Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2000Churchill, wie Churchill ihn sah
Der Staatsmann als Held und Symbol für das 20. Jahrhundert
Christian Graf von Krockow: Churchill. Eine Biographie des 20. Jahrhunderts. Hoffmann und Campe, 1999. 384 Seiten, Abbildungen, 44,90 Mark.
Das 20. Jahrhundert endete 1965, folgt man Christian Graf von Krokow. In jenem Jahr starb Winston Churchill in London. "Eine Biographie des 20. Jahrhunderts" ging zu Ende, wie es im Untertitel des Buchs über den britischen Staatsmann heißt, das Krokow vorgelegt hat. Der langjährige Minister und Premierminister wurde 1874 geboren. Krokow schneidet das ganze folgende Jahrhundert auf diesen Staatsmann zu, weil seiner Ansicht nach in der Biographie Churchills die politische Grundstruktur des Jahrhunderts zum Ausdruck kommt: das Ringen zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Parlamentarismus und Rätesystem, zwischen freier Marktwirtschaft und kontrollierter Planwirtschaft, zwischen Ideenvielfalt und Ideologie.
"Die Alternative zum Kommunismus war nicht der Faschismus (oder umgekehrt), sondern den wirklichen Gegenpol zu beiden Bewegungen bildeten die liberalen westlichen Demokratien, in erster Linie Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika. Und der exemplarische Gegenspieler Hitlers war nicht Stalin, sondern Winston Churchill." Den schildert Krokow als einen Liberalen, der an den "Zivilisationsauftrag" Großbritanniens glaubte; als einen "geborenen Krieger", der den Krieg als der Politik untergeordnetes, probates Mittel betrachtete; als einen Mann, der tief in der Geschichte der Aufklärung verwurzelt war; als einen Konservativen, der Ideologien verachtete; als einen Parlamentarier, der mit dem Parlament so verbunden war, dass er mehrmals die Erhebung zum Herzog ablehnte und noch in hohem Alter seine Wähler im Unterhaus vertrat.
Churchill, der die Geschicke Europas zwar nicht über Jahrzehnte, aber doch spätestens von 1940 an maßgeblich beeinflusste, vergleicht Krokow mit Metternich und Bismarck: Metternich gründete das moderne System der europäischen Staaten. Bismarck schuf den deutschen Nationalstaat in einem den Kräften nach ausgewogenen Europa. Churchill formte aus der parlamentarischen Demokratie Englands ein Leitbild der europäischen Politik. Den dreien ist Krokow zufolge gemeinsam, dass sie rational und pragmatisch handelten, sich nicht von ideologischen Vorgaben beeindrucken ließen und auf Ausgleich statt auf Konfrontation setzten.
War Churchill tatsächlich dieser "exemplarische Gegenspieler der Gewaltherrschaft"? Krokows These klingt schön, steht aber auf tönernen Füßen. Denn er hat für seine Analyse vor allem Quellen herangezogen, die von Churchill selbst stammen, seine Memoiren, Reden, historischen Analysen und Schriftwechsel. Damit übernimmt Krokow den Blickwinkel Churchills, ohne dessen Erklärungen der Geschichte durch andere Positionen zu bestätigen oder zu widerlegen.
Churchills Entscheidungen als Marineminister werden der Aufrüstung der deutschen kaiserlichen Flotte gegenübergestellt, seine Initiativen in der Sozialpolitik dem deutschen Sozialstaat in der Weimarer Republik, der Kriegs-Premierminister dem Diktator Adolf Hitler. Was die Briten über den Politiker Churchill dachten, scheint nur am Rande zu interessieren. Das verstellt den Blick auf einige wichtige Ereignisse in Churchills politischem Leben. Krokow lobt den Ausgleich zwischen dem Empire und den Buren nach dem Burenkrieg, den Churchill beförderte, lässt aber die Toten der britischen Internierungslager in Südafrika unerwähnt. Er schreibt über den gelungenen Rückzug aus den Kolonien, der nicht zu jahrelangen Kämpfen wie in Französisch-Indochina oder im portugiesischen Angola geführt habe, übergeht aber den Völkermord im zwischen Indien und Pakistan geteilten Pandschab, der, durch den schnellen Abzug der Briten ausgelöst, mehrere hunderttausend Menschen das Leben kostete.
