Quentin Tarantino gehört nicht nur zu den berühmtesten Filmemachern der Gegenwart, sondern ist wohl auch der mitreißendste Filmliebhaber der Welt. Jahrelang hat er in Interviews davon gesprochen, dass er eines Tages Bücher über Filme schreiben wird. Jetzt, mit CINEMA SPECULATION, ist es soweit, und das Ergebnis ist alles, was sich seine Fans und alle Filmliebhaber erhofft haben.
Dieses Buch, das sich um die wichtigsten amerikanischen Filme der 1970er Jahre dreht, die er alle zum ersten Mal als junger Kinobesucher gesehen hat, ist durchwoben von überraschenden Erzählungen aus erster Hand über Tarantinos Leben als junger Mann in L.A - ein Blick auf das Hollywood der Siebziger, so nah und doch so fern. Dies sind die ersten Jahre der berühmten Tarantino-Ursprungsgeschichte, die uns der Mann selbst erzählt. Es ist zugleich Filmkritik, Filmtheorie, ein Meisterwerk der Reportage und eine wunderbare persönliche Geschichte, geschrieben mit der einzigartigen Stimme, die man sofort als die von Quentin Tarantino erkennt.
Dieses Buch, das sich um die wichtigsten amerikanischen Filme der 1970er Jahre dreht, die er alle zum ersten Mal als junger Kinobesucher gesehen hat, ist durchwoben von überraschenden Erzählungen aus erster Hand über Tarantinos Leben als junger Mann in L.A - ein Blick auf das Hollywood der Siebziger, so nah und doch so fern. Dies sind die ersten Jahre der berühmten Tarantino-Ursprungsgeschichte, die uns der Mann selbst erzählt. Es ist zugleich Filmkritik, Filmtheorie, ein Meisterwerk der Reportage und eine wunderbare persönliche Geschichte, geschrieben mit der einzigartigen Stimme, die man sofort als die von Quentin Tarantino erkennt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent und Filmkritiker Bert Rebhandl schüttelt fasziniert den Kopf bei der Lektüre von Quentin Tarantinos Buch über die Filmgeschichte, das für ihn mehr ein "Traumprotokoll" ist. Denn einerseits spreche ein ungeheures Wissen aus Tarantinos "atemloser" Nacherzählung seiner ersten prägenden Kinoerfahrungen: mit zehn Jahren ging er mit seiner Mutter und deren Begleitung oft in wenig altersangemessene Filme des später so genannten "New Hollywood" der siebziger Jahre, liest Rebhandl; und diese Filme liefern dem Starregisseur allerlei Stoff für vergleichende Analysen vor allem gewalttätiger Szenen, so Rebhandl. Das Ergebnis findet er oft "idiosynkratisch" und "luzide"; auch sehr "libidinös". Andererseits muss er auch eine "geniale Einseitigkeit" konstatieren: ziemliche Männerfilme, mit denen der Starregisseur sich da ausschließlich auseinandersetze, und auch ein überraschend "identifikatorischer", also heldenorientierter Ansatz, den er vertrete, überlegt der Kritiker. Übersetzt sei das alles "tapfer", aber nicht immer gelungen von Stephan Kleiner. Am Ende ergibt sich der Eindruck eines rasanten, wissensreichen, sehr tarantinoesken, im Grunde aber "populären Kurses für Filmanalysen" beim Rezensenten, der nicht abgeneigt wirkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2022„Ich war ein junger Klugscheißer“
Quentin Tarantino hat ein Buch über seine Kindheit geschrieben,
über nächtliche Ausflüge mit seiner Mutter – und warum „Bambi“ ihn traumatisiert hat, erklärt er auch
VON DAVID STEINITZ
Der kleine Quentin Tarantino muss ein ziemlich frühreifes Früchtchen gewesen sein. Schuld war natürlich das Kino – was sonst. Weil seine Mutter und sein Stiefvater ihn abends oft mit ins Kino nahmen, während seine Altersgenossen schon im Bett lagen, tauchte er schon früh in eine geheimnisvolle Erwachsenenwelt ein, die den anderen Kindern noch lange verborgen bleiben sollte: „Manche Eltern wollten wegen der heftigen Filme, die ich schaute und von denen ich erzählte, nicht einmal mehr, dass ich in der Schule mit ihren Kindern spielte.“
So beschreibt es der heute 59-jährige Tarantino in seinem Buch „Cinema Speculation“. Ein Werk, das vom Verlag als „Memoir“ angepriesen wird und tatsächlich Spuren einer Autobiografie trägt. Es ist aber vor allem das nerdigste Filmnerdbuch, das seit langer Zeit geschrieben wurde.
Tarantino selbst nennt es in einem Vorwort etwas nüchterner sein erstes „erzählendes Sachbuch“. Vergangenes Jahr hatte er mit der Buchversion seines besten Films „Once Upon A Time in Hollywood“ sein Romandebüt gegeben. Dieses Jahr taucht er tief ein in seine Filmsozialisation und das amerikanische Kino der Sechziger- und Siebzigerjahre.
