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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Gottes ellenlange Evolution
E. L. Doctorows Astrotheologie / Von Friedrich Kittler

In der guten alten Zeit, als Romane es noch mit dem Weltlauf aufnehmen konnten, wäre Doctorows "City of God" wohl der Thesenliteratur zugeschlagen worden. Eine flüchtig hingemachte Handlung bemäntelt kaum, daß sie als Anklageschrift herhalten muß. Nur steht vor Gericht kein blutsaugender bloßer König oder Ausbeuter mehr, sondern der Gott der Christen.

Die Handlung spielt in New York vor der Jahrtausendwende. Einem katholischen Priester in Manhattan schwindet die Gemeinde dahin, je theologisch gelehrter seine Predigten daherkommen. Auf dieser Leseabenteuerfahrt von Paul Tillich zu Walter Burkert zersetzt sich das Christentum Zug um Zug in jene orientalischen oder griechischen Mythen von Zerstückelung und Wiedergeburt, aus denen vier Evangelien es einst zusammengestückelt haben mögen. Also landet auch das Dreimeterkreuz im Kirchenschiff, ohne daß der Roman bei aller detektivischen Paranoia dies Zeichen und Wunder zu erklären geruhte. Unbekannte verschleppen es aufs Dach einer Synagoge, die selbstredend im Dunstkreis der Columbia University liegt und tapfer verspricht, jedermann und jederfrau zu einem "evolutionären Judaismus" auf dem Wissensstand von Astrophysik und Sprachphilosophie zu verhelfen.

Der Rabbi lebt glücklich mit einer Rabbinerin und ihren beiden Kindern zusammen, bevor ihn die Wiederholung jenes Unglücks ereilt, dem sein Schwiegervater gerade noch entronnen war. So zielstrebig nämlich hat der christliche "Gott der Geschichte" auf den Holocaust zugearbeitet, daß zwar der Alte als wacher Botenjunge ein litauisches Nazi-Ghetto überlebt und dessen friedlich in die Vereinigten Staaten emigrierter SS-Kommandant doch noch auf seinen gerechten Mörder trifft. Aber beim Versuch, die geheime Autobiographie jenes Rüstungsarbeitslagers aus den postkommunistischen Wirren Osteuropas zu bergen, schlägt seinen Schwiegersohn der nackte Antisemitismus tot. Beide Verluste sind indes zu verschmerzen.

Erstens findet mit alledem, was den Romanfiguren zu Ohren oder auch nur zu Herzen kommt, auch die Ghettogeschichte in eine Veröffentlichung, die mit unserer Lektüre nachgerade zusammenfällt - einfach weil der Erzähler, postmodernen Labyrinthen weit enthoben, als halbnaher freundlicher Biograph sein Heldenpaar begleitet. Was dem Schriftsteller zusetzt, erotisch und professionell, sind nur milde Eifersüchte auf die kurzsichtige, aber brillante Rabbinerin einerseits und die dummen, aber leider viel erfolgreicheren Hollywoodfilme andererseits. Also läßt der Romancier seinem ketzerischen Priesterfreund, nachdem die Kirche ihn kurzerhand gefeuert hat, einmal mehr den Vortritt. Am Ende darf ein am Christengott verzweifelter Expriester die schöne verwitwete Rabbinerin zum Standesamt führen, nur um in letzter urkatholischer Laienpredigt seine unmittelbar bevorstehende Konversion zum Gott der Väter zu verkünden.

Ende gut, alles gut. New York, das lernen wir beim Sommersonntagsspaziergang durch den Central Park, ist die Stadt Gottes, "dahinter die Finanzskyline des unteren Manhattan, im Sonnenschein eine Inselkathedrale, ein Palast der Religionen". Und nur weil der heilige Augustinus zwischen Polis und Tyrannis, Stadt und Imperium nicht recht unterscheiden konnte, heißt "City of God" Civitas Dei, der Gottesstaat. Auf der einen Seite "dieses schnarrende, stieläugige, zähneknirschende Arschloch der deutschen Nationalreligion", jenes "stählerne, schlitzäugige, bäurische Scheißhirn der russischen Revolutionsreligion" und weiter ringsum die unzähligen "Inseltyrannen der Karibik", "Stammeswürger Afrikas", "Totschläger des Balkans" - auf der Gegenseite, einsam im Gegenlicht, "unsere am weitesten fortgeschrittenen Demokratien" in "makelloser ethischer Haltung", wie sie sich schon in zwei Weltkriegen, 1919 in Flandern und 1944 über Schweinfurt, so glänzend bewährt haben.

