The New York Times bestsellerA Granta Best of Young American Novelists 2017 'Extraordinaryâ dazzlingâ a sprawling, generous, warm-hearted epic of 1970s New York' Observer Midnight, New Yearâ s Eve, 1976.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2016Fall tot um, Stadt!
Garth Risk Hallbergs phantasmagorischer Roman von New York am absoluten Tiefpunkt: „City on Fire“
Das Herzstück dieses weitläufigen, verschlungenen, auch zirkulären Romans über New York in den Siebzigern ist ein kleines Punk-Fanzine, Land of 1000 Dances, die dritte (und letzte) Ausgabe vom September 1976. Ein hektografiertes, punkig patziges Fan-Magazin, liebevoll zusammengeschrieben und -gebastelt vom Underground-Girl Samantha, die sich wirklich auskennt in der Szene, und ebenso liebevoll in den Text des Romans hineinreproduziert. Es geht um Erlebnisse mit ihren Kumpels von der gemeinsamen Band, um Streifzüge durch Clubs und Konzerte, und um die überwältigende Kraft der vielen neuen Graffiti an den New Yorker Hauswänden – um die Angst auch, sie könnten schnell wieder verschwinden wie ein Polaroid, und den Wunsch, nach einem Beweis, „dass für eine tolle Minuten Leben und Kunst nah genug zusammengekommen waren“. Irgendwie geht es um die ganz große politische Frage von Freiheit und Sicherheit, um jene Sicherheit, die man gewinnt, wenn man die Freiheit reduziert und aufgibt. Die Zelle, zu der Sam gehört, ist von Kant und seinem Imperativ inspiriert, aber auch von Nietzsche und Marx, sie nennen sich Posthumanisten, oder gleich PHP, Posthumanist Phalanx, und sie planen im Sommer 1977 – Sam ist die Tochter eines italienischen Feuerwerk-Spezialisten – einen Bombenanschlag.
Sieben Jahre lang hat Garth Risk Hallberg an dem tausendseitigen Roman geschrieben, er ist Essayist und Kritiker und hat das Buch „A Field Guide to the American Family“ veröffentlicht. Im Herbst 2013 wurde das Manuskript seines Romans in einer beispiellosen Auktion für etwa zwei Millionen Dollar vom Verlagshaus Alfred A. Knopf jr. ersteigert. Scott Rudin, der Hollywoodproduzent („The Social Network“, „Steve Jobs“), hatte sich da bereits die Filmrechte gesichert. Man hat „City on Fire“ immer wieder mit den großen Großstadtpanoramen von Charles Dickens und Tom Wolfe verglichen, und es hat den Segen der New Yorker Kritiker bekommen, die bewunderten, wie einer von einer Stadt so dicht – und mit nur geringen Ausrutschern – erzählen kann, der ihr damals – Hallberg ist 34 – so fern war.
New York war damals, in den Siebzigern, an einem seiner tiefsten Punkte. Der Roman beginnt an Weihnachten 1976 und endet am 13. Juli 1977, der Nacht, als fast alle Stadtteile für Stunden ohne Strom waren. Der Blackout New Yorks – heute wirkt er wie eine düstere Vorwegnahme der Katastrophe vom 11. September 2001, der die Stadt erschütterte. Damals gab es bereits eine erste ökonomische Krise, die Börse kämpfte mit Abstürzen, die Arbeitslosigkeit wuchs, es gab verfehlte Finanzspekulationen und Inflation, dazu Zunahme von Drogen und Kriminalität. Die Lage war hoffnungslos, der Präsident weigerte sich, die Stadt vor dem Exitus zu retten: Ford to City: Drop Dead, hatte im Oktober 1975 eine berüchtigte Schlagzeile der Daily News gelautet. Aber die Unsicherheit, die zerbröckelnde Sozialstruktur, der Verfall von Häusern und Straßen brachte dann eine neue Freiheit, eine virulente Subkultur, eine Mischung von Energie und Anarchie, ein Gefühl von Widerstand, spontane Experimente von Autoren und Musikern, Performances und Graffiti, amerikanischer Situationismus. Sie hatte sich gefühlt, heißt es von einer der Figuren in Hallbergs Roman, „wie eine Passagierin auf der Titanic: Das Schiff war dem Untergang geweiht, aber die Erinnerung daran würde extravagant sein.“ Es sind die Jahre, in denen Donald Trump seine Karriere begann, als Immobilienhändler.
New York verharrt die tausend Seiten des Buches über in einem komaähnlichen Zustand, von Hallberg in manisch kreisender Detailbesessenheit beschworen, phantasmagorisch und pathetisch, von den inneren Welten in die äußere Welt wechselnd. Ein Schuss im Central Park in der Silvesternacht 1976, eine Polizei-Untersuchung, das versuchte Bombenattentat – das sind Reste einer dynamischen Erzählung. An Action ist Hallberg nicht sonderlich interessiert, mit halluzinatorischem Detailfetischismus vertieft er sich in die Geschichten seiner Figuren, in ihre Jugend, entwirft eine Topografie amerikanischer Ambitionen und Hoffnungen. Die ersten Jahre, da ich an dem Roman arbeitete, war nicht daran zu denken, dass man ihn je veröffentlichen könnte, erzählt der Autor. Man liest ihn, wie man einen Stadtplan liest, authentisch und intrikat, Hell’s Kitchen, die Bowery, Central Park.
Garth Risk Hallberg ist in Louisiana geboren, aufgewachsen in North Carolina, aber ich war nirgendwo wirklich drin, sagt er, war der reine Outsider. New York war eines der drei fantastischen Universen seiner Jugend, die anderen: Narnia und Mittelerde. Auch das New York der Siebziger hat in seinem Roman einen mythischen Unterbau und eine simple Oben-Unten-Struktur. Dem Punkreich um die Band Ex Post Festo und ihre jungen Nihilisten steht das Reich der Geschäftemacher und Hochfinanzjongleure gegenüber, das Hochhaus der legendären Familie Hamilton-Sweeney, in dem ein geheimnisvoller, mephistofelischer „Dämonenbruder“ das Regiment führt. Den Punk repräsentiert der ominöse Nicky Chaos, der Nietzsche und Marx zitieren kann und der Band ein Comeback verschaffen will. Das Bindeglied zwischen beiden Welten ist William Hamilton-Sweeney III, der Ex Post Facto gegründet hatte, er hat sich von der Familie abgewandt und will ein Gesamtbild von der Stadtmalen, „Evidence I and II“.