Der Regisseur Quentin Tarantino hat zwar einst in „Pulp Fiction“ radikal die lineare Erzählweise gesprengt, der Schriftsteller Quentin Tarantino ist konservativer. Das Vorwort trägt den Titel „Hey, Quentin, wie geht man am besten an dieses Buch heran?“, und der Autor bittet den Leser „inständig“, nicht zwischen den Kapiteln zu springen: „Wenn Sie es genießen wollen, werden Sie mehr Freude daran haben, es in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Die Kapitel und ihre Reihenfolge haben eine gewisse narrative Struktur.“
Das Buch beginnt also mit dem Grundschüler Quentin, der von seiner Mutter Connie und seinem Stiefvater Curt oft mitgenommen wurde, wenn sie ausgingen. In Restaurants, Bars, auch mal in Nachtclubs, vor allem aber: ins Kino. Der Deal war einfach. Er durfte mit, solange er den Erwachsenen nicht auf die Nerven ging. In seinen Worten: „Wollte ich bei der Erwachsenenzeit dabei sein, sah ich besser zu, dass mein kleiner Arsch verdammt cool blieb.“
Nachdem die Mutter sich vom Stiefvater trennte, zog sie mit ihrem Sohn zu zwei Freundinnen, was eine lustige Zeit gewesen sein muss: „Eine Weiße, eine Schwarze, eine Mexikanerin, die sich eine Wohnung mit dem zehnjährigen Sohn der Weißen teilten: Wir waren quasi eine Sitcom.“ Als Konstante blieb das Kino, in das ihn die Mutter, die neuen Freunde der Mutter, die Freundinnen der Mutter und die Freunde der Freundinnen der Mutter mitnahmen. Diese Erlebnisse machten Tarantino zu einem exquisiten Kenner der gegenkulturellen Filme der späten Sechzigerjahre, des daraus entstandenen New Hollywood, des Blaxploitation-Kinos und des Kung-Fu-Genres.
Aus diesen Erfahrungen entsteht in „Cinema Speculation“ zunächst einmal ganz plastisch eine Kinolandkarte des Großraums Los Angeles in den Sechziger- und Siebzigerjahren, eine Ode an die Spielstätten. Doppelvorstellungen im Tiffany. Blaxploitation im Carson Twin Cinema, in dem außer ihm nur Schwarze saßen, die ihn neugierig beäugten. Besuche im Pacific Cinerama Dome an der Ecke Sunset Boulevard und Vine Street. Und natürlich die großen Lichtspielhäuser der alten Studioära am Hollywood Boulevard: Grauman’s Chinese Theatre, das Egyptian, das Paramount …
Obwohl Tarantino in jenen Jahren Hunderte Filme sah, die er laut der offiziellen Altersfreigabe erst viel später hätte sehen dürfen, war das traumatischste Erlebnis „Bambi“. „Wie Bambi von seiner Mutter getrennt wird, wie sie von dem Jäger erschossen wird, und dann dieser entsetzliche Waldbrand“, schreibt er „das alles regte mich mehr auf als irgendein anderer Kinofilm.“
Es folgen kapitellange Analysen von den prägenden Filmen seines Lebens, eine Mischung aus retrospektiver Rezension, Filmtheorie und auch Reportage, denn Tarantino hat mit einigen der noch lebenden Protagonisten gesprochen. Er kann wie das staunende Kind, das er einst war, über „Bullitt“ mit Steve McQueen philosophieren, „Dirty Harry“ mit Clint Eastwood und „Deliverance“ mit Burt Reynolds. Uber all die Filme also (und auch Filmkritiken und Filmgespräche), die einen Einfluss auf sein eigenes Werk haben sollten.
Er rekonstruiert die Entstehungsgeschichte und Nachwirkung von „Taxi Driver“ und schafft es selbst bei wirklich überkanonisierten Filmklassikern wie diesem, noch mal eine neue Lust auf den Film zu wecken. Und ja, natürlich ist es dabei von Vorteil, wenn man Quentin Tarantino ist und bei eventuellen Detailfragen einfach noch mal direkt bei Robert De Niro anrufen kann. Weil das Buch aber keine reine Filmgeschichte sein soll, sondern eben „Cinema Speculation“ heißt, erläutert er im gleichnamigen Kapitel – und jetzt wird es wirklich richtig nerdig – wie „Taxi Driver“ aussehen würde, wenn nicht Martin Scorsese, sondern Brian De Palma Regie geführt hätte. Der hatte das Skript von Paul Schrader nämlich als Erster in den Händen, und Tarantino scheut sich nicht, das komplette Projekt von der Besetzung bis zur Nachwirkung unter dieser Prämisse noch mal hypothetisch durchzuspielen.
