Im Wald wurde Lindiwes Schwester Khanyi zum letzten Mal gesehen. Deshalb zieht es Lin immer wieder dorthin. Hier hört sie Khanyis Stimme und kann doch nicht herausfinden, was mit ihr geschehen ist. Hat ihr Schicksal etwas mit den Veränderungen zu tun, die Lin selbst erfährt? Mit dem Moos, das auf ihrer Wange sprießt? Dann tritt Unathi in ihr Leben. Ihre Nähe schenkt Lin Wurzeln und lässt sie nach der Weite des Himmels greifen. Doch zu nah dürfen sie sich nicht kommen, denn Unathi ist Lins Cousine. Während Lin gegen ihre Gefühle kämpft, versuchen die beiden das Geheimnis von Khanyis Verschwinden zu lüften ...
Für "Die Sonne, so strahlend und Schwarz" wurde Chantal-Fleur Sandjon 2023 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. In ihrem neuen Buch lässt sie sich
Für "Die Sonne, so strahlend und Schwarz" wurde Chantal-Fleur Sandjon 2023 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. In ihrem neuen Buch lässt sie sich
"Afrikanische Mythologie, Erinnerungen, die Apartheid in Südafrika,Träume, dasTagebuch der Schwester, Magie, die Sprache der Bäume, die Gegenwart in Berlin - Sandjon verwebt Gedichte zu einer kunstvollen Reise. 'City of Trees' ist ein kühnes, poetisches Abbild dessen, wovon der Roman handelt: eine Sprache zu finden, um zu sich selbst zu kommen." Christine Knödler Süddeutsche Zeitung 20240712
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Chantal-Fleur Sandjons "City of Trees" ist kein leichter Schmöker für dösige Stunden, erklärt Rezensentin Christine Knödler, sondern ein mutiges Buch, auf das man sich "einlassen" muss, eine Herausforderung. Knüpft die Autorin doch nicht einfach an an klassische Erzählkonventionen, sondern findet ihre ganze eigene Sprache und Erzählweise - Immer wieder etwa verbindet sie ihre Prosa mit Poesie: da sind etwa die Gedichte der Protagonistin Lin, deren Schwester verschwunden ist, aber es gibt auch noch eine andere Poesie - "die Sprache der Bäume" vermutet Knödler. Die Pflanzen, der Wald, die Natur sind hier nämlich nicht nur Kulisse für menschliches Handeln, nicht nur "Umwelt", sondern werden in gewisser Weise aktiv, nehmen Lin unter sich auf, sie beginnt sich zu verwandeln, Moos wächst auf ihrem Körper - eine Grenzauflösung, so bezeichnet Knödler die Verwandlung - zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen Realismus und Magischem Realismus. Überhaupt geht es hier immer wieder um Grenzen, um den Freiraum dazwischen, und die Sehnsucht, die sich in der Auflösung äußert: Die Sehnsucht nach Versöhnung, so die berührte Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2024Meine Schwester, der Baum
Der Jugendroman „City of Trees“ von Chantal-Fleur Sandjon
ist ein kühner Versuch über sich auflösende Grenzen.
VON CHRISTINE KNÖDLER
Zu Beginn des Buches steht ein Bogen, ein Halbkreis aus Worten: „So beginnt es. So endet es.“ Fast am Ende des Romans ist aus dem halben ein ganzer Kreis geworden: „So beginnt es. So endet es. So endet es. So beginnt es“, und in der Mitte: „Alles ist im Fluss.“ Alles geht weiter, geht ineinander über, ist Bewegung und Bedeutung. Das ist der Bogen, den „City of Trees“, der zweite Jugendroman von Chantal-Fleur Sandjon, schlägt.
Khanyi ist verschwunden. Im Wald, am Stadtrand von Berlin, wurde sie das letzte Mal gesehen, seitdem zieht es die jüngere Schwester und Ich-Erzählerin Lindiwe, genannt Lin, immer wieder zu den Bäumen. Tänzerin hatte Khanyi werden wollen – nun ist sie weg. Drei Jahre ist das her. Mit dem Verlust geht jeder in der Familie anders um: Baba, der Vater, stählt sich über Bodybuilding zu einer Festung und vertraut auf Gott. Die Mutter glaubt, dass Khanyi entführt worden ist, und wird irgendwie immer kleiner. Die Kleinen, die Zwillinge, erinnern sich kaum mehr an ihre älteste Schwester. Gerade sind Großmutter Gogo und Cousine Unathi aus Südafrika zu Besuch in Berlin. Lin ist genervt: Sie will ihr Zimmer, das früher das von ihr und Khanyi war, nicht mit ihrer Cousine teilen. Lieber rennt sie durch den Wald, lauscht den Geschichten von Gogo oder singt für sie.