Das System also gegen jene, die das System bekämpfen. Aber auch: die Gruppe, die Familie, das Kollektiv versus das Individuum. Es ist ein eigentümlicher Individualismus, der das ganze Buch über aufscheint, er ist existentialistisch und sozialistisch getönt, aber durch und durch amerikanisch. „So, als wäre das Kollektiv nicht etwas, das nach dem Individuum kommt, sondern das, was davor kommt. Das das Individuum erst ermöglicht.“ Das Ende des „Imperialismus des Selbst“.
Garth Risk Hallberg liebt die großen europäischen Romane des 19. Jahrhunderts, aber er liebt auch die TV-Serien, die seit Jahren das Verständnis der populären amerikanischen Kultur prägen. Weil er sich selber – das universelle Klischee vom armen Poeten – kein Kabelfernsehen leisten konnte, ging er mit seiner Frau immer zum Nachbarn, um dort „The Wire“ zu gucken. Er fand es großartig, aber ihm missfiel, dass dessen Triumph die Vorstellung vom großen literarischen Roman obsolet machen sollte. Dem wollte er mit seinem Projekt Wertigkeit und Würde zurückgeben. Inzwischen ist er nicht der einzige, der so denkt, immer mehr Autoren in aller Welt versuchen sich nun an Tausendundmehrseitern, von Donna Tartt in den USA bis Frank Witzel in Deutschland.
Auch unter den Figuren von „City on Fire“ ist ein solcher Romanautor vertreten, Williams Lover, der Afroamerikaner Mercer Goodman, geboren in Louisiana, der in New York an der Wenceslas-Mockingbird-Schule für Mädchen unterrichtet. Balzacs „Verlorene Illusionen“ ist erklärtermaßen einer seiner Lieblingsromane. „Darin kommt ein junger Dichter aus der Provinz nach Paris, um sein Glück zu machen, und muss schließlich in der Fülle der Zeit feststellen, dass er sich in allem geirrt hat. All die, die er für Genies gehalten hat, sind Idioten und umgekehrt.“ Balzac ist unheimlich präsent in Hallbergs Roman, sein großes Projekt der Comédie Humaine ist Vorbild für Hallbergs Projekt eines großen New-York-Romans. In seinem späten Werk „Die Vorbereitung des Romans“ hat Roland Barthes die weitreichende Vorbildfunktion von Balzacs Projekt beschworen, Proust zitierend, der über Balzac schrieb: „Seine Bücher gingen aus schönen Ideen hervor, aus Ideen von schönen Gemälden, wenn man so will; denn er begriff oft eine Kunst in der Gestalt einer anderen, aber dann als schönen malerischen Effekt, als große malerische Idee.“
Das ist in Frankreich ein altehrwürdiges Genre, erklärt der ambitionierte Mercer in lockerem Gespräch von Balzacs „Verlorenen Illusionen“: „Ich habe sogar angefangen, an einer Neuadaption zu arbeiten . . . Im Original dient das zweite Kaiserreich als historischer Hintergrund, bei mir ist es Vietnam.“ In der Nacht ohne Strom und Licht und Sicherheit geht auch Mercer auf die Straße und verspürt die erregende Erfahrung des Identitätsverlusts. „Aber nein. Jetzt nicht mehr anfangen. Als Ausrufezeichen nimmt er den Fungo-Schläger und knallt ihn gegen eine Parkuhr. Der Kopf bleibt dran, doch die kleine nierenförmige Scheibe zerbricht und spuckt Kleingeld auf die Straße. Die Männer um ihn herum jubeln. Sie sind inzwischen allesamt weiß – Skinheads, wie es scheint –, aber vielleicht ist er das auch. Die materielle Welt löst sich immer mehr in Dunkelheit auf, und die allerletzten Reste von Mercers Gefühl dafür, wer er ist, scheinen sich gleich mit zersetzt zu haben. Jetzt ist kein imaginärer Interviewer mehr da, der ihn fragt, wie es sich anfühlt, doch gäbe es noch einen Mercer, der antworten könnte, würde er es vielleicht Erleichterung nennen . . .“.
FRITZ GÖTTLER
Garth Risk Hallberg: City on Fire. Roman. Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2016. 1076 Seiten, 25 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Garth Risk Hallberg,
geboren in Baton Rouge, kennt
die undurchdringliche Stadt
New York besser als die meisten
New Yorker. Der faustische
Pakt, den sie 1977 einging,
währt bis heute, in die Tage
von Donald Trump.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Garth Risk Hallbergs phantasmagorischer Roman von New York am absoluten Tiefpunkt: „City on Fire“
Das Herzstück dieses weitläufigen, verschlungenen, auch zirkulären Romans über New York in den Siebzigern ist ein kleines Punk-Fanzine, Land of 1000 Dances, die dritte (und letzte) Ausgabe vom September 1976. Ein hektografiertes, punkig patziges Fan-Magazin, liebevoll zusammengeschrieben und -gebastelt vom Underground-Girl Samantha, die sich wirklich auskennt in der Szene, und ebenso liebevoll in den Text des Romans hineinreproduziert. Es geht um Erlebnisse mit ihren Kumpels von der gemeinsamen Band, um Streifzüge durch Clubs und Konzerte, und um die überwältigende Kraft der vielen neuen Graffiti an den New Yorker Hauswänden – um die Angst auch, sie könnten schnell wieder verschwinden wie ein Polaroid, und den Wunsch, nach einem Beweis, „dass für eine tolle Minuten Leben und Kunst nah genug zusammengekommen waren“. Irgendwie geht es um die ganz große politische Frage von Freiheit und Sicherheit, um jene Sicherheit, die man gewinnt, wenn man die Freiheit reduziert und aufgibt. Die Zelle, zu der Sam gehört, ist von Kant und seinem Imperativ inspiriert, aber auch von Nietzsche und Marx, sie nennen sich Posthumanisten, oder gleich PHP, Posthumanist Phalanx, und sie planen im Sommer 1977 – Sam ist die Tochter eines italienischen Feuerwerk-Spezialisten – einen Bombenanschlag.