Diese Filmanalysen nehmen den Großteil des Buchs ein, womit Tarantino – 59 ist ja kein Alter – durchaus noch Spielraum lässt für eine richtige Autobiografie. Zumindest würde man manches, das hier nur als Randnotiz angeschnitten wird, bei Gelegenheit gerne noch mal ausführlicher lesen. Hinter einzelnen Sätzen wie „In der Zwischenzeit hatte ich die traumatische Erfahrung gemacht, nach Tennessee in die Obhut alkoholabhängiger Hinterwäldler geschickt zu werden“, scheinen sich auf jeden Fall noch große persönliche Erzählungen zu verstecken. Aber in „Cinema Speculation“ lässt Tarantino solche biografischen Donnerschläge einfach mal stehen, ohne sie weiter auszuführen.
Das persönlichste Kapitel ist das letzte und trägt den Titel „Floyd-Fußnote“. Es handelt von Tarantinos Teenagerjahren – „ich war einfach ein junger Klugscheißer, der sich für einen harten Kerl hielt“ – und seiner Freundschaft zu einem Mann namens Floyd Ray Wilson. Tarantino war damals fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und Floyd, ein Ex-Freund der besten Freundin seiner Mutter, bereits 37. Beide verband eine fanatische Liebe zum Kino, und der schwarze Floyd fand es wohl witzig, dass ausgerechnet ein kleiner weißer Junge sein bester Gesprächspartner zum Thema Blaxploitation wurde. Floyd war in den Fünfzigerjahren in Catahoula, Louisiana, aufgewachsen, als in den Kinos noch Rassentrennung herrschte und die Schwarzen oben in der Loge sitzen mussten. Wobei, was heißt mussten: Laut Tarantino machte Floyd sich immer darüber lustig, dass die dummen Weißen ihnen die besten Plätze zugewiesen hatten.
Dieser Floyd jedenfalls, der bei den Erwachsenen eher als Rumtreiber und Taugenichts galt und irgendwann spurlos verschwand, wurde für Tarantino zur prägenden Figur. Denn Floyd hatte einen faszinierenden Berufswunsch: Er wollte Drehbuchautor werden. Er hatte bereits zwei Drehbücher mit den Titeln „The Mysterious Mr. Black“ und „Billy Spencer“ geschrieben. Das beeindruckte Tarantino so sehr, dass er selbst begann, Drehbücher zu schreiben.
Beide Skripte wurden nie verfilmt, und Tarantino bezweifelt, dass sie überhaupt jemals jemand aus der Filmbranche zu Gesicht bekam. Aber besonders „Billy Spencer“ brannte sich ihm ein: „Okay, nicht eine einzige Szene, Situation, Idee oder Einstellung aus diesem Drehbuch taucht in meinem Skript zu ‚Django Unchained‘ auf. Und trotzdem: Die Essenz von dem, was Floyd in diesem Drehbuch zu bewerkstelligen versuchte – einen epischen Western mit einem heldenhaften schwarzen Cowboy als Hauptfigur –, steht im Zentrum von dem, was ich mit ‚Django Unchained‘ zu bewerkstelligen versuchte.“ Dass Quentin Tarantino für diesen Film den Oscar fürs beste Originaldrehbuch bekam, hätte Floyd vermutlich sehr gut gefallen.
Über die „traumatische
Erfahrung“ in Tennessee
würde man gerne mehr erfahren
Als Teenager war er mit Floyd
befreundet, einem Mann, der
Drehbücher schreiben wollte
„Manche Eltern wollten wegen der heftigen Filme, die ich schaute, nicht einmal mehr, dass ich in der Schule mit ihren Kindern spielte“, berichtet Quentin Tarantino in „Cinema Speculation“.
Foto: Julian Ungano
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Quentin Tarantino hat ein Buch über seine Kindheit geschrieben,
über nächtliche Ausflüge mit seiner Mutter – und warum „Bambi“ ihn traumatisiert hat, erklärt er auch
VON DAVID STEINITZ
Der kleine Quentin Tarantino muss ein ziemlich frühreifes Früchtchen gewesen sein. Schuld war natürlich das Kino – was sonst. Weil seine Mutter und sein Stiefvater ihn abends oft mit ins Kino nahmen, während seine Altersgenossen schon im Bett lagen, tauchte er schon früh in eine geheimnisvolle Erwachsenenwelt ein, die den anderen Kindern noch lange verborgen bleiben sollte: „Manche Eltern wollten wegen der heftigen Filme, die ich schaute und von denen ich erzählte, nicht einmal mehr, dass ich in der Schule mit ihren Kindern spielte.“
So beschreibt es der heute 59-jährige Tarantino in seinem Buch „Cinema Speculation“. Ein Werk, das vom Verlag als „Memoir“ angepriesen wird und tatsächlich Spuren einer Autobiografie trägt. Es ist aber vor allem das nerdigste Filmnerdbuch, das seit langer Zeit geschrieben wurde.
