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Wie hat die Zivilisation des Westens es geschafft, den so offensichtlich überlegenen Orient zu dominieren? Und sind wir in der Lage, diesen Status Quo zu erhalten?

Produktbeschreibung
Wie hat die Zivilisation des Westens es geschafft, den so offensichtlich überlegenen Orient zu dominieren? Und sind wir in der Lage, diesen Status Quo zu erhalten?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2012

Wie viele Apps braucht diese Aufholjagd?

Wird China ohne demokratische Partizipation der Bevölkerung auf Dauer politisch stabil bleiben? Der britische Historiker Niall Ferguson lässt die Antwort offen.

Ist Chinas Aufstieg zur global dominanten Macht unaufhaltsam? Niall Ferguson, der bis vor kurzem die Vereinigten Staaten noch dazu bringen wollte, sich selbst als imperiale Macht zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln, neigt dazu, die Frage zu bejahen, zumal die große Wirtschaftskrise von 2007 der chinesischen Ökonomie wenig anhaben konnte, während sie die Vereinigten Staaten und Europa schwer getroffen hat. Nachdem die Chinesen im Gefolge der Krise weiter aufgeholt haben - wer oder was sollte sie da eigentlich noch stoppen? Ein äußerer Akteur mit Sicherheit nicht, auch nicht ein im Niedergang befindliches Imperium wie das der Vereinigten Staaten. China kann nur noch an sich selbst scheitern - und da sieht Ferguson freilich eine Reihe von Stolpersteinen, von denen jeder für sich allein genügt, um das Reich der Mitte aus dem Tritt zu bringen.

Da sind zunächst die vielen Millionen Wanderarbeiter, die im immer reicher werdenden China eine Existenz führen, die schlechter ist als die der Paupers im frühkapitalistischen Europa. Dass die Einkommensunterschiede laut OECD im offiziell kommunistischen China weltweit die höchsten sind, zeigt Chinas Verwundbarkeit. China hat ein soziales Problem, das sich bei Fortsetzung des eingeschlagenen Weges nicht von selbst lösen wird. Wer nur auf die ökonomischen Zuwachsraten sieht, kann dieses soziale Problem leicht übersehen. Und ebenso wird er die ökologischen Probleme übersehen, die sich mit der forcierten Industrialisierung Chinas während der letzten drei Jahrzehnte aufgebaut haben.

Schließlich kommen noch die Folgen der Ein-Kind-Politik hinzu: Nicht bloß der Umstand, dass sich die demographische Pyramide in etwas mehr als einem Jahrzehnt umkehren und China japanische Probleme bekommen wird, sondern auch der gewaltige Überhang von Männern gegenüber Frauen, auch eine Folge der Ein-Kind-Politik, wird für soziale Probleme sorgen.

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der Aufstieg Chinas bei weitem nicht so glatt und reibungslos verlaufen wird, wie er sich in den Kurven der Statistiker darstellt. Ob starke sozio-ökonomische Erschütterungen Chinas jedoch der westlichen Vormachtstellung zugutekämen oder den Westen mit in den Abgrund reißen würden, bleibt in Fergusons Analyse offen. Ferguson selbst hat vor einigen Jahren das Wort "Chimerika" mitgeprägt, in dem die enge Verflechtung der amerikanischen und der chinesischen Volkswirtschaft zum Ausdruck gebracht wird.

Auch wenn er inzwischen davon ausgeht, dass sich diese Verbindung wieder auflöst, so sind beide doch nach wie vor derart aufeinander angewiesen, dass der Kollaps Chinas auch die Vereinigten Staaten schwer treffen müsste. Um ihres eigenen Wohlergehens willen muss man in Washington also ein Interesse daran haben, dass sich der weitere Aufstieg Chinas einigermaßen reibungslos vollzieht.

Als Vorbild eines solchen Übergangs in der Dominanzposition der Weltwirtschaft und Weltpolitik hat Ferguson offenbar die Ablösung des britischen Weltreichs durch die Vereinigten Staaten vor Augen, bei der es weder zum großen Krieg noch zum Zusammenbruch des Wirtschaftslebens kam, wenn man denn die Weltwirtschaftskrise von 1929 dem ungeschickten Agieren der Regierungen und nicht der Übergabe des finanzpolitischen Staffelholzes von London nach New York zuschreibt. Dem stellt Ferguson den katastrophalen Zusammenbruch einiger anderer Imperien gegenüber, wobei Imperien in seiner Darstellung das institutionelle Zentrum einer Zivilisation darstellen.

Mehr noch als das Ende der Sowjetunion hat er dabei den Untergang des Römischen Reichs im Westen vor Augen, der vom Verschwinden einer städtischen Kultur und einer auf großräumigem Austausch beruhenden Wirtschaft begleitet war. Edward Gibbons Beschreibung dieses Untergangs, für deutsche Leser eher ein historischer Text, ist für Briten seit ihrem Erscheinen zwischen 1776 und 1788 - immerhin verfasste Edward Gibbon sechs opulente Bände - eine Mahnung an die Vergänglichkeit mächtiger Reiche. Die Position der Vereinigten Staaten in der Bush- und Obama-Ära gibt Ferguson Anlass, Gibbons Niedergangsanalysen mit einer Reihe von Entwicklungen zu verbinden, die er als Dekadenzindikatoren ansieht: Der Rückzug vom Hindukusch und/oder aus Mesopotamien sei seit jeher ein Anzeichen für den Niedergang eines Großreichs: Die Römer, die Briten und schließlich die Sowjets seien Amerika dabei vorangegangen. Nachdem Ferguson noch vor einem Jahrzehnt die Position der Vereinigten Staaten sehr positiv dargestellt hat, regiert nun bei ihm der Pessimismus. Für das amerikanische Imperium sieht er schwarz. Aber wie steht es dann mit der westlichen Zivilisation als Ganzem?

