Als die deutsch-französische Dichterin Claire Goll am 30.Mai 1977 im Alter von 86 Jahren in Paris starb, wurde ihr Tod in Deutschland, wo sie geboren und aufgewachsen war, erst Wochen später bekannt. Nur vereinzelt erinnerten deutsche Zeitungen in kurzen Nachrufen noch einmal an die "Muse einer Generation", die von Künstlern und Dichtern umschwärmt worden war wie kaum eine andere Frau des 20.Jahrhunderts.
Es ist zu hoffen, dass sich für Claire Goll 25 Jahre nach ihrem Tod endlich ein - nicht nur unrühmlicher - Platz in der deutschen wie in der französischen Literaturgeschichte findet, die sie immerhin 60 Jahre lang in nicht unerheblichem Maße mitgestaltete.
Es ist zu hoffen, dass sich für Claire Goll 25 Jahre nach ihrem Tod endlich ein - nicht nur unrühmlicher - Platz in der deutschen wie in der französischen Literaturgeschichte findet, die sie immerhin 60 Jahre lang in nicht unerheblichem Maße mitgestaltete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2003Die Angsttänzerin
Susanne Nadolny schickt Claire Goll in die Besserungsanstalt
Für die Dichter, für die Künstler ihrer Zeit ist sie ein Objekt der Begierde gewesen. Viele wollten sie besitzen; alle hat sie gekannt: Majakowski und Einstein, Henry Miller, Chagall und Cocteau, auch James Joyce, den sie als "arktischen Fisch" bezeichnete. Lang ist die Liste ihrer Liebhaber. Kurt Wolff, der feinsinnige Verleger, war einer von ihnen; ein anderer war Rainer Maria Rilke. Noch am Tag ihrer ersten Begegnung, am 17. November 1918, will sie mit ihm geschlafen haben. In hauchdünnen Schleiern, munkelte man später, hätte sie vor dem Poeten getanzt, angezogen von der Erotik des Geistes, von der Ahnung des Genialen. Ihm konnte sie nie widerstehen, zeitlebens nicht.
Eine literarische Leidenschaft, das vor allem, ist ihre große Liebe, die glücklich schmerzvolle Ehe mit Yvan Goll gewesen. Ein Rausch aller Sinne, sexuelle Erfüllung, war sie nicht. Erst im höheren Alter von sechsundsiebzig Jahren habe ihr "ein zwanzigjähriger Junge" erstmals zum Höhepunkt verholfen, offenbarte Claire Goll nachher, 1976, in ihrer Autobiographie, die als literarische Chronique scandaleuse aufgenommen wurde.
Das Wahre und das Erfundene, das Mögliche und die Vermutung, Tatsachen und Gerüchte sind zur Legende verschmolzen, zum Bild von der Femme fatale, der verkannten Autorin und der fanatischen Witwe zuletzt, zu einem Eindruck, an dessen Stilisierung die Figur selbst nach Kräften mitwirkte. So ist ihre Geschichte eine Herausforderung für jeden Biographen. Um sie zu bewältigen, müßte er sich vorurteilsfrei auf dieses Leben einlassen, ohne das Vergangene an der eigenen Zeit messen zu wollen. Wie gerade dies, die naseweise Benotung der historischen Person durch die Nachgeborenen, noch das Ungewöhnlichste banalisiert, zeigt die Bild-Text-Collage, die Susanne Nadolny jetzt in der Berliner edition ebersbach vorgelegt hat.
Zwar gesteht die Literaturwissenschaftlerin aus Dortmund ihrer Figur zu, daß "sie sich auch in der Partnerschaft produktiv weiterentwickelt" habe. Doch kommt die Biographin dann ebenso so schnell zu der Feststellung, daß die Chance "ungenutzt" blieb, weil sich Claire Goll selbst in den "Schatten" der Männer gestellt; Yvan Goll als die größere Begabung anerkannt habe. "Ihre Lebensgeschichte", so die Autorin, "läßt sich auch als warnendes Beispiel für die Mittäterschaft des vermeintlichen Opfers ,Frau' lesen, die ihr eigenes Schaffen auf erschreckende Weise ins Abseits stellt."