Tarantino selbst nennt es in einem Vorwort etwas nüchterner sein erstes „erzählendes Sachbuch“. Vergangenes Jahr hatte er mit der Buchversion seines besten Films „Once Upon A Time in Hollywood“ sein Romandebüt gegeben. Dieses Jahr taucht er tief ein in seine Filmsozialisation und das amerikanische Kino der Sechziger- und Siebzigerjahre.
Der Regisseur Quentin Tarantino hat zwar einst in „Pulp Fiction“ radikal die lineare Erzählweise gesprengt, der Schriftsteller Quentin Tarantino ist konservativer. Das Vorwort trägt den Titel „Hey, Quentin, wie geht man am besten an dieses Buch heran?“, und der Autor bittet den Leser „inständig“, nicht zwischen den Kapiteln zu springen: „Wenn Sie es genießen wollen, werden Sie mehr Freude daran haben, es in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Die Kapitel und ihre Reihenfolge haben eine gewisse narrative Struktur.“
Das Buch beginnt also mit dem Grundschüler Quentin, der von seiner Mutter Connie und seinem Stiefvater Curt oft mitgenommen wurde, wenn sie ausgingen. In Restaurants, Bars, auch mal in Nachtclubs, vor allem aber: ins Kino. Der Deal war einfach. Er durfte mit, solange er den Erwachsenen nicht auf die Nerven ging. In seinen Worten: „Wollte ich bei der Erwachsenenzeit dabei sein, sah ich besser zu, dass mein kleiner Arsch verdammt cool blieb.“
Nachdem die Mutter sich vom Stiefvater trennte, zog sie mit ihrem Sohn zu zwei Freundinnen, was eine lustige Zeit gewesen sein muss: „Eine Weiße, eine Schwarze, eine Mexikanerin, die sich eine Wohnung mit dem zehnjährigen Sohn der Weißen teilten: Wir waren quasi eine Sitcom.“ Als Konstante blieb das Kino, in das ihn die Mutter, die neuen Freunde der Mutter, die Freundinnen der Mutter und die Freunde der Freundinnen der Mutter mitnahmen. Diese Erlebnisse machten Tarantino zu einem exquisiten Kenner der gegenkulturellen Filme der späten Sechzigerjahre, des daraus entstandenen New Hollywood, des Blaxploitation-Kinos und des Kung-Fu-Genres.
Aus diesen Erfahrungen entsteht in „Cinema Speculation“ zunächst einmal ganz plastisch eine Kinolandkarte des Großraums Los Angeles in den Sechziger- und Siebzigerjahren, eine Ode an die Spielstätten. Doppelvorstellungen im Tiffany. Blaxploitation im Carson Twin Cinema, in dem außer ihm nur Schwarze saßen, die ihn neugierig beäugten. Besuche im Pacific Cinerama Dome an der Ecke Sunset Boulevard und Vine Street. Und natürlich die großen Lichtspielhäuser der alten Studioära am Hollywood Boulevard: Grauman’s Chinese Theatre, das Egyptian, das Paramount …
Obwohl Tarantino in jenen Jahren Hunderte Filme sah, die er laut der offiziellen Altersfreigabe erst viel später hätte sehen dürfen, war das traumatischste Erlebnis „Bambi“. „Wie Bambi von seiner Mutter getrennt wird, wie sie von dem Jäger erschossen wird, und dann dieser entsetzliche Waldbrand“, schreibt er „das alles regte mich mehr auf als irgendein anderer Kinofilm.“
Es folgen kapitellange Analysen von den prägenden Filmen seines Lebens, eine Mischung aus retrospektiver Rezension, Filmtheorie und auch Reportage, denn Tarantino hat mit einigen der noch lebenden Protagonisten gesprochen. Er kann wie das staunende Kind, das er einst war, über „Bullitt“ mit Steve McQueen philosophieren, „Dirty Harry“ mit Clint Eastwood und „Deliverance“ mit Burt Reynolds. Uber all die Filme also (und auch Filmkritiken und Filmgespräche), die einen Einfluss auf sein eigenes Werk haben sollten.
Er rekonstruiert die Entstehungsgeschichte und Nachwirkung von „Taxi Driver“ und schafft es selbst bei wirklich überkanonisierten Filmklassikern wie diesem, noch mal eine neue Lust auf den Film zu wecken. Und ja, natürlich ist es dabei von Vorteil, wenn man Quentin Tarantino ist und bei eventuellen Detailfragen einfach noch mal direkt bei Robert De Niro anrufen kann. Weil das Buch aber keine reine Filmgeschichte sein soll, sondern eben „Cinema Speculation“ heißt, erläutert er im gleichnamigen Kapitel – und jetzt wird es wirklich richtig nerdig – wie „Taxi Driver“ aussehen würde, wenn nicht Martin Scorsese, sondern Brian De Palma Regie geführt hätte. Der hatte das Skript von Paul Schrader nämlich als Erster in den Händen, und Tarantino scheut sich nicht, das komplette Projekt von der Besetzung bis zur Nachwirkung unter dieser Prämisse noch mal hypothetisch durchzuspielen.
