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Buenos Aires, Anfang 1982: Dicke Mauern umgeben das streng traditionelle Elitegymnasium Colegio Nacional, in dem die junge María Teresa ihre Stelle als Aufseherin angetreten hat. Außerhalb der Mauern herrschen die Militärs, der Falkland-Krieg ist in vollem Gange. Drinnen soll María Teresa die strikte Einhaltung der Disziplin überwachen. Sie ist nur ein kleines Glied in der Kette, aber sie will es gut, ja peinlich genau machen. Schließlich ist Ordnung der sicherste Halt in einem Leben, in dem die Mutter in der Küche Kriegsnachrichten hört und der Bruder verstörend rätselhafte Postkarten aus der…mehr

Produktbeschreibung
Buenos Aires, Anfang 1982: Dicke Mauern umgeben das streng traditionelle Elitegymnasium Colegio Nacional, in dem die junge María Teresa ihre Stelle als Aufseherin angetreten hat. Außerhalb der Mauern herrschen die Militärs, der Falkland-Krieg ist in vollem Gange. Drinnen soll María Teresa die strikte Einhaltung der Disziplin überwachen. Sie ist nur ein kleines Glied in der Kette, aber sie will es gut, ja peinlich genau machen. Schließlich ist Ordnung der sicherste Halt in einem Leben, in dem die Mutter in der Küche Kriegsnachrichten hört und der Bruder verstörend rätselhafte Postkarten aus der Etappe schickt. Eines Tages geht sie in ihrem Überwachungseifer so weit, daß sie sich in der Jungentoilette einschließt, um einen Schüler in flagranti zu ertappen, den sie im Verdacht hat, heimlich zu rauchen. Mit ebendiesem Schritt gelangt ihre Moral in eine eigentümliche, beunruhigende Schieflage.
Darf die Darstellung des Schrecklichen ins Komische kippen? Soll man sich in eine Mitläuferin einfühlen? Martín Kohan ist ein blitzwacher Beobachter und ein kompositorischer Meister des Nebeneinanders von Banalem, Bösem und Groteskem.
Autorenporträt
Martín Kohan wurde 1967 in Buenos Aires geboren und lebt dort bis heute. Er hat fünf Romane, zwei Bände mit Erzählungen und zwei große Essays (einen über Eva Perón und einen über Walter Benjamin) veröffentlicht. Mehrmals im Monat fliegt er von Buenos Aires in den Süden, wo er an der Universität von Patagonien ebenso wie in der Hauptstadt literarische Theorie lehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Der Gebrauch des Menschen

Eine kurze, böse Internatsgeschichte: Martín Kohan spiegelt im Seelenleben einer Aufseherin die argentinische Gesellschaft der achtziger Jahre.

Von Paul Ingendaay

Im Colegio Nacional, dem Elitegymnasium von Buenos Aires, das der argentinischen Nation schon seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hochrangige Politiker, Militärs und Figuren des öffentlichen Lebens schenkt - darunter auch den Verfasser dieses Romans -, herrscht eine Ordnung ganz eigener Art. Die Schülerinnen zum Beispiel dürfen ihr Haar nur in Zöpfen oder im Pferdeschwanz tragen, welche mit Hilfe von Haarnadeln und einer blauen Spange zu fixieren sind. Die Jungen wiederum tragen ihr Haar kurz, was bedeutet: "die Ohren frei und im Nacken ein zwei Finger breiter - zwei Finger einer durchschnittlich großen Hand - ausrasierter Streifen zwischen Kragen und Haaransatz. Was die Strümpfe angeht, gilt für alle: blau und aus Nylon." Natürlich muss es Personal geben, das die Einhaltung des Regelwerks sorgfältig überwacht und bei Zuwiderhandlung auf Korrektur besteht. Diese Aufgabe übernehmen die Aufseher.

Der Roman "Sittenlehre" ist aus der Sicht einer Aufseherin geschrieben. Dafür benutzt der 1967 geborene Martin Kohan nicht die Ich-Form, die sich durchaus angeboten hätte, sondern die sogenannte personale Erzählweise. Es ist, als stünde der Erzähler dicht hinter der zwanzigjährigen María Teresa und hätte die Gabe, ihren Gedanken und Empfindungen zu lauschen, ohne den Drang zu verspüren, sie zu beraten oder vor Fehlern zu warnen. Der Reiz dieser Perspektive besteht in den Brüchen, die sich zwischen Wirklichkeit und Figurenwahrnehmung auftun, denn was im Colegio Nacional wirklich der Fall ist, wird dem Leser ziemlich schnell klar: Es ist eine Anstalt, die den Schülern Bildung, Drill und patriotisches Denken einpflanzen soll. Als solche steht die Institution im Dienst der jeweils herrschenden Macht. Und da der Roman 1982 während des Falkland-Kriegs spielt, sind die Echos der Propaganda des argentinischen Militärregimes bis hinter die Schulmauern zu hören und finden in Liedern und patriotischen Übungen ihre Entsprechung.

María Teresa, eine unsichere, wohlmeinende Seele, übt ihren Beruf erst seit kurzem aus und hat wenig vom Leben gesehen. Zu Hause wartet vor dem stummen Bildschirm nur die niedergedrückte Mutter, der sie die einsilbigen Postkarten des Bruders vorlesen muss, der eingezogen wurde und der Falkland-Front immer näherrückt. Wenn sie nicht weiterweiß, greift sie zum Rosenkranz. Mehr ist von der jungen Frau kaum zu vermelden. Ein verhuschtes Leben, das verpasst zu werden droht, eine Existenz, die nach Licht und Orientierung sucht. Kohans große Leistung besteht darin, aus dem fehlgeleiteten Ethos der Aufseherin einen Spiegel der argentinischen Gesellschaft jener Jahre und autoritärer Systeme überhaupt zu machen.