Im Wald geht Lin immer mehr auf. Sie beginnt, sich zu verwandeln. Das ist mehr als eine Metapher: Auf Lins Wange wächst Moos. Noch kann sie es mit einem Pflaster abdecken. Aber wie lange noch? Will sie das überhaupt? Und was ist mit den anderen Jugendlichen, die sich in Luft aufzulösen scheinen? Vermisstenanzeigen hängen an Bushaltestellen, an Schulen werden Kontrollen vorgenommen, als handle es sich um ein gefährliches Virus.
Realismus und magischer Realismus gehen ineinander über. Chantal-Fleur Sandjon formuliert eine vorsichtige Zukunftsvision, eine Utopie. Die Geschichte spielt im Jahr 2025: „City of Trees“, Stadt der Bäume, als ein Ort der Zuflucht, an dem Menschen – junge Menschen – wieder eins werden mit der Natur?
Zumindest ist das eine mögliche Lesart. Der Roman legt sich nicht fest. Sandjon probiert aus, riskiert viel. Für ihren Versroman „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ hat sie im vergangenen Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen. Auch hier nun wechseln Poesie und Prosa einander ab: Lins Gedichte, Auszüge aus Khanyis Tagebüchern, stehen neben erzählenden Passagen, grau hinterlegte, poetische Kurztexte sind wieder aus einer anderen Perspektive erzählt. Sandjon sucht immer wieder eine andere Sprache für das, was passiert. Ist es die Sprache der Bäume?
An altbekannte Lesegewohnheiten knüpft das nicht an, man muss sich auf diesen Roman einlassen. Und zuhören. Im Fluss der Worte stechen einzelne hervor, stechen zu. „Messerscharf“ ist so ein Wort. Die Sprache der Bäume geht anders. Sie wispern. Und während Lin in der Schule als „Zebragirl“ verspottet wird, wegen der Moosflecken, decken die Bäume sie im Wald mit ihrem Laub zu. Dann ist sie Khanyi nah.
Genau um diese Nähe geht es, um so etwas wie eine Aussöhnung zwischen den vielen Stadien und Orten des Dazwischen, die Lin ihr Leben lang kennt: zwischen Herkünften, Kulturen, Traditionen, Religionen, Generationen, zwischen Märchen und Mythen, zwischen Vernunft, Übersinnlichem, Sinnlichem. Zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mensch. Große Themen klingen in Chantal-Fleur Sandjons zweitem Roman an: Ausbeutung, Unterwerfung, Rassismus, die Apartheid in Südafrika, aber genauso Achtung, Verstehen, Vergeben.
Dann stellt Unathi nachts Salzwasser ans Bett – der Geister wegen. Gogo ist mit ihren Ahnen eng verbunden, sie gehören zum Leben ganz selbstverständlich dazu. Doch Lin sucht weiter nach ihren Wurzeln, verliebt sich und versucht ein Familiengeheimnis zu lösen: „So beginnt es. So endet es. So endet es. So beginnt es.“ „City of Trees“ ist ein kühner Versuch über sich auflösende Grenzen. Die Sehnsucht dahinter: eine andere, eine versöhnte Welt.
Für ihren Versroman „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ wurde Chantal-Fleur Sandjon mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Foto: Shaheen Wacker
Chantal-Fleur Sandjon: City of Trees.
Thienemann,
Stuttgart 2024.
400 Seiten, 20 Euro.
Ab 14 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Jugendroman „City of Trees“ von Chantal-Fleur Sandjon
ist ein kühner Versuch über sich auflösende Grenzen.
VON CHRISTINE KNÖDLER
Zu Beginn des Buches steht ein Bogen, ein Halbkreis aus Worten: „So beginnt es. So endet es.“ Fast am Ende des Romans ist aus dem halben ein ganzer Kreis geworden: „So beginnt es. So endet es. So endet es. So beginnt es“, und in der Mitte: „Alles ist im Fluss.“ Alles geht weiter, geht ineinander über, ist Bewegung und Bedeutung. Das ist der Bogen, den „City of Trees“, der zweite Jugendroman von Chantal-Fleur Sandjon, schlägt.