Diese Filmanalysen nehmen den Großteil des Buchs ein, womit Tarantino – 59 ist ja kein Alter – durchaus noch Spielraum lässt für eine richtige Autobiografie. Zumindest würde man manches, das hier nur als Randnotiz angeschnitten wird, bei Gelegenheit gerne noch mal ausführlicher lesen. Hinter einzelnen Sätzen wie „In der Zwischenzeit hatte ich die traumatische Erfahrung gemacht, nach Tennessee in die Obhut alkoholabhängiger Hinterwäldler geschickt zu werden“, scheinen sich auf jeden Fall noch große persönliche Erzählungen zu verstecken. Aber in „Cinema Speculation“ lässt Tarantino solche biografischen Donnerschläge einfach mal stehen, ohne sie weiter auszuführen.
Das persönlichste Kapitel ist das letzte und trägt den Titel „Floyd-Fußnote“. Es handelt von Tarantinos Teenagerjahren – „ich war einfach ein junger Klugscheißer, der sich für einen harten Kerl hielt“ – und seiner Freundschaft zu einem Mann namens Floyd Ray Wilson. Tarantino war damals fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und Floyd, ein Ex-Freund der besten Freundin seiner Mutter, bereits 37. Beide verband eine fanatische Liebe zum Kino, und der schwarze Floyd fand es wohl witzig, dass ausgerechnet ein kleiner weißer Junge sein bester Gesprächspartner zum Thema Blaxploitation wurde. Floyd war in den Fünfzigerjahren in Catahoula, Louisiana, aufgewachsen, als in den Kinos noch Rassentrennung herrschte und die Schwarzen oben in der Loge sitzen mussten. Wobei, was heißt mussten: Laut Tarantino machte Floyd sich immer darüber lustig, dass die dummen Weißen ihnen die besten Plätze zugewiesen hatten.
Dieser Floyd jedenfalls, der bei den Erwachsenen eher als Rumtreiber und Taugenichts galt und irgendwann spurlos verschwand, wurde für Tarantino zur prägenden Figur. Denn Floyd hatte einen faszinierenden Berufswunsch: Er wollte Drehbuchautor werden. Er hatte bereits zwei Drehbücher mit den Titeln „The Mysterious Mr. Black“ und „Billy Spencer“ geschrieben. Das beeindruckte Tarantino so sehr, dass er selbst begann, Drehbücher zu schreiben.
Beide Skripte wurden nie verfilmt, und Tarantino bezweifelt, dass sie überhaupt jemals jemand aus der Filmbranche zu Gesicht bekam. Aber besonders „Billy Spencer“ brannte sich ihm ein: „Okay, nicht eine einzige Szene, Situation, Idee oder Einstellung aus diesem Drehbuch taucht in meinem Skript zu ‚Django Unchained‘ auf. Und trotzdem: Die Essenz von dem, was Floyd in diesem Drehbuch zu bewerkstelligen versuchte – einen epischen Western mit einem heldenhaften schwarzen Cowboy als Hauptfigur –, steht im Zentrum von dem, was ich mit ‚Django Unchained‘ zu bewerkstelligen versuchte.“ Dass Quentin Tarantino für diesen Film den Oscar fürs beste Originaldrehbuch bekam, hätte Floyd vermutlich sehr gut gefallen.
Über die „traumatische
Erfahrung“ in Tennessee
würde man gerne mehr erfahren
Als Teenager war er mit Floyd
befreundet, einem Mann, der
Drehbücher schreiben wollte
„Manche Eltern wollten wegen der heftigen Filme, die ich schaute, nicht einmal mehr, dass ich in der Schule mit ihren Kindern spielte“, berichtet Quentin Tarantino in „Cinema Speculation“.
Foto: Julian Ungano
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2022Ohne Identifikation geht gar nichts
Im Bann der brutalsten Männerphantasien: Quentin Tarantino lässt die Filmgeschichte in Form eines atemlosen Traumprotokolls Revue passieren.
Als Quentin Tarantino in den Neunzigerjahren mit "Reservoir Dogs" und "Pulp Fiction" dem amerikanischen Kino seinen Stempel aufdrückte, wurde das allgemein als eine Epochenwende begriffen. Die Filme begannen sich von sich selbst zu ernähren, wichtig war nicht mehr so sehr ein wie auch immer künstlerisch geprägter Wirklichkeitsbezug, sondern dass die Dialogzeilen, Posen und Actionszenen es mit Vorbildern aus früheren Filmen aufnehmen konnten, sich an ihnen maßen, sie ironisch überboten und unterliefen. "Pulp Fiction" gab sich schon mit seinem Titel als programmatisch zu erkennen, und Tarantino verschaffte dem Kino eine neue Identifikationsfigur: Ein "dreister, besserwisserischer Filmnerd" hatte es allen gezeigt.