Sieben Jahre lang hat Garth Risk Hallberg an dem tausendseitigen Roman geschrieben, er ist Essayist und Kritiker und hat das Buch „A Field Guide to the American Family“ veröffentlicht. Im Herbst 2013 wurde das Manuskript seines Romans in einer beispiellosen Auktion für etwa zwei Millionen Dollar vom Verlagshaus Alfred A. Knopf jr. ersteigert. Scott Rudin, der Hollywoodproduzent („The Social Network“, „Steve Jobs“), hatte sich da bereits die Filmrechte gesichert. Man hat „City on Fire“ immer wieder mit den großen Großstadtpanoramen von Charles Dickens und Tom Wolfe verglichen, und es hat den Segen der New Yorker Kritiker bekommen, die bewunderten, wie einer von einer Stadt so dicht – und mit nur geringen Ausrutschern – erzählen kann, der ihr damals – Hallberg ist 34 – so fern war.
New York war damals, in den Siebzigern, an einem seiner tiefsten Punkte. Der Roman beginnt an Weihnachten 1976 und endet am 13. Juli 1977, der Nacht, als fast alle Stadtteile für Stunden ohne Strom waren. Der Blackout New Yorks – heute wirkt er wie eine düstere Vorwegnahme der Katastrophe vom 11. September 2001, der die Stadt erschütterte. Damals gab es bereits eine erste ökonomische Krise, die Börse kämpfte mit Abstürzen, die Arbeitslosigkeit wuchs, es gab verfehlte Finanzspekulationen und Inflation, dazu Zunahme von Drogen und Kriminalität. Die Lage war hoffnungslos, der Präsident weigerte sich, die Stadt vor dem Exitus zu retten: Ford to City: Drop Dead, hatte im Oktober 1975 eine berüchtigte Schlagzeile der Daily News gelautet. Aber die Unsicherheit, die zerbröckelnde Sozialstruktur, der Verfall von Häusern und Straßen brachte dann eine neue Freiheit, eine virulente Subkultur, eine Mischung von Energie und Anarchie, ein Gefühl von Widerstand, spontane Experimente von Autoren und Musikern, Performances und Graffiti, amerikanischer Situationismus. Sie hatte sich gefühlt, heißt es von einer der Figuren in Hallbergs Roman, „wie eine Passagierin auf der Titanic: Das Schiff war dem Untergang geweiht, aber die Erinnerung daran würde extravagant sein.“ Es sind die Jahre, in denen Donald Trump seine Karriere begann, als Immobilienhändler.
New York verharrt die tausend Seiten des Buches über in einem komaähnlichen Zustand, von Hallberg in manisch kreisender Detailbesessenheit beschworen, phantasmagorisch und pathetisch, von den inneren Welten in die äußere Welt wechselnd. Ein Schuss im Central Park in der Silvesternacht 1976, eine Polizei-Untersuchung, das versuchte Bombenattentat – das sind Reste einer dynamischen Erzählung. An Action ist Hallberg nicht sonderlich interessiert, mit halluzinatorischem Detailfetischismus vertieft er sich in die Geschichten seiner Figuren, in ihre Jugend, entwirft eine Topografie amerikanischer Ambitionen und Hoffnungen. Die ersten Jahre, da ich an dem Roman arbeitete, war nicht daran zu denken, dass man ihn je veröffentlichen könnte, erzählt der Autor. Man liest ihn, wie man einen Stadtplan liest, authentisch und intrikat, Hell’s Kitchen, die Bowery, Central Park.
Garth Risk Hallberg ist in Louisiana geboren, aufgewachsen in North Carolina, aber ich war nirgendwo wirklich drin, sagt er, war der reine Outsider. New York war eines der drei fantastischen Universen seiner Jugend, die anderen: Narnia und Mittelerde. Auch das New York der Siebziger hat in seinem Roman einen mythischen Unterbau und eine simple Oben-Unten-Struktur. Dem Punkreich um die Band Ex Post Festo und ihre jungen Nihilisten steht das Reich der Geschäftemacher und Hochfinanzjongleure gegenüber, das Hochhaus der legendären Familie Hamilton-Sweeney, in dem ein geheimnisvoller, mephistofelischer „Dämonenbruder“ das Regiment führt. Den Punk repräsentiert der ominöse Nicky Chaos, der Nietzsche und Marx zitieren kann und der Band ein Comeback verschaffen will. Das Bindeglied zwischen beiden Welten ist William Hamilton-Sweeney III, der Ex Post Facto gegründet hatte, er hat sich von der Familie abgewandt und will ein Gesamtbild von der Stadtmalen, „Evidence I and II“.
Das System also gegen jene, die das System bekämpfen. Aber auch: die Gruppe, die Familie, das Kollektiv versus das Individuum. Es ist ein eigentümlicher Individualismus, der das ganze Buch über aufscheint, er ist existentialistisch und sozialistisch getönt, aber durch und durch amerikanisch. „So, als wäre das Kollektiv nicht etwas, das nach dem Individuum kommt, sondern das, was davor kommt. Das das Individuum erst ermöglicht.“ Das Ende des „Imperialismus des Selbst“.
Garth Risk Hallberg liebt die großen europäischen Romane des 19. Jahrhunderts, aber er liebt auch die TV-Serien, die seit Jahren das Verständnis der populären amerikanischen Kultur prägen. Weil er sich selber – das universelle Klischee vom armen Poeten – kein Kabelfernsehen leisten konnte, ging er mit seiner Frau immer zum Nachbarn, um dort „The Wire“ zu gucken. Er fand es großartig, aber ihm missfiel, dass dessen Triumph die Vorstellung vom großen literarischen Roman obsolet machen sollte. Dem wollte er mit seinem Projekt Wertigkeit und Würde zurückgeben. Inzwischen ist er nicht der einzige, der so denkt, immer mehr Autoren in aller Welt versuchen sich nun an Tausendundmehrseitern, von Donna Tartt in den USA bis Frank Witzel in Deutschland.