Auch innenpolitisch war Churchill umstrittener, als Krokow beschreibt. In den Jahren 1940 und 1941, als England der deutschen Militärmacht fast alleine gegenüberstand, führten Mitglieder der Torys einen "Guerrillakrieg" gegen Churchill, wie Andrew Roberts in seiner Churchill-Biographie gerade ausführlich dargelegt hat. Die Rettung des britischen Expeditionsheeres aus Dünkirchen, die Churchill und nun auch Krokow als Wunder feiern, betrachteten diese Anhänger Chamberlains eher skeptisch. Der große Gegenspieler Hitlers, wie Krokow ihn beschreibt, gewann erst 1941 die Oberhand in seiner eigenen Partei, deren Misstrauen einen Höhepunkt erreicht hatte, als Churchill durch geschickte Kabinettsumbildungen die Vertreter der Appeasementpolitik aus der Regierung verdrängt hatte. Alleine der Bombenkrieg gegen Deutschland findet Krokows Missbilligung.
Krokow weist Churchill die Rolle des Pragmatikers zu, für den alle "modernen Heils- und Erlösungslehren" gefährlich sind. Dabei stellt er die Ideen der Französischen Revolution, den Nationalsozialismus und den Kommunismus auf eine Stufe. "Jeder Versuch, aus den Trümmern des Bestehenden eine andere Welt, den neuen Menschen zu erschaffen, entfesselt die Gewalt zur Raserei, die in die Vernichtung mündet und nichts außerdem." Eine direkte Linie, wie sie Krokow von einer Gewaltherrschaft der Geschichte zur nächsten schlägt, gibt es nicht. Die Ursachen der nationalsozialistischen Diktatur liegen nicht in der Französischen Revolution, sondern in der jüngeren deutschen Nationalgeschichte, und auch Nationalsozialismus und Kommunismus gleichzusetzen vereinfacht in einer Art, die in den historischen Wissenschaften überwunden zu sein schien.
Krokow hat über Churchill einen unterhaltsamen und detaillierten, in der Analyse aber oft oberflächlichen Essay geschrieben. Für ihn steht Churchill für Parlamentarismus und Konservativismus und erwehrt sich jeder Ideologie. Der genauen Analyse enthoben, wird der Staatsmann für Krokow zum Helden und Symbol für das 20. Jahrhundert.
KARSTEN POLKE-MAJEWSKI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Staatsmann als Held und Symbol für das 20. Jahrhundert
Christian Graf von Krockow: Churchill. Eine Biographie des 20. Jahrhunderts. Hoffmann und Campe, 1999. 384 Seiten, Abbildungen, 44,90 Mark.
Das 20. Jahrhundert endete 1965, folgt man Christian Graf von Krokow. In jenem Jahr starb Winston Churchill in London. "Eine Biographie des 20. Jahrhunderts" ging zu Ende, wie es im Untertitel des Buchs über den britischen Staatsmann heißt, das Krokow vorgelegt hat. Der langjährige Minister und Premierminister wurde 1874 geboren. Krokow schneidet das ganze folgende Jahrhundert auf diesen Staatsmann zu, weil seiner Ansicht nach in der Biographie Churchills die politische Grundstruktur des Jahrhunderts zum Ausdruck kommt: das Ringen zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Parlamentarismus und Rätesystem, zwischen freier Marktwirtschaft und kontrollierter Planwirtschaft, zwischen Ideenvielfalt und Ideologie.
"Die Alternative zum Kommunismus war nicht der Faschismus (oder umgekehrt), sondern den wirklichen Gegenpol zu beiden Bewegungen bildeten die liberalen westlichen Demokratien, in erster Linie Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika. Und der exemplarische Gegenspieler Hitlers war nicht Stalin, sondern Winston Churchill." Den schildert Krokow als einen Liberalen, der an den "Zivilisationsauftrag" Großbritanniens glaubte; als einen "geborenen Krieger", der den Krieg als der Politik untergeordnetes, probates Mittel betrachtete; als einen Mann, der tief in der Geschichte der Aufklärung verwurzelt war; als einen Konservativen, der Ideologien verachtete; als einen Parlamentarier, der mit dem Parlament so verbunden war, dass er mehrmals die Erhebung zum Herzog ablehnte und noch in hohem Alter seine Wähler im Unterhaus vertrat.