Damals wurde viel über Tarantinos Bildungsgeschichte in einer Videothek geschrieben. Mit seinem Buch "Cinema Speculation" gibt er sich nun allerdings nicht nur mit Wucht noch einmal als dieser Nerd zu erkennen, er betont auch, dass er im genuinen Sinn ein Kind des Kinos ist - und erst in zweiter Linie der VHS-Kassetten-Revolution der Achtzigerjahre. Denn sein Talent bildete sich wohl in so etwas wie einer produktiven Überforderung heraus: "Der kleine Q guckt die großen Filme" heißt das erste Kapitel. Es erzählt davon, dass Tarantino um 1970 in Los Angeles mit seiner alleinerziehenden Mutter und deren unterschiedlichen Begleitungen häufig ins Kino ging, in Filme für Erwachsene, bei denen der noch keine zehn Jahre alte Junge bald begriff, dass er keine altklugen Fragen stellen sollte, wollte er sich seinen Zugang zu nicht jugendfreiem Stoff nicht verderben. So sah er weit vor der Pubertät einen Kanon des amerikanischen Kinos, der bald unter der Chiffre eines New Hollywood eingeordnet wurde.
Neu war an diesem Hollywood vieles. Zum Beispiel ein offenerer Umgang mit Sexualität. Wobei "die hintergründigste und verstörendste brutale Sequenz im frühen Kino der Siebziger, die nicht von Sam Peckinpah inszeniert wurde", über diesen offeneren Umgang deutlich hinausging: In "Deliverance" von John Boorman sah Tarantino eine anale Vergewaltigung, in deren retrospektive Beschreibung sich das ganze Filmwissen mischt, das "Cinema Speculation" ausbreitet. Und zwar eben oft mit diesem komparatistischen Gestus, der direkt aus den Double Features zu erwachsen scheint: Tarantino sammelt die brutalsten Szenen von Peckinpah und hält sie gegen die brutalsten Szenen bei Don Siegel, John Flynn oder Martin Scorsese, reflektiert zugleich über den Charakter dieser filmischen Brutalität und über die Häufigkeit der eigenen Verwendung des Adjektivs "brutal". Es wird bei der Beschreibung der vielen "heftigen Filme" nun einmal sehr oft benötigt.
In den Vereinigten Staaten hatte sich in den Jahren, in denen der kleine Quentin ins Kino zu gehen begann, eine filmkritische Spielart entwickelt, die von der französischen Autorentheorie abgeschaut war, und die zum Listenwesen tendierte: Wenn ein Filmemacher einmal als Autor - also als Künstler - anerkannt war, dann musste man ihm einfach folgen, und bei jedem neuen Film überprüfen, ob er seinem Standard noch gerecht wurde. Tarantino schließt mit seiner leidenschaftlichen Filmgeschichte an diese katalogisierende Kanonisierung, die vor allem mit dem Namen Andrew Sarris verbunden ist, implizit an, lässt sie aber zugleich durch immer neue Differenzierungen explodieren. "Ach Quentin, Sie drehen aber auch wirklich jeden Stein um", sagt Walter Hill, selber einer der Regisseure, die ihren Status stark der Autorenkritik verdanken, einmal zu ihm.
In "Cinema Speculation" dreht Tarantino tatsächlich nahezu jeden Stein in einer Reihe von Kultfilmen um, die für ihn das Maß aller Dinge sind. Filme von ausschließlich männlichen Regisseuren, in deren Zentrum eine Konstellation von ein paar Namen steht, mit denen Tarantino dann auch konkret spekuliert. Denn zwischen Brian De Palma, Paul Schrader, Martin Scorsese und John Milius wandern Stoffe und Ideen so hin und her, dass "Taxi Driver" für Tarantino zu einer Art von hypothetischer Größe wird - ein Klassiker des Kinos, den er sich auch in allen denkbaren Varianten vorstellt, mit anderem Regisseur oder anderer Besetzung entscheidender Rollen.
In seinen Analysen spricht dabei immer schon auch der spätere Regisseur, der bei aller Intellektualität des Zugangs doch einen stark identifikatorischen Ansatz vertritt. "Schaut man einen Film, will man den Helden mögen." Für ihn zählt, ob und wie man an einer Figur dranbleibt, wie sehr man ihr vertraut oder sich umgekehrt ausschütten (oder "im Gang wälzen") muss vor Lachen, weil sie so unglaubwürdig oder unbeholfen konzipiert oder gespielt wird. "Cinema Speculation" ist so auch ein zwar idiosynkratischer, im Kern aber populärer Kurs für Filmanalysen, der von seinem ungeheuren Wissen profitiert.
Das Buch ist aber im Kern vor allem ungeheuer libidinös. Selten hat man die Konstellation des Mediums Kino, das ja Leib und Seele in einer kulturhistorisch davor ungekannten Weise beansprucht, so intensiv gespiegelt gesehen wie bei Tarantino. Man ist beinahe versucht, sein gigantisches Gedächtnis und seine unerschöpfliche Assoziationskraft dem überwältigenden Eindruck zuzurechnen, dem er als kleines Kind auch medientechnologisch ausgesetzt wurde. Den atemlosen Duktus seines Erinnerungsstroms hat Stephan Kleiner tapfer in ein Deutsch gebracht, das manchmal Züge latenter Parodie annimmt, wenn das amerikanische Englisch allzu wörtlich genommen wird ("Er wollte verdammt sein, wenn er ,The Getaway' drehte").