Fürs kommende Jahrtausend allerdings, das hoffentlich auch mit diesem seinem christlichen Kalender brechen wird, muß die politische Korrektheit noch viel tiefer fundiert werden: Sie braucht die feste Burg einer neuen, aber buchstäblich notwendigen Theologie, in der die amerikanische Verfassung nicht einfach unter "nationaler Geschichte" abgebucht wird, sondern eine "Ausdehnung der ethischen Verpflichtung" begründet, welche sich ab sofort, nämlich noch bevor "um die Mitte des kommenden Jahrhunderts zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben werden", "auf ein Blickfeld von dreihundertsechzig Grad zu richten hat".

Jeder Weltmacht die Theologie, die sie verdient: Augustinus für Rom, Romane für New York. Also kaum der Rede wert. Spannend wird Doctorows aktualisierter Gottesstaat erst, wenn er von seinen theologischen Rechtfertigungen zu wissenschaftlichen überleitet. Ob der Holocaust die christliche Auferstehung der Toten widerlegt oder umgekehrt das Eingedenken der Ermordeten jedweden Ahnenkult abschafft, steht dahin, Einsteins Relativitätstheorie und Wittgensteins frühe Sprachphilosophie dagegen nicht. Ohne die wundersame Gabe angelsächsischer hard sciences, ihre Sache in klarer Prosa zu vermitteln, hätten dergleichen Romane kaum die Chance, globale Bestseller zu werden. "Evolutionär" heißt der neue, nicht eben glücklich übersetzte "Judaismus" also schlicht darum, weil Abrahams orthodoxer oder allzu orthodoxer Gott im Romanverlauf zum Gott zunächst Einsteins, später aber auch Wittgensteins evolviert. (Quantenphysik und Computertechnik sind Doctorows Sache nicht.) Gott west, wie ein leibhaftiger Nobelpreisträger allen Synagogenbesuchern glaubhaft versichern darf, im Urknall an, in der Lichtgeschwindigkeit und schlußendlich in einer planvoll nachlässigen Sprache, die am Schlußsatz von Wittgensteins "Tractatus" keinerlei Schmerz mehr spürt. Erstens nämlich "braucht" das neue Jerusalem New York die Philosophie nur als "erhebende, animierte Disney-Produktion", und zweitens ist Europas Metaphysik ohnehin am Ende: Einstein hat Sir Isaac Newton, diesen frommen Christen, so restlos widerlegt wie Wittgenstein den frommen Griechen Platon. Dem verwirrten Leser bleibt nur die Frage, ob mit Populärversionen von Astrophyik und Sprachphilosophie schon geklärt ist, auf welchen Fundamenten Megalopolis selber ruht oder ruhte. Denn offenbar ist die Wissenschaft, diese griechische Balkan-Idee, erst im Lauf einer langen, von Indern, Arabern und Christen geradezu übervölkerten Geschichte bei heutiger Hochtechnologie angekommen. Solange amerikanische Bestseller die Technik schlichtweg voraussetzen, statt sie wie Pynchon zu denken, werden sie Bestseller bleiben.

E. L. Doctorow: "City of God". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Angela Praesent. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 400 S., geb., 44,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein "voluminöser Thesenroman" ist "City of God", behauptet Christoph Bartmann, oder der "letzte zerebrale Container-.Roman", in den der Autor thesen-, pamphlet- und traktatmäßig alles hineingestopft habe, was ihm so durch den Kopf schieße. Dazu gehört nach Bartmann viel Philosophie und ketzerische Gottesfurcht, denn mit "City of God" ist Augustinus' Gottesstaat gemeint, womit letztlich ein besseres 21. Jahrhundert eingeklagt wird, so Bartmann. Das Unsortierte, Überbordende ruft auf Dauer eine Art "gereizter Langeweile" hervor, schreibt der Rezensent. Erfrischend hingegen findet er die fiebrigen Passagen über und Hymnen auf New York, die für ihn zum Besten des Romans zählen. Wirklich genervt zeigt er sich dann von Doctorows Versuch, das Philosophisch-Traktathafte und Überdrehte des Romans durch einfache Passagen nach dem Muster von Jazz-Standards zu durchbrechen: in der länglichen Ausführung - zumindest in der deutschen Übersetzung - für ihn schlicht "unerträglich". Einen solchen "Welt-im-Kopf"-Roman zu schreiben, kommt Bartmann alles in allem doch etwas überholt vor.

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»Ein großartiger Spiegel unseres Lebens und unserer Zeit.« Publishers Weekly