Der Klavierlehrer Gabriele Santoro lebt zurückgezogen im neapolitanischen Viertel Forcella. Eines Morgens schleicht sich ein zehnjähriger Junge in seine Wohnung. Gabriele erkennt ihn: Es ist Ciro, der Sohn eines Nachbarn, eines Camorra-Mitglieds. Eine unbedachte Tat hat den scugnizzu, den Straßenjungen, in Gefahr gebracht und kann seinen Tod bedeuten. Instinktiv willigt der Musiker ein, Ciro zu verstecken. Er ist ein ruhiger, introvertierter Mann, der für die Musik und die Poesie brennt, dem es aber nicht leichtfällt, seine Beziehungen zu pflegen. Im Laufe der erzwungenen Isolation entwickelt er eine väterliche Zuneigung für den Jungen, der inmitten von Gewalt aufgewachsen ist. In einem gefährlichen Spiel fordert Gabriele Ciros Verfolger bis zum bitteren Ende heraus.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Rossmann sieht in diesem Roman ein Gegenstück zu den Aufsehen erregenden Recherchen Roberto Savianos. Während der Journalist die Geschäfte der neapolitanischen Camorra beleuchte, verlege sich der Autor und Theatermacher Roberto Andò in "Ciros Versteck" auf die Reflexion. Der Roman erzählt von einem Musiker, der dem titelgebenden Ciro Zuflucht gewährt: Der Junge fürchtet, an die Camorra ausgeliefert zu werden, seit er die Mutter des Clanchefs überfallen hat. Auch wenn Andò mit recht holzschnittartigen Figuren und beflissenem Bildungseifer ans Werk gehe, wie der Rezensent moniert, kann ihn der Rossman doch packen mit seiner plastischen Darstellung der alltäglichen Gewalt, die die Camorra über die Viertel von Neapel ausübt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2021Ein Klavierlehrer gegen die Camorra
Komplementär zu Roberto Savianos Reportagen: Der Roman "Ciros Versteck" von Roberto Andò
Beim Rasieren rezitiert er Gedichte, ein Ritual, das er sich vor Jahren angewöhnt hat. Die Lyrik ist sein fester Gesprächspartner, neben der Musik natürlich, in die er versinken kann: Gabriele Santoro unterrichtet Klavier am Konservatorium und wohnt im vierten Stock eines Mietshauses mit Aufzug und Pförtnerloge. Seine Konzertkarriere hat er an den Nagel gehängt, und der Kreis der Bekannten, mit denen er sich gelegentlich zum Essen oder Kartenspiel trifft, ist überschaubar. Der stille Held von Roberto Andòs Roman "Ciros Versteck" ist ein "eingefleischter Perfektionist" mit "Neigung zur Einsamkeit", der, schwul und introvertiert, ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben führt.
Doch der Maestro, wie er genannt wird, lebt in Neapel, im berüchtigten Altstadtviertel Forcella, und da kann die chaotische Wirklichkeit ohne anzuklopfen durch die Tür fallen. Ein irritierendes Geräusch aus dem Arbeitszimmer, dann ein Buch, das auf dem Boden liegt, hätten ihn stutzig machen müssen, doch erst am Abend entdeckt er den zehnjährigen Jungen, der, als am Morgen für einen Moment die Wohnungstür offen stand, hereingeschlüpft war: Ciro, der jüngste Sohn der Familie Acerno, die im Dachgeschoss wohnt. Zitternd fleht er um Hilfe, bittet um Obhut. Gabriele Santoro versteckt ihn im Hängeboden.
Was versetzt Ciro in Todesangst? Der Junge schweigt, und als der Klavierlehrer gesprächsfetzenweise und eher zufällig erfahren hat, was geschehen ist, gibt es kein Zurück mehr. Ciro und sein Freund Rosario hatten mit dem Motorroller einem deutschen Touristenpaar aufgelauert, als ihnen eine alte Frau mit prall gefüllter Handtasche über den Weg lief. Beim Versuch, sie der Seniorin zu entreißen, stürzte die "alte Hexe, die die kriminellen Machenschaften von halb Neapel verwaltete". Seitdem liegt sie auf der Intensivstation, und ihr Sohn, der Camorra-Boss Alfonso De Vivo, fordert von Ciros Vater, der für ihn arbeitet, ihm den Bengel zu bringen.