Den Höhepunkt erreicht die Kinospekulation in einem Kapitel über John Flynns "Rolling Thunder", den Film, auf den Tarantino die allergrößten Stücke hält. Das Drehbuch stammt von Paul Schrader, eine Szene daraus ließ sich nicht realisieren, dabei hätte sie wohl alles auf den Punkt gebracht, was damals an Männerphantasien im Neuen Hollywood im Umlauf war: Der Held, ein stark beschädigter Vietnam-Veteran, "steigt in seinen großen roten Cadillac und fährt zu einem texanischen Autokino, im dem ,Deep Throat' läuft. Während er sich den Pornofilm mit Linda Lovelace ansieht, schaut er zu dem Mann im Auto neben ihm hinüber, und es ist Travis Bickle!"
Männer allein in ihren Autos, der berüchtigte Pornoklassiker auf der Leinwand und der Held aus "Taxi Driver" im falschen respektive umso richtigeren Film - eine bessere Klitterung für das, was den kleinen Q noch im reiferen Alter umtreibt, ist kaum denkbar. Und so wird man sein Buch am besten nicht so sehr als Filmgeschichte lesen, sondern als eine Art Traumprotokoll, das durch große Luzidität, aber auch durch geniale Einseitigkeit fasziniert. BERT REBHANDL
Quentin Tarantino: "Cinema Speculation".
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2022. 400 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Bann der brutalsten Männerphantasien: Quentin Tarantino lässt die Filmgeschichte in Form eines atemlosen Traumprotokolls Revue passieren.
Als Quentin Tarantino in den Neunzigerjahren mit "Reservoir Dogs" und "Pulp Fiction" dem amerikanischen Kino seinen Stempel aufdrückte, wurde das allgemein als eine Epochenwende begriffen. Die Filme begannen sich von sich selbst zu ernähren, wichtig war nicht mehr so sehr ein wie auch immer künstlerisch geprägter Wirklichkeitsbezug, sondern dass die Dialogzeilen, Posen und Actionszenen es mit Vorbildern aus früheren Filmen aufnehmen konnten, sich an ihnen maßen, sie ironisch überboten und unterliefen. "Pulp Fiction" gab sich schon mit seinem Titel als programmatisch zu erkennen, und Tarantino verschaffte dem Kino eine neue Identifikationsfigur: Ein "dreister, besserwisserischer Filmnerd" hatte es allen gezeigt.
Damals wurde viel über Tarantinos Bildungsgeschichte in einer Videothek geschrieben. Mit seinem Buch "Cinema Speculation" gibt er sich nun allerdings nicht nur mit Wucht noch einmal als dieser Nerd zu erkennen, er betont auch, dass er im genuinen Sinn ein Kind des Kinos ist - und erst in zweiter Linie der VHS-Kassetten-Revolution der Achtzigerjahre. Denn sein Talent bildete sich wohl in so etwas wie einer produktiven Überforderung heraus: "Der kleine Q guckt die großen Filme" heißt das erste Kapitel. Es erzählt davon, dass Tarantino um 1970 in Los Angeles mit seiner alleinerziehenden Mutter und deren unterschiedlichen Begleitungen häufig ins Kino ging, in Filme für Erwachsene, bei denen der noch keine zehn Jahre alte Junge bald begriff, dass er keine altklugen Fragen stellen sollte, wollte er sich seinen Zugang zu nicht jugendfreiem Stoff nicht verderben. So sah er weit vor der Pubertät einen Kanon des amerikanischen Kinos, der bald unter der Chiffre eines New Hollywood eingeordnet wurde.
Neu war an diesem Hollywood vieles. Zum Beispiel ein offenerer Umgang mit Sexualität. Wobei "die hintergründigste und verstörendste brutale Sequenz im frühen Kino der Siebziger, die nicht von Sam Peckinpah inszeniert wurde", über diesen offeneren Umgang deutlich hinausging: In "Deliverance" von John Boorman sah Tarantino eine anale Vergewaltigung, in deren retrospektive Beschreibung sich das ganze Filmwissen mischt, das "Cinema Speculation" ausbreitet. Und zwar eben oft mit diesem komparatistischen Gestus, der direkt aus den Double Features zu erwachsen scheint: Tarantino sammelt die brutalsten Szenen von Peckinpah und hält sie gegen die brutalsten Szenen bei Don Siegel, John Flynn oder Martin Scorsese, reflektiert zugleich über den Charakter dieser filmischen Brutalität und über die Häufigkeit der eigenen Verwendung des Adjektivs "brutal". Es wird bei der Beschreibung der vielen "heftigen Filme" nun einmal sehr oft benötigt.