Khanyi ist verschwunden. Im Wald, am Stadtrand von Berlin, wurde sie das letzte Mal gesehen, seitdem zieht es die jüngere Schwester und Ich-Erzählerin Lindiwe, genannt Lin, immer wieder zu den Bäumen. Tänzerin hatte Khanyi werden wollen – nun ist sie weg. Drei Jahre ist das her. Mit dem Verlust geht jeder in der Familie anders um: Baba, der Vater, stählt sich über Bodybuilding zu einer Festung und vertraut auf Gott. Die Mutter glaubt, dass Khanyi entführt worden ist, und wird irgendwie immer kleiner. Die Kleinen, die Zwillinge, erinnern sich kaum mehr an ihre älteste Schwester. Gerade sind Großmutter Gogo und Cousine Unathi aus Südafrika zu Besuch in Berlin. Lin ist genervt: Sie will ihr Zimmer, das früher das von ihr und Khanyi war, nicht mit ihrer Cousine teilen. Lieber rennt sie durch den Wald, lauscht den Geschichten von Gogo oder singt für sie.
Im Wald geht Lin immer mehr auf. Sie beginnt, sich zu verwandeln. Das ist mehr als eine Metapher: Auf Lins Wange wächst Moos. Noch kann sie es mit einem Pflaster abdecken. Aber wie lange noch? Will sie das überhaupt? Und was ist mit den anderen Jugendlichen, die sich in Luft aufzulösen scheinen? Vermisstenanzeigen hängen an Bushaltestellen, an Schulen werden Kontrollen vorgenommen, als handle es sich um ein gefährliches Virus.
Realismus und magischer Realismus gehen ineinander über. Chantal-Fleur Sandjon formuliert eine vorsichtige Zukunftsvision, eine Utopie. Die Geschichte spielt im Jahr 2025: „City of Trees“, Stadt der Bäume, als ein Ort der Zuflucht, an dem Menschen – junge Menschen – wieder eins werden mit der Natur?
Zumindest ist das eine mögliche Lesart. Der Roman legt sich nicht fest. Sandjon probiert aus, riskiert viel. Für ihren Versroman „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ hat sie im vergangenen Jahr den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen. Auch hier nun wechseln Poesie und Prosa einander ab: Lins Gedichte, Auszüge aus Khanyis Tagebüchern, stehen neben erzählenden Passagen, grau hinterlegte, poetische Kurztexte sind wieder aus einer anderen Perspektive erzählt. Sandjon sucht immer wieder eine andere Sprache für das, was passiert. Ist es die Sprache der Bäume?
An altbekannte Lesegewohnheiten knüpft das nicht an, man muss sich auf diesen Roman einlassen. Und zuhören. Im Fluss der Worte stechen einzelne hervor, stechen zu. „Messerscharf“ ist so ein Wort. Die Sprache der Bäume geht anders. Sie wispern. Und während Lin in der Schule als „Zebragirl“ verspottet wird, wegen der Moosflecken, decken die Bäume sie im Wald mit ihrem Laub zu. Dann ist sie Khanyi nah.
Genau um diese Nähe geht es, um so etwas wie eine Aussöhnung zwischen den vielen Stadien und Orten des Dazwischen, die Lin ihr Leben lang kennt: zwischen Herkünften, Kulturen, Traditionen, Religionen, Generationen, zwischen Märchen und Mythen, zwischen Vernunft, Übersinnlichem, Sinnlichem. Zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mensch. Große Themen klingen in Chantal-Fleur Sandjons zweitem Roman an: Ausbeutung, Unterwerfung, Rassismus, die Apartheid in Südafrika, aber genauso Achtung, Verstehen, Vergeben.
Dann stellt Unathi nachts Salzwasser ans Bett – der Geister wegen. Gogo ist mit ihren Ahnen eng verbunden, sie gehören zum Leben ganz selbstverständlich dazu. Doch Lin sucht weiter nach ihren Wurzeln, verliebt sich und versucht ein Familiengeheimnis zu lösen: „So beginnt es. So endet es. So endet es. So beginnt es.“ „City of Trees“ ist ein kühner Versuch über sich auflösende Grenzen. Die Sehnsucht dahinter: eine andere, eine versöhnte Welt.
Für ihren Versroman „Die Sonne, so strahlend und schwarz“ wurde Chantal-Fleur Sandjon mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Foto: Shaheen Wacker
Chantal-Fleur Sandjon: City of Trees.
Thienemann,
Stuttgart 2024.
400 Seiten, 20 Euro.
Ab 14 Jahren.
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