In der Tat, dem formalistischen Emanzipationsverständnis unserer Tage kann Claire Goll nicht entsprechen. Das wäre ihr so fremd wie das Hausfrauenideal früherer Epochen, abschreckend durch seine biedermeierliche Beschränkung. Zum feministischen Lehrstück will ihr Schicksal nicht taugen. Das ideologisierte Rollenverständnis hätte sich nicht vertragen mit der beanspruchten Unabhängigkeit - einer Unabhängigkeit vom geschlechtlich bestimmten Rollenverständnis.
Die tragisch verhinderte Mutter, als die sie Susanne Nadolny gern darstellen möchte, ist Claire Goll nie gewesen. Was die Biographin hier "erahnen" will, läßt sich nicht belegen. Zu der Tochter aus erster Ehe, für die dem Vater, Heinrich Studer, das Sorgerecht zugesprochen wurde, bestand ein durchaus sachliches Verhältnis. Daß die Mutter wenigstens in den ersten Jahren von dem Kind "hingerissen" war, bleibt eine Annahme, die sich am Ende wie der überflüssige Versuch moralischer Rechtfertigung ausnimmt. Die bürgerlichen Normen, denen die Biographie damit genügen soll, sind nicht die der Künstlerin Claire Goll gewesen. Und es stimmt auch nicht, daß erst Jürgen Serke, mit dem Porträt in seinen "Verbrannten Dichtern" das "Bild von der Megäre Claire Goll" entscheidend geprägt habe. All diese Versuche, etwas "Besseres" anzunehmen, als die Persönlichkeit darstellen wollte, sind von vornherein irreführend, unvereinbar mit einem Zynismus, der Ausdruck gesammelter Erfahrung war.
Der Schlüssel zu diesem aufgebrachten Leben hätte sich in einem Gedicht von Yvan Goll gefunden. "Die Angsttänzerin" heißt es, und lesen kann man darin unter anderem: "Du bist eine Angst-Tänzerin als Herbstzeitlose verkleidet / Im Kreis von roten Kriegern beschwingt dich Knochenmusik / Doch nimmer sprengst du den Kreis und nimmer schwebst du zu mir." Aus der Einsamkeit, wußte der Geliebte, war die Ekstase seiner Frau erwachsen, aus der Erinnerung an die Prügel der herzlosen Mutter, aus der Sucht nach der Verdrängung, nach dem Vergessen im Zorn und in den Affären. Sie gehörten zu ihrem Leben wie die sehnsüchtige Bindung an Yvan Goll, den Dichter, ohne den sie nicht sein konnte.
Noch als Witwe blieb sie ihm fieberhaft verbunden. Einen Selbstmordversuch hatte sie 1938 unternommen, als sie fürchten mußte, ihn an eine andere Dichterin, an Paula Ludwig, zu verlieren. Der Abschiedsbrief, den sie damals schrieb, zählt zum schönsten, was die intime Literatur bis heute kennt. "Sei gesegnet", heißt es da, "sei gesegnet, Geliebter, für die langen Jahre Güte. Und sei bedankt für alles Unnennbare. Nicht traurig sein, mein großes Kind! Denke an Deine Kunst; vielleicht macht sie die Trauer tiefer und größer." Daß sie später einräumte, hinter dem Gedanken an den Freitod habe auch die Absicht der "Erpressung" gestanden, ändert nichts am poetischen Ausdruck des Schmerzes. In ihm fand Claire Goll zu sich. Und wer sie verstehen will, der sollte sich vor allem die Fotos anschauen, das melancholisch verhangene Gesicht mit den großen Augen, die Züge einer Frau, der die Künstler nicht widerstehen konnten. Verführerisch wirken viele der alten Aufnahmen bis heute. Allein ihretwegen lohnt es, in dem neuen Buch über Claire Goll zu blättern.
