzky, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.2020) »Mojca Kumerdej kleidet in 'Chronos erntet' eine Analyse der Mechanismen der Macht in ein historisches Gewand.« (Anton Thuswaldner, Die Furche booklet, 27.06.2019) »Dieses vielstimmige, sprachgewaltige Buch, das Historisches, Fiktives und Mythisches mischt, sollte man eigentlich mehrmals lesen, um die geballte Wucht des Geschilderten zu erfassen.« (Sabine Neubert, neues deutschland, 25.07.2019) »Eine erschreckend spannende Studie der Gewalt.« (bibliotheksnachrichten, Monika Roth, 2019/4)