Auch unter den Figuren von „City on Fire“ ist ein solcher Romanautor vertreten, Williams Lover, der Afroamerikaner Mercer Goodman, geboren in Louisiana, der in New York an der Wenceslas-Mockingbird-Schule für Mädchen unterrichtet. Balzacs „Verlorene Illusionen“ ist erklärtermaßen einer seiner Lieblingsromane. „Darin kommt ein junger Dichter aus der Provinz nach Paris, um sein Glück zu machen, und muss schließlich in der Fülle der Zeit feststellen, dass er sich in allem geirrt hat. All die, die er für Genies gehalten hat, sind Idioten und umgekehrt.“ Balzac ist unheimlich präsent in Hallbergs Roman, sein großes Projekt der Comédie Humaine ist Vorbild für Hallbergs Projekt eines großen New-York-Romans. In seinem späten Werk „Die Vorbereitung des Romans“ hat Roland Barthes die weitreichende Vorbildfunktion von Balzacs Projekt beschworen, Proust zitierend, der über Balzac schrieb: „Seine Bücher gingen aus schönen Ideen hervor, aus Ideen von schönen Gemälden, wenn man so will; denn er begriff oft eine Kunst in der Gestalt einer anderen, aber dann als schönen malerischen Effekt, als große malerische Idee.“
Das ist in Frankreich ein altehrwürdiges Genre, erklärt der ambitionierte Mercer in lockerem Gespräch von Balzacs „Verlorenen Illusionen“: „Ich habe sogar angefangen, an einer Neuadaption zu arbeiten . . . Im Original dient das zweite Kaiserreich als historischer Hintergrund, bei mir ist es Vietnam.“ In der Nacht ohne Strom und Licht und Sicherheit geht auch Mercer auf die Straße und verspürt die erregende Erfahrung des Identitätsverlusts. „Aber nein. Jetzt nicht mehr anfangen. Als Ausrufezeichen nimmt er den Fungo-Schläger und knallt ihn gegen eine Parkuhr. Der Kopf bleibt dran, doch die kleine nierenförmige Scheibe zerbricht und spuckt Kleingeld auf die Straße. Die Männer um ihn herum jubeln. Sie sind inzwischen allesamt weiß – Skinheads, wie es scheint –, aber vielleicht ist er das auch. Die materielle Welt löst sich immer mehr in Dunkelheit auf, und die allerletzten Reste von Mercers Gefühl dafür, wer er ist, scheinen sich gleich mit zersetzt zu haben. Jetzt ist kein imaginärer Interviewer mehr da, der ihn fragt, wie es sich anfühlt, doch gäbe es noch einen Mercer, der antworten könnte, würde er es vielleicht Erleichterung nennen . . .“.
FRITZ GÖTTLER
Garth Risk Hallberg: City on Fire. Roman. Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2016. 1076 Seiten, 25 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Garth Risk Hallberg,
geboren in Baton Rouge, kennt
die undurchdringliche Stadt
New York besser als die meisten
New Yorker. Der faustische
Pakt, den sie 1977 einging,
währt bis heute, in die Tage
von Donald Trump.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2016Wir alle, im Feuer
Wie viele Leben braucht man, um eine Stadt zu beschreiben? Garth Risk Hallbergs heftiges New-York-Buch "City on Fire"
Als könnte man das: einfach eine ganze Stadt, und dann auch noch die größte von allen, in die Hand nehmen und zu einem Buch formen. Zu einem fast genauso großen Buch. Das man beim Lesen abstützen muss, weil es 1080 eng bedruckte Seiten lang ist beziehungsweise schwer. Man muss sich das klarmachen, bevor man Garth Risk Hallbergs New-York-Roman "City on Fire" also selbst in die Hand nimmt: Er ist wirklich sehr, sehr, sehr lang. Er hat zwar auch ein paar Bilder, einige hineingestreute Texte anderen Zuschnitts, handgeschriebene Briefe auf liniertem Papier zum Beispiel, ein zusammenfotokopiertes Punkmagazin, das säuberlich getippte Manuskript einer Zeitschriftenreportage, E-Mails auch. Der Roman ist sozusagen postmodern aufgelockert.
Aber drum herum, in sieben Bücher aufgeteilt: enorme Textmassen. Sortiert in kürzere Abschnitte wie der rechtwinklige Stadtplan von Manhattan, in dem Hallbergs Roman vor allem spielt. Es sind solche Massen an Text, dass man sich fragt, ob sich der Autor an jeden einzelnen dieser Sätze erinnern kann, die er da geschrieben hat und die man jetzt anstreicht, Sätze wie: "Er rauchte wie ein Mann, der es eilig hatte, oder einer, der in extremer Kälte aufgewachsen war"; oder: "Es gab nichts, über das New York lieber las als über sich selbst."
Und es gibt auch wenig, über das man als Nicht-New-Yorker lieber liest als über diese Stadt. New York also, mal wieder. Das Jahr ist 1977, meistens jedenfalls. Die Lage ist böse. Die Stadt verrottet. Das Geld geht aus und dann das Licht: ein Stromausfall, der berühmte Blackout vom 13. auf den 14. Juli 1977. Der amerikanische Präsident hatte sich zwei Jahre vorher geweigert, der in den Bankrott taumelnden Stadt mit Bundesmitteln zu helfen, was die "Daily News" in der epochal gewordenen Titelzeile "Ford to City: Drop Dead" verewigte. Er hatte das so nie gesagt: dass New York also tot umfallen soll. Aber so war es angekommen. Und dieser Stromausfall - Sinatras Stadt, die niemals schläft, stundenlang stockdunkel - wurde dann zum Symbol des anhaltenden Ausnahmezustands.
Hallbergs Roman steuert auf diesen Blackout zu. Er treibt seine Figuren mitten in ihn hinein: ein Dutzend Figuren, die versuchen, wie Amerikaner zu leben, und natürlich scheitern, gut scheitern, erbaulich, versöhnlich, unterhaltsam scheitern - und dann weitermachen. Denn so leben Amerikaner, erzählt es uns die amerikanische Literatur.