Mit Ciros Verschwinden gerät der Klavierlehrer in Verdacht - und sein Leben aus den Fugen. Ein schmieriger ehemaliger Schüler steht vor der Tür und schnüffelt in der Wohnung herum, zwielichtige Typen beziehen Posten und beschatten ihn. Wieso er so viel Hausmüll habe, wird gefragt, und er erhält eine Einladung, bei der das Gespräch auf den Vorfall kommt. Der Maestro sucht Rat bei seinem Bruder, einem aufstrebenden Staatsanwalt, der ihn kalt abfertigt und ihn warnt, nicht eine Anklage wegen Kindesentführung zu riskieren; er geht zur Polizei und bekommt mit, wie vertraut das Verhältnis von Carabinieri und Camorristi ist. Ciro aus- und damit ans Messer zu liefern kommt für Gabriele Santoro nicht infrage, doch je mehr er unternimmt, um den Jungen zu schützen und zu versorgen, desto enger wird sein Spielraum: Jeder kennt hier jeden, aber wer auf welcher Seite steht, wird nicht durchschaubar. Der Maestro entwickelt - "ich wäre ein guter Bulle geworden" - detektivischen Spürsinn und versucht, den Camorra-Boss zu beseitigen. Nach einer abenteuerlichen Flucht, die, nur so viel sei verraten, über die Grenze nach Frankreich führt, kommt es zu einem überraschenden Showdown.
Roberto Andò, geboren 1959 in Palermo, ist in Italien als Film-, Schauspiel- und Opernregisseur eine feste Größe und seit 2020 Intendant des Teatro Mercadante in Neapel. Wie er in "Ciros Versteck", seinem vierten Roman, die Mafia zum Thema macht, verhält sich zu Roberto Savianos Reportagen geradezu komplementär: Nicht die illegalen Geschäfte und globalen Verflechtungen der Camorra werden beschrieben und aufgedeckt, sondern ihre Macht im Viertel, wo sie Missstände und Armut nutzt, um es mit Gewalt, Schutzgelderpressung und Gefälligkeiten zu kontrollieren. Nicht Dokumentation, sondern Fiktion, nicht Recherche, sondern Reflexion: Andò ist Leonardo Sciascia verpflichtet, der mit "Der Tag der Eule" 1961 den ersten Roman über die Mafia vorlegte - und seinen sizilianischen Landsmann in jungen Jahren zum Schreiben ermutigt hatte. Das Porträt des in die Welt von Musik und Poesie abgetauchten Intellektuellenkünstlers, der für den Jungen Vatergefühle entwickelt, gerät zur tiefenscharfen psychologischen Studie. Dagegen bleibt Ciros Wandlung vom rotzig aggressiven Straßenjungen zum Zuneigung suchenden Schützling äußerlich, und manche Nebenfiguren kommen über Stereotypen nicht hinaus.
Die vielen Verweise - auf die "Antigone" des Sophokles, auf Kipling, Canetti, T. S. Eliot oder Ortese - verraten literarischen Ehrgeiz, und dass siebzehn der achtzehn Kapitel Verse von Konstantinos Kavafis vorangestellt sind, wirkt etwas aufgesetzt. Doch die originelle Handlung entfaltet eine dramatisch erzählte Geschichte, die von einigen Schnitzern, die der neapelbewanderten Übersetzerin Verena von Koskull (F.A.Z. vom 19. Juni) unterlaufen sind, nicht groß beeinträchtigt wird: Der Yachthafen am Castel dell'Ovo heißt Borgo Marinari, nicht "Borgo Marinaro", und die wörtliche Übertragung "zwei Gabeln essen" bleibt dem Leser im Halse stecken.
Der Roman ruft danach - und ausführliche Szenenanweisungen unterstreichen es -, verfilmt zu werden. Und das wird er jetzt auch schon. Silvio Orlando spielt den Klavierlehrer. Regie führt Roberto Andò selbst. ANDREAS ROSSMANN.
Roberto Andò: "Ciros Versteck". Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, Bozen 2021. 232 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Komplementär zu Roberto Savianos Reportagen: Der Roman "Ciros Versteck" von Roberto Andò
Beim Rasieren rezitiert er Gedichte, ein Ritual, das er sich vor Jahren angewöhnt hat. Die Lyrik ist sein fester Gesprächspartner, neben der Musik natürlich, in die er versinken kann: Gabriele Santoro unterrichtet Klavier am Konservatorium und wohnt im vierten Stock eines Mietshauses mit Aufzug und Pförtnerloge. Seine Konzertkarriere hat er an den Nagel gehängt, und der Kreis der Bekannten, mit denen er sich gelegentlich zum Essen oder Kartenspiel trifft, ist überschaubar. Der stille Held von Roberto Andòs Roman "Ciros Versteck" ist ein "eingefleischter Perfektionist" mit "Neigung zur Einsamkeit", der, schwul und introvertiert, ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben führt.
Doch der Maestro, wie er genannt wird, lebt in Neapel, im berüchtigten Altstadtviertel Forcella, und da kann die chaotische Wirklichkeit ohne anzuklopfen durch die Tür fallen. Ein irritierendes Geräusch aus dem Arbeitszimmer, dann ein Buch, das auf dem Boden liegt, hätten ihn stutzig machen müssen, doch erst am Abend entdeckt er den zehnjährigen Jungen, der, als am Morgen für einen Moment die Wohnungstür offen stand, hereingeschlüpft war: Ciro, der jüngste Sohn der Familie Acerno, die im Dachgeschoss wohnt. Zitternd fleht er um Hilfe, bittet um Obhut. Gabriele Santoro versteckt ihn im Hängeboden.