Dass das Politische privat ist und umgekehrt, dafür liefert dieser Roman ein Beispiel, das abwechselnd Lachen und Schaudern auslösen könnte: Um Herrn Biasutto, den schnurrbärtigen Oberaufseher, zu beeindrucken, will María Teresa die Schüler beim heimlichen Rauchen erwischen. Zu diesem Zweck wagt sie sich nicht nur bis in die Knabentoilette vor, sondern geht nach immer mutigeren Erkundungen dazu über, sich während der Unterrichtszeit in einer Toilettenkabine einzuschließen. Bei den Jungen, wohlgemerkt. Sie will auf dem Posten sein, wenn die verbotene Tat verübt wird. Und damit öffnet sich für sie ein neues Universum.

Diese Idee trägt den ganzen Roman. Sie erlaubt es, von glühendem Pflichteifer, unterdrückter Sexualität und dem Reiz des Verbotenen zu erzählen. Weil sie ebenso sensibel wie ahnungslos ist, betritt María Teresa die Welt der Jungen mit gleichsam wissenschaftlicher Neugierde und merkt nicht, wie ihre Unschuld in Voyeurismus umschlägt. Manche Situationen sind peinigend und komisch zugleich, ein Effekt, den Kohan meisterhaft beherrscht. Die Systemfragen kommen bei ihm ebenso zu ihrem Recht wie Ausstattungsdetails. María Teresa interessiert sich also nicht nur für die Toilettengewohnheiten einer ihr unbekannten Spezies, sondern auch für die Kacheln an den Wänden, die Anordnung der Pissoirs und den Mechanismus der Spülung. Wäre der Gegenstand nicht so profan, würde man von Verzauberung sprechen. Wissen wir seit Foucault um die Systematik von Überwachen und Strafen, schildert der Foucault-Leser Martín Kohan die Ängste, Träume und Selbstrechtfertigungen einer Frau, die mit bemühter Strenge nach unten und mit Unterwürfigkeit nach oben schaut: ein einsames, hilfloses Hühnchen im Getriebe der Macht.

Kohans Stil ist so ruhig, genau und methodisch wie die gymnasiale Ordnung, die er beschreibt. Manchmal hakt er sich an Regeldetails oder pedantischen Unterscheidungen fest, ein Reflex auf die rührende Sehnsucht der Hauptfigur, in ihrer Arbeitswelt ein System zu erkennen. Die Übersetzung von Peter Kultzen ist fast immer auf der Höhe des Originals, wenn man Fehler wie "unverzichtbar" (statt "unentbehrlich"), "entspannen" (statt "sich entspannen") oder "scheinbar" (statt "anscheinend") beiseitelässt, die das Lektorat für die zweite Auflage korrigieren könnte. Es ist ja nicht leicht, im Deutschen einen genuin literarischen Erzählton zu finden, der dem Register des Autors entspricht, und Hispanismen weiträumig zu umfahren. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Kultzen auch schon mal zwei Adjektive einsetzt, wo im Spanischen nur eines steht, dass er hier und da ein wenig hinzu erfindet oder kürzt. Wahrscheinlich passiert das, wenn man das Spanische mit einer gewissen Ausdrucksfreiheit in idiomatisches Deutsch verwandelt und damit genau das tut, was von einem souveränen Übersetzer gefordert wird.

Um diesen Roman jedenfalls lohnt sich die Arbeit. Kohans Verzicht auf Dramatisierung hat oft explosive dramatische Wirkung, etwa in der atemnehmenden Szene, da der Oberaufseher Biasutto die untergebene Angestellte auf der Knabentoilette vergewaltigt. Kohan konzentriert sich ganz auf María Teresas Verwirrung und bringt uns das Verstörende der Tat fast ohne ein Wort der Empathie zu Bewusstsein. Gerade weil die Aufseherin so autoritätshörig ist, wird sie zum Opfer; gerade weil sie den Übergriff als Teil der Machtbefugnis des Vorgesetzten begreift, kann Biasutto die Tat wiederholen, ohne auf Gegenwehr zu stoßen.

Schon in seinem bemerkenswerten Roman "Zweimal Juni" (deutsch 2009) meidet Martín Kohan Anklageton und Aufarbeitungsgestus, obwohl Themen der jüngeren argentinischen Geschichte wie Repression, Folter und Mord sie nahegelegt hätten. Auch "Sittenlehre" erteilt die Lektion durch die kluge Beschränkung des Blicks: Dort, wo die kleine Ordnungshüterin ihre Arbeit verrichtet, auf den untersten Sprossen der Macht, ist die Schutzlosigkeit am größten, und die naive Mitläuferin läuft Gefahr, von den Kräften, denen sie dient, zermahlen zu werden. Bis das alte Regime zusammenbricht und durch ein neues ersetzt wird. Offen bleibt, wer als nächstes den Aufseher spielen wird. Mit seiner kurzen, bösen Geschichte hat Martín Kohan ein grandioses Buch über den Gebrauch des Menschen geschrieben.

Martín Kohan: "Sittenlehre". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 248 S., geb., 19,90 [Euro].

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