"City on Fire", Hallbergs zweiter Roman, ist vor einem halben Jahr in den Vereinigten Staaten erschienen. Begleitet von jenem standardmäßigen Getöse, wenn gerade mal wieder die nächste Offenbarung der amerikanischen Literatur erscheint. Nach solchen amerikanischen Offenbarungen kann man wirklich die Uhr stellen, und fast immer sind es tolle Bücher: Vor Hallbergs "City on Fire" kam Rachel Kushners "Flammenwerfer", davor Chad Harbachs "Kunst des Feldspiels", lauter ehrgeizige, elegante Romane von Debütanten (mehr oder weniger), die Geschichten erzählen können, das aber nicht tun wollen, ohne zugleich Geschichte zu rekonstruieren. Diese Welthaltigkeit, der eine intensive Recherche vorangeht, unterscheidet neue amerikanische Bücher vor allem von neuen deutschen Büchern, und das schon seit Jahren.
Die Geschichte, die Garth Risk Hallbergs Roman in den Geschichten seiner Figuren erzählen will, handelt von der Hauptstadt der westlichen Welt kurz vor ihrem Kollaps, Mitte der siebziger Jahre. In der Bronx rauchen die Ruinen, ganze Viertel verslummen, die Mittelschicht ist weggezogen, die Unterschicht geblieben, wohin soll sie auch gehen? Und jetzt hoffen die Immobilieninvestoren auf die Vorzüge des warmen Abrisses.
Das ist das Klima des Buchs. Es riecht nach Rauch. Die Feuer, nördlich von Manhattan, sind wie Wetterleuchten über den Seiten, tausend versengte Seiten. Ständig flackern Brände auf, wann immer eine von Hallbergs Figuren - ein verlorener Sohn, seine höhere Schwester, ein schwuler schwarzer Lehrer, ein kaputter Journalist, seine angeknackste Nachbarin, ein amtsmüder Cop, zwei Teenage-Punks aus Long Island - über die Hausdächer hinausschauen. Sie finden, in der Ferne, überall Brände, in Gegenden, wo heute, vierzig Jahre später, nur noch die Immobilienpreise glühen.
Am unteren Ende von Manhattan, das um 1977 herum fast nur untere Enden hat, regieren damals die Drogen. Und die Kunst: Auf den Trümmern der verwahrlosten südöstlichen Stadtviertel (die Lower Eastside, das East Village, heute unbezahlbar) bauen die Punks etwas ganz Neues auf, indem sie alles andere erst mal einreißen. Eine Gruppe von ihnen, angeführt von einem jungen Ehrgeizling namens Nicki Chaos, gründet eine philosophische Kommune, die aufräumen und abschaffen und vor allem sichtbare Zeichen dieser notwendigen Abschaffung setzen will: Anschläge.
Vielleicht sind sie alle auch nur chronisch druff, Pillen, Kokain, Heroin - aber was die Punks vorhaben, trifft sich mit den Zielen des Ehrgeizlings Amory Gould, der es in den Geldadel von New York geschafft hat und nun, zur Verwirklichung seiner Immobilienprojekte, mit den Philosophenpunks paktiert, die für ihn die Drecksarbeit erledigen und ihre eigene Stadt in Brand stecken. Damit Goulds Konsortium auf den Ruinen neu bauen und daran verdienen kann.
Das ist der Thriller, der in Garth Risk Hallbergs Buch steckt. Und hat man diese Verschwörung erst einmal identifiziert, fällt es leichter, sich auf den Familienroman zu konzentrieren, der auch in "City on Fire" steckt. Mehrere Familienromane auf einmal sind es eigentlich. Wenn man so will, spiegelt Hallberg die dysfunktionale, mit Klebestreifen zusammengehaltene kokelnde Weltstadt in den dysfunktionalen, auseinanderstrebenden Familien, die sie bewohnen und die auch von innen ausbrennen. Familien, deren Weg wir hier eine Zeitlang mitgehen dürfen, bis sich am Ende alle Wege einmal gekreuzt haben.
Beim ersten Durchblättern wirkt "City on Fire" deswegen viel experimenteller, als der Roman letztlich ist. Die eingeschobenen Archivmaterialien fallen sofort auf, wenn man das Buch nur anschaut, sie färben die Seiten von außen schwarz, man bleibt gleich an diesen Passagen hängen. Aber eigentlich hat Garth Risk Hallberg einen konventionellen Roman geschrieben - seine Erzählung, das ist der wahre Kunstgriff, ist selbst auch nur ein weiteres Beweisstück dieser Sammlung von Beweisstücken einer Stadt im Prozess des Zerfalls und der Neuorganisation.
Das klingt anstrengender, als es ist. Hallberg ist ein Erzähler der vielen Stimmen: Er kann, je nach Figur, aufgeblasene Worte durch seine Sätze treiben lassen, dann aber, im nächsten Kapitel, kleine Wahrheiten einfach nur so hinwerfen.
Mercer, der schwule schwarze Lehrer, der nach New York gezogen ist, um einen Roman zu schreiben und seine Bestimmung zu finden, kommt zum ersten Mal seit langem nach Hause in den Süden, nach Altana in Georgia (nicht Atlanta, er ist ein Dorfjunge). Seine Mutter holt ihn vom Flughafen ab, Mercer schließt die Augen, zögert diese Heimkehr, die sich nach Niederlage anfühlt, bis zur letzten Sekunde hinaus: "Als er die Augen öffnete, sah er ein einfaches Haus mit Blechdach vor sich, bleich in der Abenddämmerung. Es hätte auch das von jemand anderem sein können, hätte es nicht diese komplizierten Dinge mit seinem Herzen angestellt."