Churchill, der die Geschicke Europas zwar nicht über Jahrzehnte, aber doch spätestens von 1940 an maßgeblich beeinflusste, vergleicht Krokow mit Metternich und Bismarck: Metternich gründete das moderne System der europäischen Staaten. Bismarck schuf den deutschen Nationalstaat in einem den Kräften nach ausgewogenen Europa. Churchill formte aus der parlamentarischen Demokratie Englands ein Leitbild der europäischen Politik. Den dreien ist Krokow zufolge gemeinsam, dass sie rational und pragmatisch handelten, sich nicht von ideologischen Vorgaben beeindrucken ließen und auf Ausgleich statt auf Konfrontation setzten.
War Churchill tatsächlich dieser "exemplarische Gegenspieler der Gewaltherrschaft"? Krokows These klingt schön, steht aber auf tönernen Füßen. Denn er hat für seine Analyse vor allem Quellen herangezogen, die von Churchill selbst stammen, seine Memoiren, Reden, historischen Analysen und Schriftwechsel. Damit übernimmt Krokow den Blickwinkel Churchills, ohne dessen Erklärungen der Geschichte durch andere Positionen zu bestätigen oder zu widerlegen.
Churchills Entscheidungen als Marineminister werden der Aufrüstung der deutschen kaiserlichen Flotte gegenübergestellt, seine Initiativen in der Sozialpolitik dem deutschen Sozialstaat in der Weimarer Republik, der Kriegs-Premierminister dem Diktator Adolf Hitler. Was die Briten über den Politiker Churchill dachten, scheint nur am Rande zu interessieren. Das verstellt den Blick auf einige wichtige Ereignisse in Churchills politischem Leben. Krokow lobt den Ausgleich zwischen dem Empire und den Buren nach dem Burenkrieg, den Churchill beförderte, lässt aber die Toten der britischen Internierungslager in Südafrika unerwähnt. Er schreibt über den gelungenen Rückzug aus den Kolonien, der nicht zu jahrelangen Kämpfen wie in Französisch-Indochina oder im portugiesischen Angola geführt habe, übergeht aber den Völkermord im zwischen Indien und Pakistan geteilten Pandschab, der, durch den schnellen Abzug der Briten ausgelöst, mehrere hunderttausend Menschen das Leben kostete.
Auch innenpolitisch war Churchill umstrittener, als Krokow beschreibt. In den Jahren 1940 und 1941, als England der deutschen Militärmacht fast alleine gegenüberstand, führten Mitglieder der Torys einen "Guerrillakrieg" gegen Churchill, wie Andrew Roberts in seiner Churchill-Biographie gerade ausführlich dargelegt hat. Die Rettung des britischen Expeditionsheeres aus Dünkirchen, die Churchill und nun auch Krokow als Wunder feiern, betrachteten diese Anhänger Chamberlains eher skeptisch. Der große Gegenspieler Hitlers, wie Krokow ihn beschreibt, gewann erst 1941 die Oberhand in seiner eigenen Partei, deren Misstrauen einen Höhepunkt erreicht hatte, als Churchill durch geschickte Kabinettsumbildungen die Vertreter der Appeasementpolitik aus der Regierung verdrängt hatte. Alleine der Bombenkrieg gegen Deutschland findet Krokows Missbilligung.
Krokow weist Churchill die Rolle des Pragmatikers zu, für den alle "modernen Heils- und Erlösungslehren" gefährlich sind. Dabei stellt er die Ideen der Französischen Revolution, den Nationalsozialismus und den Kommunismus auf eine Stufe. "Jeder Versuch, aus den Trümmern des Bestehenden eine andere Welt, den neuen Menschen zu erschaffen, entfesselt die Gewalt zur Raserei, die in die Vernichtung mündet und nichts außerdem." Eine direkte Linie, wie sie Krokow von einer Gewaltherrschaft der Geschichte zur nächsten schlägt, gibt es nicht. Die Ursachen der nationalsozialistischen Diktatur liegen nicht in der Französischen Revolution, sondern in der jüngeren deutschen Nationalgeschichte, und auch Nationalsozialismus und Kommunismus gleichzusetzen vereinfacht in einer Art, die in den historischen Wissenschaften überwunden zu sein schien.
Krokow hat über Churchill einen unterhaltsamen und detaillierten, in der Analyse aber oft oberflächlichen Essay geschrieben. Für ihn steht Churchill für Parlamentarismus und Konservativismus und erwehrt sich jeder Ideologie. Der genauen Analyse enthoben, wird der Staatsmann für Krokow zum Helden und Symbol für das 20. Jahrhundert.
KARSTEN POLKE-MAJEWSKI
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main