Was versetzt Ciro in Todesangst? Der Junge schweigt, und als der Klavierlehrer gesprächsfetzenweise und eher zufällig erfahren hat, was geschehen ist, gibt es kein Zurück mehr. Ciro und sein Freund Rosario hatten mit dem Motorroller einem deutschen Touristenpaar aufgelauert, als ihnen eine alte Frau mit prall gefüllter Handtasche über den Weg lief. Beim Versuch, sie der Seniorin zu entreißen, stürzte die "alte Hexe, die die kriminellen Machenschaften von halb Neapel verwaltete". Seitdem liegt sie auf der Intensivstation, und ihr Sohn, der Camorra-Boss Alfonso De Vivo, fordert von Ciros Vater, der für ihn arbeitet, ihm den Bengel zu bringen.
Mit Ciros Verschwinden gerät der Klavierlehrer in Verdacht - und sein Leben aus den Fugen. Ein schmieriger ehemaliger Schüler steht vor der Tür und schnüffelt in der Wohnung herum, zwielichtige Typen beziehen Posten und beschatten ihn. Wieso er so viel Hausmüll habe, wird gefragt, und er erhält eine Einladung, bei der das Gespräch auf den Vorfall kommt. Der Maestro sucht Rat bei seinem Bruder, einem aufstrebenden Staatsanwalt, der ihn kalt abfertigt und ihn warnt, nicht eine Anklage wegen Kindesentführung zu riskieren; er geht zur Polizei und bekommt mit, wie vertraut das Verhältnis von Carabinieri und Camorristi ist. Ciro aus- und damit ans Messer zu liefern kommt für Gabriele Santoro nicht infrage, doch je mehr er unternimmt, um den Jungen zu schützen und zu versorgen, desto enger wird sein Spielraum: Jeder kennt hier jeden, aber wer auf welcher Seite steht, wird nicht durchschaubar. Der Maestro entwickelt - "ich wäre ein guter Bulle geworden" - detektivischen Spürsinn und versucht, den Camorra-Boss zu beseitigen. Nach einer abenteuerlichen Flucht, die, nur so viel sei verraten, über die Grenze nach Frankreich führt, kommt es zu einem überraschenden Showdown.
Roberto Andò, geboren 1959 in Palermo, ist in Italien als Film-, Schauspiel- und Opernregisseur eine feste Größe und seit 2020 Intendant des Teatro Mercadante in Neapel. Wie er in "Ciros Versteck", seinem vierten Roman, die Mafia zum Thema macht, verhält sich zu Roberto Savianos Reportagen geradezu komplementär: Nicht die illegalen Geschäfte und globalen Verflechtungen der Camorra werden beschrieben und aufgedeckt, sondern ihre Macht im Viertel, wo sie Missstände und Armut nutzt, um es mit Gewalt, Schutzgelderpressung und Gefälligkeiten zu kontrollieren. Nicht Dokumentation, sondern Fiktion, nicht Recherche, sondern Reflexion: Andò ist Leonardo Sciascia verpflichtet, der mit "Der Tag der Eule" 1961 den ersten Roman über die Mafia vorlegte - und seinen sizilianischen Landsmann in jungen Jahren zum Schreiben ermutigt hatte. Das Porträt des in die Welt von Musik und Poesie abgetauchten Intellektuellenkünstlers, der für den Jungen Vatergefühle entwickelt, gerät zur tiefenscharfen psychologischen Studie. Dagegen bleibt Ciros Wandlung vom rotzig aggressiven Straßenjungen zum Zuneigung suchenden Schützling äußerlich, und manche Nebenfiguren kommen über Stereotypen nicht hinaus.
Die vielen Verweise - auf die "Antigone" des Sophokles, auf Kipling, Canetti, T. S. Eliot oder Ortese - verraten literarischen Ehrgeiz, und dass siebzehn der achtzehn Kapitel Verse von Konstantinos Kavafis vorangestellt sind, wirkt etwas aufgesetzt. Doch die originelle Handlung entfaltet eine dramatisch erzählte Geschichte, die von einigen Schnitzern, die der neapelbewanderten Übersetzerin Verena von Koskull (F.A.Z. vom 19. Juni) unterlaufen sind, nicht groß beeinträchtigt wird: Der Yachthafen am Castel dell'Ovo heißt Borgo Marinari, nicht "Borgo Marinaro", und die wörtliche Übertragung "zwei Gabeln essen" bleibt dem Leser im Halse stecken.
Der Roman ruft danach - und ausführliche Szenenanweisungen unterstreichen es -, verfilmt zu werden. Und das wird er jetzt auch schon. Silvio Orlando spielt den Klavierlehrer. Regie führt Roberto Andò selbst. ANDREAS ROSSMANN.
Roberto Andò: "Ciros Versteck". Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, Bozen 2021. 232 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main