Es sind nur Häuser, aber sie tun komplizierte Dinge mit unseren Herzen: Das gilt genauso für die große Stadt New York. Die, die sie bewohnen, rechnen ständig damit, dass New York sie verändert, suchen nach Beweisen dafür, dass New York das schon getan hat, zählen die Tage und Monate und Jahre, in denen es noch nicht geschah, rufen in die Stadt hinein und hoffen auf Antwort und geben sie sich dann selbst, denn wer sollte es sonst tun? Wie Charlie, ein kleiner, verlorener Punkjunge aus einer Schlafstadt auf Long Island mit Expresszugverbindung nach Manhattan, wachgeküsst vom Anblick des East Village: "Eigentlich", sagt dieser Charlie irgendwann zu sich selbst, "ist New York das Einzige, was ihn noch nie im Stich gelassen hat."
Das ist natürlich Unsinn, weil New York sich ja gar nicht um Charlie schert noch um irgendeinen anderen, New York ist eine Ansammlung von Beton und Steinen, ein Behältnis, ein Dings - dem aber jeder Bewohner, jeder Besucher, jeder Film, jedes Buch, auch dieses großartige "City on Fire", eine Seele andichtet.
In der amerikanischen Tradition ist, anders als in der europäischen, ja nie groß unterschieden worden zwischen dem Naturschönen und dem Sozialschönen. Europäische Romantiker beten Berge und Flüsse an, amerikanische Romantiker Berge und Flüsse und Autos und Straßen und Häuser. Das macht amerikanische Literatur vordergründig realistischer, zupackender, moderner - dabei ist sie im Inneren genauso sentimental und von Erlösungsphantasien angetrieben wie, sagen wir, die deutsche. Und so kommt es dann, dass aus dem Zufallsgenerator Großstadt - in die immer neue Menschen ziehen, die sich dann begegnen - ein großer Erzähler wird: Sinnstiftung gegen die hilflos machende Kontingenz, Trost, wo keiner ist, denn am Werk sind ja nur wir. Schon eine Stadt "Zufallsgenerator" zu nennen ist ja Interpretation. Ach, ist das alles herrlich.
Mitten im Blackout, drei Uhr morgens am 14. Juli 1977, fragt sich Mercer, wie groß ein Buch sein müsste, um das echte Leben abzubilden. Er kalkuliert mit dreißig Seiten pro gelebter Stunde, achthundert am Tag, mal 365 sind 280 000 pro Jahr, drei Millionen in zehn Jahren, also: 24 Millionen in einem durchschnittlichen Menschenleben! Es bräuchte 2500 Menschenleben, komplett mit Schreiben zugebracht, um dieses eine Leben aufzuschreiben! Eine unmögliche Aufgabe. Sie muss jeden Schriftsteller überfordern, der wie Garth Risk Hallberg versucht, eine Stadt in die Hand zu nehmen und zu einem Buch zu formen. Es geht nur mit Kompromissen. Und deswegen passieren in "City on Fire" nur die Dinge in New York, die in "City on Fire" passieren. Alles spielt sich nur unter den Figuren des Romans ab, selbst der Blackout wird als biographische Notwendigkeit inszeniert.
Mercer ist mit William zusammen. William ist der Gründer einer Punkband, aus der die Philosophen-Gang hervorgeht, die sich Amory Gould zunutze macht, um seine Immobiliengeschäfte voranzutreiben. Amorys Schwester ist die Stiefmutter von William - und von Regan, die versucht, das Familienunternehmen vor den bösen Goulds zu retten. Regans Ehemann hat eine Affäre mit der jungen Sam. Sie ist die beste Freundin von Charlie. Die beiden gehören zu den Philosophenpunks. Sam wird in der Silvesternacht 1976/1977 im Central Park angeschossen, wo sie Mercer findet, der gerade eine Feier von Williams Familie verlässt, bei der er Regan kennengelernt hat. Larry Pulasky, der Cop, der den Fall übernimmt, ist ein Freund von Richard Groskoph, einem Journalisten, der über Sams Vater eine Reportage schreibt. Sams Vater ist Feuerwerkskünstler. Mit den Sprengstoffen aus seiner Werkstatt bauen die Anarchisten eine Bombe. Charlie geht zum selben Therapeuten wie Regan. Und so weiter und so schön. (Der deutschen Übersetzung liegt ein Personenverzeichnis bei, nach dreihundert Seiten braucht man es nicht mehr.)
Es ist, als gäbe es New York nur für diese Figuren. Und damit spiegelt sich im Bau des Romans eine der Erkenntnisse, die er gleichzeitig sichtbar macht: dass eine Stadt nur das ist, was man von ihr erzählt, über sie empfindet, von ihr hält, an ihr hasst, von ihr erwartet. "City on Fire" handelt von einer Stadt, die in Brand gesteckt wird, ja. Aber in Wirklichkeit ist es immer die Stadt, die uns in Brand steckt.
TOBIAS RÜTHER.
Garth Risk Hallberg: "City on Fire". Roman. Übersetzt von Tobias Schnettler. S. Fischer, 1080 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie viele Leben braucht man, um eine Stadt zu beschreiben? Garth Risk Hallbergs heftiges New-York-Buch "City on Fire"
Als könnte man das: einfach eine ganze Stadt, und dann auch noch die größte von allen, in die Hand nehmen und zu einem Buch formen. Zu einem fast genauso großen Buch. Das man beim Lesen abstützen muss, weil es 1080 eng bedruckte Seiten lang ist beziehungsweise schwer. Man muss sich das klarmachen, bevor man Garth Risk Hallbergs New-York-Roman "City on Fire" also selbst in die Hand nimmt: Er ist wirklich sehr, sehr, sehr lang. Er hat zwar auch ein paar Bilder, einige hineingestreute Texte anderen Zuschnitts, handgeschriebene Briefe auf liniertem Papier zum Beispiel, ein zusammenfotokopiertes Punkmagazin, das säuberlich getippte Manuskript einer Zeitschriftenreportage, E-Mails auch. Der Roman ist sozusagen postmodern aufgelockert.
Aber drum herum, in sieben Bücher aufgeteilt: enorme Textmassen. Sortiert in kürzere Abschnitte wie der rechtwinklige Stadtplan von Manhattan, in dem Hallbergs Roman vor allem spielt. Es sind solche Massen an Text, dass man sich fragt, ob sich der Autor an jeden einzelnen dieser Sätze erinnern kann, die er da geschrieben hat und die man jetzt anstreicht, Sätze wie: "Er rauchte wie ein Mann, der es eilig hatte, oder einer, der in extremer Kälte aufgewachsen war"; oder: "Es gab nichts, über das New York lieber las als über sich selbst."