Fünf Jahrhunderte, so Ferguson, hatte der Westen, zunächst Europa allein, später im Verbund mit Amerika, gegenüber Ostasien die Nase vorn gehabt. Entgegen anderen globalgeschichtlichen Arbeiten, die erst für das neunzehnte Jahrhundert von einer deutlichen Überlegenheit des Westens ausgehen, sieht Ferguson deren Anfänge im fünfzehnten Jahrhundert und stellt dazu die Seefahrten des chinesischen Admirals Zheng He und die des Portugiesen Vasco da Gama einander gegenüber, bei denen die Chinesen zwar die überlegenen Ressourcen ins Spiel brachten, aber die Portugiesen den größeren Mut und das größere Geschick bewiesen.

Wie also kam es zu diesem ganz unwahrscheinlichen Aufstieg (West-)Europas, in dessen Verlauf der Westen nicht nur zum wirtschaftlich führenden Raum, sondern auch zum politisch-militärischen Herrn der Welt wurde? Ein Beobachter des fünfzehnten Jahrhunderts hätte kaum auf Europa gesetzt, und wenn er an der weiteren Ausdehnung der chinesischen Macht gezweifelt hätte, dann hätte er vermutlich dem Osmanischen Reich eine solche Rolle zugetraut.

Immerhin hatten die Türken auf europäischem Boden Fuß gefasst und stießen nun kontinuierlich weiter vor, bis sie schließlich vor Wien standen. Aber schon im achtzehnten Jahrhundert fragten sich viele im Osmanenreich, wie es dazu kommen konnte, dass die zunächst so rückständigen und unterlegenen Europäer immer mächtiger geworden waren und inzwischen das Heft des Handelns in die Hand bekommen hatten.

Das ist auch Fergusons Frage, der er über weite Strecken seines Buches nachgeht. Für ihn gibt es jedoch nicht einen einzigen Grund für diesen Aufstieg, sondern ein ganzes Bündel von Ursachen: Da ist der Wettbewerb mehrerer Staaten, der die europäische Geschichte bestimmt und die Ausbildung von Selbstzufriedenheit blockiert hat; sodann eine dynamische Entwicklung der Wissenschaft, die eine sonst nirgendwo erreichte praktische Wirksamkeit erlangte; da ist weiterhin die Rechtsfigur des Eigentums, die Mühe und Anstrengung für den Einzelnen attraktiv werden ließ, und das obendrein in Verbindung mit einer Regierungsform, bei der die Eigentümer mehr und mehr Einfluss auf die Gestaltung der politischen Ordnung gewannen.

Eine besonders wichtige Rolle, so Ferguson, spielte die Medizin, die es den Europäern erlaubte, in Gebieten zu überleben, in denen andere zuvor von Krankheiten dezimiert und wieder herausgedrängt worden waren. Bei allen Greueltaten des Kolonialismus rubriziert Ferguson den medizinischen Fortschritt, den der Westen auch den Afrikanern gebracht habe, als eine Legitimation seiner Herrschaft, wie sie keine andere Macht für sich in Anspruch nehmen könne. Eine wichtige Rolle kam schließlich dem Konsum zu, insbesondere der Bekleidung, denn darüber ist die Massenkaufkraft entwickelt worden. Und schließlich ist da noch die Arbeitsethik, die innerhalb des Westens bestimmte Regionen zu herausgehobenen Zentren der Wertschöpfung werden ließ.

Ferguson nun hat dieses Ursachenbündel nicht als multikausalen Komplex für den Aufstieg des Westens definiert, sondern es nach dem Modell von Applikationen beschrieben, die man einzeln auf sein iPhone herunterladen kann. Das Aufholen der anderen gegenüber dem Westen ist danach als ein Herunterladen von Apps zu verstehen, bei dem einige auf mehr und andere auf weniger Apps Zugriff genommen haben.

Was Ferguson jedoch offenlässt, ist die Frage, ob zum Einholen des Westens alle Apps heruntergeladen werden müssen oder ob einige dafür genügen. Konkret: Wird China auch ohne demokratische Partizipation der Bevölkerung auf Dauer politisch stabil bleiben? Das aber ist die letztlich entscheidende Frage, zu deren Bearbeitung Ferguson den Weg geebnet, aber keine Antwort gegeben hat. So handelt es sich um eine spannende, vor allem technik- und wissensgeschichtlich angelegte Globalgeschichte der letzten Jahrhunderte.

Fergusons Sherpas, die für ihn lesen und sortieren (die letzten Bücher entstanden im Zusammenhang mit Dokumentationssendungen fürs Fernsehen), haben viel zusammengetragen, und Ferguson hat das Material geschickt aufbereitet. Das Buch liest sich gut, und bisweilen ist es sogar spannend. Aber die selbstgestellte Frage, um deren Beantwortung willen Ferguson den Gang durch die Geschichte unternommen hat, bleibt am Schluss offen oder wird vieldeutig beantwortet. So kann Ferguson, wie auch immer es kommt, sagen, er habe es vorausgesagt.

HERFRIED MÜNKLER.

Niall Ferguson: "Der Westen und der Rest der Welt". Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen.

Aus dem Englischen von Michael Bayer und Stephan Gebauer. Propyläen Verlag, Berlin 2011. 559 S., geb., 24,99 [Euro].

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