In den Vereinigten Staaten hatte sich in den Jahren, in denen der kleine Quentin ins Kino zu gehen begann, eine filmkritische Spielart entwickelt, die von der französischen Autorentheorie abgeschaut war, und die zum Listenwesen tendierte: Wenn ein Filmemacher einmal als Autor - also als Künstler - anerkannt war, dann musste man ihm einfach folgen, und bei jedem neuen Film überprüfen, ob er seinem Standard noch gerecht wurde. Tarantino schließt mit seiner leidenschaftlichen Filmgeschichte an diese katalogisierende Kanonisierung, die vor allem mit dem Namen Andrew Sarris verbunden ist, implizit an, lässt sie aber zugleich durch immer neue Differenzierungen explodieren. "Ach Quentin, Sie drehen aber auch wirklich jeden Stein um", sagt Walter Hill, selber einer der Regisseure, die ihren Status stark der Autorenkritik verdanken, einmal zu ihm.
In "Cinema Speculation" dreht Tarantino tatsächlich nahezu jeden Stein in einer Reihe von Kultfilmen um, die für ihn das Maß aller Dinge sind. Filme von ausschließlich männlichen Regisseuren, in deren Zentrum eine Konstellation von ein paar Namen steht, mit denen Tarantino dann auch konkret spekuliert. Denn zwischen Brian De Palma, Paul Schrader, Martin Scorsese und John Milius wandern Stoffe und Ideen so hin und her, dass "Taxi Driver" für Tarantino zu einer Art von hypothetischer Größe wird - ein Klassiker des Kinos, den er sich auch in allen denkbaren Varianten vorstellt, mit anderem Regisseur oder anderer Besetzung entscheidender Rollen.
In seinen Analysen spricht dabei immer schon auch der spätere Regisseur, der bei aller Intellektualität des Zugangs doch einen stark identifikatorischen Ansatz vertritt. "Schaut man einen Film, will man den Helden mögen." Für ihn zählt, ob und wie man an einer Figur dranbleibt, wie sehr man ihr vertraut oder sich umgekehrt ausschütten (oder "im Gang wälzen") muss vor Lachen, weil sie so unglaubwürdig oder unbeholfen konzipiert oder gespielt wird. "Cinema Speculation" ist so auch ein zwar idiosynkratischer, im Kern aber populärer Kurs für Filmanalysen, der von seinem ungeheuren Wissen profitiert.
Das Buch ist aber im Kern vor allem ungeheuer libidinös. Selten hat man die Konstellation des Mediums Kino, das ja Leib und Seele in einer kulturhistorisch davor ungekannten Weise beansprucht, so intensiv gespiegelt gesehen wie bei Tarantino. Man ist beinahe versucht, sein gigantisches Gedächtnis und seine unerschöpfliche Assoziationskraft dem überwältigenden Eindruck zuzurechnen, dem er als kleines Kind auch medientechnologisch ausgesetzt wurde. Den atemlosen Duktus seines Erinnerungsstroms hat Stephan Kleiner tapfer in ein Deutsch gebracht, das manchmal Züge latenter Parodie annimmt, wenn das amerikanische Englisch allzu wörtlich genommen wird ("Er wollte verdammt sein, wenn er ,The Getaway' drehte").
Den Höhepunkt erreicht die Kinospekulation in einem Kapitel über John Flynns "Rolling Thunder", den Film, auf den Tarantino die allergrößten Stücke hält. Das Drehbuch stammt von Paul Schrader, eine Szene daraus ließ sich nicht realisieren, dabei hätte sie wohl alles auf den Punkt gebracht, was damals an Männerphantasien im Neuen Hollywood im Umlauf war: Der Held, ein stark beschädigter Vietnam-Veteran, "steigt in seinen großen roten Cadillac und fährt zu einem texanischen Autokino, im dem ,Deep Throat' läuft. Während er sich den Pornofilm mit Linda Lovelace ansieht, schaut er zu dem Mann im Auto neben ihm hinüber, und es ist Travis Bickle!"
Männer allein in ihren Autos, der berüchtigte Pornoklassiker auf der Leinwand und der Held aus "Taxi Driver" im falschen respektive umso richtigeren Film - eine bessere Klitterung für das, was den kleinen Q noch im reiferen Alter umtreibt, ist kaum denkbar. Und so wird man sein Buch am besten nicht so sehr als Filmgeschichte lesen, sondern als eine Art Traumprotokoll, das durch große Luzidität, aber auch durch geniale Einseitigkeit fasziniert. BERT REBHANDL
Quentin Tarantino: "Cinema Speculation".
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2022. 400 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Tarantinos Film-Analysen sind derart leidenschaftlich, dass man sich fragt, was man falsch gemacht hat, wenn er Filme lobt, die man nicht mag, und sich freut, wenn er Filme in den Himmel hebt, die zu mögen man sich womöglich schämt.« Sassan Niasseri Rolling Stone 20221222