THOMAS RIETZSCHEL
Susanne Nadolny: "Claire Goll". Bildbiographie. edition ebersbach, Berlin 2002. 160 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Susanne Nadolny schickt Claire Goll in die Besserungsanstalt
Für die Dichter, für die Künstler ihrer Zeit ist sie ein Objekt der Begierde gewesen. Viele wollten sie besitzen; alle hat sie gekannt: Majakowski und Einstein, Henry Miller, Chagall und Cocteau, auch James Joyce, den sie als "arktischen Fisch" bezeichnete. Lang ist die Liste ihrer Liebhaber. Kurt Wolff, der feinsinnige Verleger, war einer von ihnen; ein anderer war Rainer Maria Rilke. Noch am Tag ihrer ersten Begegnung, am 17. November 1918, will sie mit ihm geschlafen haben. In hauchdünnen Schleiern, munkelte man später, hätte sie vor dem Poeten getanzt, angezogen von der Erotik des Geistes, von der Ahnung des Genialen. Ihm konnte sie nie widerstehen, zeitlebens nicht.
Eine literarische Leidenschaft, das vor allem, ist ihre große Liebe, die glücklich schmerzvolle Ehe mit Yvan Goll gewesen. Ein Rausch aller Sinne, sexuelle Erfüllung, war sie nicht. Erst im höheren Alter von sechsundsiebzig Jahren habe ihr "ein zwanzigjähriger Junge" erstmals zum Höhepunkt verholfen, offenbarte Claire Goll nachher, 1976, in ihrer Autobiographie, die als literarische Chronique scandaleuse aufgenommen wurde.
Das Wahre und das Erfundene, das Mögliche und die Vermutung, Tatsachen und Gerüchte sind zur Legende verschmolzen, zum Bild von der Femme fatale, der verkannten Autorin und der fanatischen Witwe zuletzt, zu einem Eindruck, an dessen Stilisierung die Figur selbst nach Kräften mitwirkte. So ist ihre Geschichte eine Herausforderung für jeden Biographen. Um sie zu bewältigen, müßte er sich vorurteilsfrei auf dieses Leben einlassen, ohne das Vergangene an der eigenen Zeit messen zu wollen. Wie gerade dies, die naseweise Benotung der historischen Person durch die Nachgeborenen, noch das Ungewöhnlichste banalisiert, zeigt die Bild-Text-Collage, die Susanne Nadolny jetzt in der Berliner edition ebersbach vorgelegt hat.
Zwar gesteht die Literaturwissenschaftlerin aus Dortmund ihrer Figur zu, daß "sie sich auch in der Partnerschaft produktiv weiterentwickelt" habe. Doch kommt die Biographin dann ebenso so schnell zu der Feststellung, daß die Chance "ungenutzt" blieb, weil sich Claire Goll selbst in den "Schatten" der Männer gestellt; Yvan Goll als die größere Begabung anerkannt habe. "Ihre Lebensgeschichte", so die Autorin, "läßt sich auch als warnendes Beispiel für die Mittäterschaft des vermeintlichen Opfers ,Frau' lesen, die ihr eigenes Schaffen auf erschreckende Weise ins Abseits stellt."
In der Tat, dem formalistischen Emanzipationsverständnis unserer Tage kann Claire Goll nicht entsprechen. Das wäre ihr so fremd wie das Hausfrauenideal früherer Epochen, abschreckend durch seine biedermeierliche Beschränkung. Zum feministischen Lehrstück will ihr Schicksal nicht taugen. Das ideologisierte Rollenverständnis hätte sich nicht vertragen mit der beanspruchten Unabhängigkeit - einer Unabhängigkeit vom geschlechtlich bestimmten Rollenverständnis.
