Süddeutsche ZeitungDie Verwandlung
Die Protagonistin in Anna Metcalfes Debüt „Chrysalis“ nimmt sich,
was sie will – und taucht in dem Roman selbst nie auf.
Sie trainiert im Fitnessstudio mit Bluse und isst mehrere Hauptgerichte gleichzeitig. Mit Arbeiten möchte sie ihre Zeit nicht verschwenden, sie denkt lieber darüber nach, welcher Edelstein sie ist. Sie bewegt sich anmutig und läuft auf einem roten Teppich, gestrickt von ihrem Selbstvertrauen. Ihr gehört die Welt, weil sie sich nimmt, was sie will. Und wenn sie weint oder schwitzt, dann möchte man ein Glas unter ihren Körper halten, um das aufzufangen, was sie zu verlieren droht. Denn Körperflüssigkeiten sind bei ihr nicht mehr unvermeidbarer Beifang menschlicher Existenz, sondern der Versuch, etwas Unfassbares greifen zu können.
Sie, das ist die Hauptfigur in „Chrysalis“, dem Debütroman der britischen Autorin Anna Metcalfe, die mit Kurzgeschichten bekannt und im vergangenen Jahr von Granta, der wichtigsten englischen Literaturzeitschrift, unter die besten britischen Autoren unter 40 gewählt wurde. An der Universität Birmingham unterrichtet sie Kreatives Schreiben – Studierende könnten sich nun also auch am Buch ihrer Dozentin abarbeiten.
Vor allem an ihr, der schillernd-verstörenden Frau ohne Namen, die für 268 Seiten gefühlschaotischer Wallungen verantwortlich ist. Anstatt sie sprechen zu lassen, findet die Annäherung durch die detailgenauen und lebendigen Erzählungen ihr nahestehender Menschen statt, Elliot, ihrer Mutter Bella und Susie.
Elliot, introvertiertes Arbeitstier, der in seiner Freizeit Sprachen nicht zur Verständigung lernt, sondern um dem Erschlaffen seiner Gesichtsmuskulatur entgegenzuwirken, begegnet ihr im Fitnessstudio. Mit Bella reist man durch ihre von Trost- und Rastlosigkeit geprägte Kindheit und ihre Freundin Susie beschreibt ein kurzes und intensives WG-Leben. Die Beziehungen unterscheiden sich nur in Nuancen voneinander, im Kern sind sie gleich. Mehr parasitär als symbiotisch saugt sie an allem, in dem sie Saft vermutet. Und sie saugt so lange, bis sie voll ist – oder eben kein Saft mehr da.
Den Saft braucht sie für ihre Chrysalis, ein aus der Zoologie abgeleitetes Phänomen der Verwandlung von Larve zu Insekt. Die Erzählung zeichnet ihren Weg vom bedürftigen Mädchen zur unabhängigen Frau nach. Weil der Roman im Fitnessstudio beginnt, dem Epizentrum der normschönen Selbstoptimierung, meint man, eine Raupe-Schmetterling-Metamorphose erleben zu dürfen. Dem ist nicht so. Während Schmetterlinge friedlich durch die Gegend fliegen, ist sie konstant damit beschäftigt, mit abgestorbenen Teilen ihres bleiernen Kokons Menschen zu verletzen. All ihre Beziehungen sind von einem ungewöhnlichen Nähe-Distanz-Verhältnis geprägt, von Abhängigkeit, Macht und Missbrauch. Von Bedürftigkeit und Abgrenzung und extremen Gefühlen. Ihre Freundin Susie schreibt: „Sobald man sie einmal kennengelernt hat, ist es schwer, in die Zeit davor zurückzufinden.“ So nimmt der Lesende die eigene Beziehung zur Hauptfigur auch wahr, und es fällt schwer, den Roman wegzulegen. Zu unberechenbar ist die Handlung, zu unorthodox der Charakter der abwesenden Protagonistin.
Mit der Erzählung einer Frau, die auf zerstörerische Weise versucht, ihren Lebensweg zu finden, verhandelt Anna Metcalfe die Rolle der Frau und das Verständnis von Liebe und Abhängigkeit neu. Damit hält sie vor allem den Menschen einen Spiegel vor, deren Prioritätensetzung sich ausnahmslos an den eigenen Bedürfnissen orientiert. Social Media spielt am Ende dann auch noch eine Rolle – wie könnte es auch nicht? –, und keine besonders gute.
„Chrysalis“ ist ein Roman der schönen Worte, der großen Emotionen und auch der Ratlosigkeit. Es ist leicht, gar unvermeidbar, die Gefühlswelt der Protagonisten und Protagonistinnen ebenfalls zu durchleben. Und auch wenn man es bis dato nicht wusste: wenn sie vom Kummerkoma oder von Wutwellen spricht, dann spürt man ganz genau, was sie damit meint. Gleichzeitig steht zwischen den Zeilen mindestens ein weiteres Buch und deshalb liest sich „Chrysalis“ nicht nur wie die Geschichte einer suchenden Frau, sondern auch wie eine teils bittere Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen. Das Ende bleibt offen. Das kann kaum anders sein, denn es ist gerade die Ungreifbarkeit des ambivalenten Charakters im leeren Zentrum des Romans, die ihn so lesenswert macht.
CHRISTINA LOPINSKI
Anna Metcalfe: Chrysalis. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 272 Seiten, 24 Euro.
Mehrere Schmetterlinge befinden sich in ihrer Chrysalis, also dem Übergangsstadium von Insektenlarve zu Vollinsekt. Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich auch der Debütroman von Anna Metcalfe – nur dass es nicht um Schmetterlinge geht.