Und es gibt auch wenig, über das man als Nicht-New-Yorker lieber liest als über diese Stadt. New York also, mal wieder. Das Jahr ist 1977, meistens jedenfalls. Die Lage ist böse. Die Stadt verrottet. Das Geld geht aus und dann das Licht: ein Stromausfall, der berühmte Blackout vom 13. auf den 14. Juli 1977. Der amerikanische Präsident hatte sich zwei Jahre vorher geweigert, der in den Bankrott taumelnden Stadt mit Bundesmitteln zu helfen, was die "Daily News" in der epochal gewordenen Titelzeile "Ford to City: Drop Dead" verewigte. Er hatte das so nie gesagt: dass New York also tot umfallen soll. Aber so war es angekommen. Und dieser Stromausfall - Sinatras Stadt, die niemals schläft, stundenlang stockdunkel - wurde dann zum Symbol des anhaltenden Ausnahmezustands.
Hallbergs Roman steuert auf diesen Blackout zu. Er treibt seine Figuren mitten in ihn hinein: ein Dutzend Figuren, die versuchen, wie Amerikaner zu leben, und natürlich scheitern, gut scheitern, erbaulich, versöhnlich, unterhaltsam scheitern - und dann weitermachen. Denn so leben Amerikaner, erzählt es uns die amerikanische Literatur.
"City on Fire", Hallbergs zweiter Roman, ist vor einem halben Jahr in den Vereinigten Staaten erschienen. Begleitet von jenem standardmäßigen Getöse, wenn gerade mal wieder die nächste Offenbarung der amerikanischen Literatur erscheint. Nach solchen amerikanischen Offenbarungen kann man wirklich die Uhr stellen, und fast immer sind es tolle Bücher: Vor Hallbergs "City on Fire" kam Rachel Kushners "Flammenwerfer", davor Chad Harbachs "Kunst des Feldspiels", lauter ehrgeizige, elegante Romane von Debütanten (mehr oder weniger), die Geschichten erzählen können, das aber nicht tun wollen, ohne zugleich Geschichte zu rekonstruieren. Diese Welthaltigkeit, der eine intensive Recherche vorangeht, unterscheidet neue amerikanische Bücher vor allem von neuen deutschen Büchern, und das schon seit Jahren.
Die Geschichte, die Garth Risk Hallbergs Roman in den Geschichten seiner Figuren erzählen will, handelt von der Hauptstadt der westlichen Welt kurz vor ihrem Kollaps, Mitte der siebziger Jahre. In der Bronx rauchen die Ruinen, ganze Viertel verslummen, die Mittelschicht ist weggezogen, die Unterschicht geblieben, wohin soll sie auch gehen? Und jetzt hoffen die Immobilieninvestoren auf die Vorzüge des warmen Abrisses.
Das ist das Klima des Buchs. Es riecht nach Rauch. Die Feuer, nördlich von Manhattan, sind wie Wetterleuchten über den Seiten, tausend versengte Seiten. Ständig flackern Brände auf, wann immer eine von Hallbergs Figuren - ein verlorener Sohn, seine höhere Schwester, ein schwuler schwarzer Lehrer, ein kaputter Journalist, seine angeknackste Nachbarin, ein amtsmüder Cop, zwei Teenage-Punks aus Long Island - über die Hausdächer hinausschauen. Sie finden, in der Ferne, überall Brände, in Gegenden, wo heute, vierzig Jahre später, nur noch die Immobilienpreise glühen.
Am unteren Ende von Manhattan, das um 1977 herum fast nur untere Enden hat, regieren damals die Drogen. Und die Kunst: Auf den Trümmern der verwahrlosten südöstlichen Stadtviertel (die Lower Eastside, das East Village, heute unbezahlbar) bauen die Punks etwas ganz Neues auf, indem sie alles andere erst mal einreißen. Eine Gruppe von ihnen, angeführt von einem jungen Ehrgeizling namens Nicki Chaos, gründet eine philosophische Kommune, die aufräumen und abschaffen und vor allem sichtbare Zeichen dieser notwendigen Abschaffung setzen will: Anschläge.
Vielleicht sind sie alle auch nur chronisch druff, Pillen, Kokain, Heroin - aber was die Punks vorhaben, trifft sich mit den Zielen des Ehrgeizlings Amory Gould, der es in den Geldadel von New York geschafft hat und nun, zur Verwirklichung seiner Immobilienprojekte, mit den Philosophenpunks paktiert, die für ihn die Drecksarbeit erledigen und ihre eigene Stadt in Brand stecken. Damit Goulds Konsortium auf den Ruinen neu bauen und daran verdienen kann.
Das ist der Thriller, der in Garth Risk Hallbergs Buch steckt. Und hat man diese Verschwörung erst einmal identifiziert, fällt es leichter, sich auf den Familienroman zu konzentrieren, der auch in "City on Fire" steckt. Mehrere Familienromane auf einmal sind es eigentlich. Wenn man so will, spiegelt Hallberg die dysfunktionale, mit Klebestreifen zusammengehaltene kokelnde Weltstadt in den dysfunktionalen, auseinanderstrebenden Familien, die sie bewohnen und die auch von innen ausbrennen. Familien, deren Weg wir hier eine Zeitlang mitgehen dürfen, bis sich am Ende alle Wege einmal gekreuzt haben.
Beim ersten Durchblättern wirkt "City on Fire" deswegen viel experimenteller, als der Roman letztlich ist. Die eingeschobenen Archivmaterialien fallen sofort auf, wenn man das Buch nur anschaut, sie färben die Seiten von außen schwarz, man bleibt gleich an diesen Passagen hängen. Aber eigentlich hat Garth Risk Hallberg einen konventionellen Roman geschrieben - seine Erzählung, das ist der wahre Kunstgriff, ist selbst auch nur ein weiteres Beweisstück dieser Sammlung von Beweisstücken einer Stadt im Prozess des Zerfalls und der Neuorganisation.