Die tragisch verhinderte Mutter, als die sie Susanne Nadolny gern darstellen möchte, ist Claire Goll nie gewesen. Was die Biographin hier "erahnen" will, läßt sich nicht belegen. Zu der Tochter aus erster Ehe, für die dem Vater, Heinrich Studer, das Sorgerecht zugesprochen wurde, bestand ein durchaus sachliches Verhältnis. Daß die Mutter wenigstens in den ersten Jahren von dem Kind "hingerissen" war, bleibt eine Annahme, die sich am Ende wie der überflüssige Versuch moralischer Rechtfertigung ausnimmt. Die bürgerlichen Normen, denen die Biographie damit genügen soll, sind nicht die der Künstlerin Claire Goll gewesen. Und es stimmt auch nicht, daß erst Jürgen Serke, mit dem Porträt in seinen "Verbrannten Dichtern" das "Bild von der Megäre Claire Goll" entscheidend geprägt habe. All diese Versuche, etwas "Besseres" anzunehmen, als die Persönlichkeit darstellen wollte, sind von vornherein irreführend, unvereinbar mit einem Zynismus, der Ausdruck gesammelter Erfahrung war.
Der Schlüssel zu diesem aufgebrachten Leben hätte sich in einem Gedicht von Yvan Goll gefunden. "Die Angsttänzerin" heißt es, und lesen kann man darin unter anderem: "Du bist eine Angst-Tänzerin als Herbstzeitlose verkleidet / Im Kreis von roten Kriegern beschwingt dich Knochenmusik / Doch nimmer sprengst du den Kreis und nimmer schwebst du zu mir." Aus der Einsamkeit, wußte der Geliebte, war die Ekstase seiner Frau erwachsen, aus der Erinnerung an die Prügel der herzlosen Mutter, aus der Sucht nach der Verdrängung, nach dem Vergessen im Zorn und in den Affären. Sie gehörten zu ihrem Leben wie die sehnsüchtige Bindung an Yvan Goll, den Dichter, ohne den sie nicht sein konnte.
Noch als Witwe blieb sie ihm fieberhaft verbunden. Einen Selbstmordversuch hatte sie 1938 unternommen, als sie fürchten mußte, ihn an eine andere Dichterin, an Paula Ludwig, zu verlieren. Der Abschiedsbrief, den sie damals schrieb, zählt zum schönsten, was die intime Literatur bis heute kennt. "Sei gesegnet", heißt es da, "sei gesegnet, Geliebter, für die langen Jahre Güte. Und sei bedankt für alles Unnennbare. Nicht traurig sein, mein großes Kind! Denke an Deine Kunst; vielleicht macht sie die Trauer tiefer und größer." Daß sie später einräumte, hinter dem Gedanken an den Freitod habe auch die Absicht der "Erpressung" gestanden, ändert nichts am poetischen Ausdruck des Schmerzes. In ihm fand Claire Goll zu sich. Und wer sie verstehen will, der sollte sich vor allem die Fotos anschauen, das melancholisch verhangene Gesicht mit den großen Augen, die Züge einer Frau, der die Künstler nicht widerstehen konnten. Verführerisch wirken viele der alten Aufnahmen bis heute. Allein ihretwegen lohnt es, in dem neuen Buch über Claire Goll zu blättern.
THOMAS RIETZSCHEL
Susanne Nadolny: "Claire Goll". Bildbiographie. edition ebersbach, Berlin 2002. 160 S., geb., 35,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Thomas Rietzschel sieht in Claire Goll eine "Herausforderung für jeden Biografen", da sie selbst an der Stilisierung ihrer Person kräftig mitgewirkt habe. Doch die vorliegende Biografie wird nach Ansicht des Rezensenten der ungewöhnlichen Künstlerin keineswegs gerecht. Er ärgert sich über die "naseweise Benotung" der Protagonistin mit den Maßstäben der heutigen Zeit, und er bedauert, dass sich die Autorin in ihrem Buch nicht "vorurteilsfrei" mit Claire Goll beschäftige. Nadolny habe noch das "Ungewöhnlichste" dieser Frau "banalisiert" ärgert sich der Rezensent. Wenn dieses Buch irgendetwas zu bieten habe, so Rietzschel abschließend, so seien es die Fotos, die mehr über Goll vermitteln könnten als die Urteile und Spekulationen der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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