Foto: Oli Scarff / Getty
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Die Protagonistin in Anna Metcalfes Debüt „Chrysalis“ nimmt sich,
was sie will – und taucht in dem Roman selbst nie auf.
Sie trainiert im Fitnessstudio mit Bluse und isst mehrere Hauptgerichte gleichzeitig. Mit Arbeiten möchte sie ihre Zeit nicht verschwenden, sie denkt lieber darüber nach, welcher Edelstein sie ist. Sie bewegt sich anmutig und läuft auf einem roten Teppich, gestrickt von ihrem Selbstvertrauen. Ihr gehört die Welt, weil sie sich nimmt, was sie will. Und wenn sie weint oder schwitzt, dann möchte man ein Glas unter ihren Körper halten, um das aufzufangen, was sie zu verlieren droht. Denn Körperflüssigkeiten sind bei ihr nicht mehr unvermeidbarer Beifang menschlicher Existenz, sondern der Versuch, etwas Unfassbares greifen zu können.
Sie, das ist die Hauptfigur in „Chrysalis“, dem Debütroman der britischen Autorin Anna Metcalfe, die mit Kurzgeschichten bekannt und im vergangenen Jahr von Granta, der wichtigsten englischen Literaturzeitschrift, unter die besten britischen Autoren unter 40 gewählt wurde. An der Universität Birmingham unterrichtet sie Kreatives Schreiben – Studierende könnten sich nun also auch am Buch ihrer Dozentin abarbeiten.
Vor allem an ihr, der schillernd-verstörenden Frau ohne Namen, die für 268 Seiten gefühlschaotischer Wallungen verantwortlich ist. Anstatt sie sprechen zu lassen, findet die Annäherung durch die detailgenauen und lebendigen Erzählungen ihr nahestehender Menschen statt, Elliot, ihrer Mutter Bella und Susie.
Elliot, introvertiertes Arbeitstier, der in seiner Freizeit Sprachen nicht zur Verständigung lernt, sondern um dem Erschlaffen seiner Gesichtsmuskulatur entgegenzuwirken, begegnet ihr im Fitnessstudio. Mit Bella reist man durch ihre von Trost- und Rastlosigkeit geprägte Kindheit und ihre Freundin Susie beschreibt ein kurzes und intensives WG-Leben. Die Beziehungen unterscheiden sich nur in Nuancen voneinander, im Kern sind sie gleich. Mehr parasitär als symbiotisch saugt sie an allem, in dem sie Saft vermutet. Und sie saugt so lange, bis sie voll ist – oder eben kein Saft mehr da.
Den Saft braucht sie für ihre Chrysalis, ein aus der Zoologie abgeleitetes Phänomen der Verwandlung von Larve zu Insekt. Die Erzählung zeichnet ihren Weg vom bedürftigen Mädchen zur unabhängigen Frau nach. Weil der Roman im Fitnessstudio beginnt, dem Epizentrum der normschönen Selbstoptimierung, meint man, eine Raupe-Schmetterling-Metamorphose erleben zu dürfen. Dem ist nicht so. Während Schmetterlinge friedlich durch die Gegend fliegen, ist sie konstant damit beschäftigt, mit abgestorbenen Teilen ihres bleiernen Kokons Menschen zu verletzen. All ihre Beziehungen sind von einem ungewöhnlichen Nähe-Distanz-Verhältnis geprägt, von Abhängigkeit, Macht und Missbrauch. Von Bedürftigkeit und Abgrenzung und extremen Gefühlen. Ihre Freundin Susie schreibt: „Sobald man sie einmal kennengelernt hat, ist es schwer, in die Zeit davor zurückzufinden.“ So nimmt der Lesende die eigene Beziehung zur Hauptfigur auch wahr, und es fällt schwer, den Roman wegzulegen. Zu unberechenbar ist die Handlung, zu unorthodox der Charakter der abwesenden Protagonistin.
Mit der Erzählung einer Frau, die auf zerstörerische Weise versucht, ihren Lebensweg zu finden, verhandelt Anna Metcalfe die Rolle der Frau und das Verständnis von Liebe und Abhängigkeit neu. Damit hält sie vor allem den Menschen einen Spiegel vor, deren Prioritätensetzung sich ausnahmslos an den eigenen Bedürfnissen orientiert. Social Media spielt am Ende dann auch noch eine Rolle – wie könnte es auch nicht? –, und keine besonders gute.
„Chrysalis“ ist ein Roman der schönen Worte, der großen Emotionen und auch der Ratlosigkeit. Es ist leicht, gar unvermeidbar, die Gefühlswelt der Protagonisten und Protagonistinnen ebenfalls zu durchleben. Und auch wenn man es bis dato nicht wusste: wenn sie vom Kummerkoma oder von Wutwellen spricht, dann spürt man ganz genau, was sie damit meint. Gleichzeitig steht zwischen den Zeilen mindestens ein weiteres Buch und deshalb liest sich „Chrysalis“ nicht nur wie die Geschichte einer suchenden Frau, sondern auch wie eine teils bittere Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen. Das Ende bleibt offen. Das kann kaum anders sein, denn es ist gerade die Ungreifbarkeit des ambivalenten Charakters im leeren Zentrum des Romans, die ihn so lesenswert macht.
CHRISTINA LOPINSKI
Anna Metcalfe: Chrysalis. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 272 Seiten, 24 Euro.
Mehrere Schmetterlinge befinden sich in ihrer Chrysalis, also dem Übergangsstadium von Insektenlarve zu Vollinsekt. Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich auch der Debütroman von Anna Metcalfe – nur dass es nicht um Schmetterlinge geht.
Foto: Oli Scarff / Getty
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