Das klingt anstrengender, als es ist. Hallberg ist ein Erzähler der vielen Stimmen: Er kann, je nach Figur, aufgeblasene Worte durch seine Sätze treiben lassen, dann aber, im nächsten Kapitel, kleine Wahrheiten einfach nur so hinwerfen.
Mercer, der schwule schwarze Lehrer, der nach New York gezogen ist, um einen Roman zu schreiben und seine Bestimmung zu finden, kommt zum ersten Mal seit langem nach Hause in den Süden, nach Altana in Georgia (nicht Atlanta, er ist ein Dorfjunge). Seine Mutter holt ihn vom Flughafen ab, Mercer schließt die Augen, zögert diese Heimkehr, die sich nach Niederlage anfühlt, bis zur letzten Sekunde hinaus: "Als er die Augen öffnete, sah er ein einfaches Haus mit Blechdach vor sich, bleich in der Abenddämmerung. Es hätte auch das von jemand anderem sein können, hätte es nicht diese komplizierten Dinge mit seinem Herzen angestellt."
Es sind nur Häuser, aber sie tun komplizierte Dinge mit unseren Herzen: Das gilt genauso für die große Stadt New York. Die, die sie bewohnen, rechnen ständig damit, dass New York sie verändert, suchen nach Beweisen dafür, dass New York das schon getan hat, zählen die Tage und Monate und Jahre, in denen es noch nicht geschah, rufen in die Stadt hinein und hoffen auf Antwort und geben sie sich dann selbst, denn wer sollte es sonst tun? Wie Charlie, ein kleiner, verlorener Punkjunge aus einer Schlafstadt auf Long Island mit Expresszugverbindung nach Manhattan, wachgeküsst vom Anblick des East Village: "Eigentlich", sagt dieser Charlie irgendwann zu sich selbst, "ist New York das Einzige, was ihn noch nie im Stich gelassen hat."
Das ist natürlich Unsinn, weil New York sich ja gar nicht um Charlie schert noch um irgendeinen anderen, New York ist eine Ansammlung von Beton und Steinen, ein Behältnis, ein Dings - dem aber jeder Bewohner, jeder Besucher, jeder Film, jedes Buch, auch dieses großartige "City on Fire", eine Seele andichtet.
In der amerikanischen Tradition ist, anders als in der europäischen, ja nie groß unterschieden worden zwischen dem Naturschönen und dem Sozialschönen. Europäische Romantiker beten Berge und Flüsse an, amerikanische Romantiker Berge und Flüsse und Autos und Straßen und Häuser. Das macht amerikanische Literatur vordergründig realistischer, zupackender, moderner - dabei ist sie im Inneren genauso sentimental und von Erlösungsphantasien angetrieben wie, sagen wir, die deutsche. Und so kommt es dann, dass aus dem Zufallsgenerator Großstadt - in die immer neue Menschen ziehen, die sich dann begegnen - ein großer Erzähler wird: Sinnstiftung gegen die hilflos machende Kontingenz, Trost, wo keiner ist, denn am Werk sind ja nur wir. Schon eine Stadt "Zufallsgenerator" zu nennen ist ja Interpretation. Ach, ist das alles herrlich.
Mitten im Blackout, drei Uhr morgens am 14. Juli 1977, fragt sich Mercer, wie groß ein Buch sein müsste, um das echte Leben abzubilden. Er kalkuliert mit dreißig Seiten pro gelebter Stunde, achthundert am Tag, mal 365 sind 280 000 pro Jahr, drei Millionen in zehn Jahren, also: 24 Millionen in einem durchschnittlichen Menschenleben! Es bräuchte 2500 Menschenleben, komplett mit Schreiben zugebracht, um dieses eine Leben aufzuschreiben! Eine unmögliche Aufgabe. Sie muss jeden Schriftsteller überfordern, der wie Garth Risk Hallberg versucht, eine Stadt in die Hand zu nehmen und zu einem Buch zu formen. Es geht nur mit Kompromissen. Und deswegen passieren in "City on Fire" nur die Dinge in New York, die in "City on Fire" passieren. Alles spielt sich nur unter den Figuren des Romans ab, selbst der Blackout wird als biographische Notwendigkeit inszeniert.
Mercer ist mit William zusammen. William ist der Gründer einer Punkband, aus der die Philosophen-Gang hervorgeht, die sich Amory Gould zunutze macht, um seine Immobiliengeschäfte voranzutreiben. Amorys Schwester ist die Stiefmutter von William - und von Regan, die versucht, das Familienunternehmen vor den bösen Goulds zu retten. Regans Ehemann hat eine Affäre mit der jungen Sam. Sie ist die beste Freundin von Charlie. Die beiden gehören zu den Philosophenpunks. Sam wird in der Silvesternacht 1976/1977 im Central Park angeschossen, wo sie Mercer findet, der gerade eine Feier von Williams Familie verlässt, bei der er Regan kennengelernt hat. Larry Pulasky, der Cop, der den Fall übernimmt, ist ein Freund von Richard Groskoph, einem Journalisten, der über Sams Vater eine Reportage schreibt. Sams Vater ist Feuerwerkskünstler. Mit den Sprengstoffen aus seiner Werkstatt bauen die Anarchisten eine Bombe. Charlie geht zum selben Therapeuten wie Regan. Und so weiter und so schön. (Der deutschen Übersetzung liegt ein Personenverzeichnis bei, nach dreihundert Seiten braucht man es nicht mehr.)
Es ist, als gäbe es New York nur für diese Figuren. Und damit spiegelt sich im Bau des Romans eine der Erkenntnisse, die er gleichzeitig sichtbar macht: dass eine Stadt nur das ist, was man von ihr erzählt, über sie empfindet, von ihr hält, an ihr hasst, von ihr erwartet. "City on Fire" handelt von einer Stadt, die in Brand gesteckt wird, ja. Aber in Wirklichkeit ist es immer die Stadt, die uns in Brand steckt.
TOBIAS RÜTHER.
Garth Risk Hallberg: "City on Fire". Roman. Übersetzt von Tobias Schnettler. S. Fischer, 1080 Seiten, 25 Euro
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