„Alles, was nicht auf Liebe gebaut ist, bringt Hass hervor!“ (351)
Bereits die Vorbemerkungen zu Claraboia werfen Fragen auf. José Saramago (1922 – 2010) schrieb Claraboia während der Salazar-Diktatur und reichte den Roman 1953 einem Verlag ein. 1988, also 35 Jahre später, äußerte der Verlag sich
zu dem Buch und bot an, es zu veröffentlichen. Auf der gleichen Seite heißt es, dass der Verlag die…mehr„Alles, was nicht auf Liebe gebaut ist, bringt Hass hervor!“ (351)
Bereits die Vorbemerkungen zu Claraboia werfen Fragen auf. José Saramago (1922 – 2010) schrieb Claraboia während der Salazar-Diktatur und reichte den Roman 1953 einem Verlag ein. 1988, also 35 Jahre später, äußerte der Verlag sich zu dem Buch und bot an, es zu veröffentlichen. Auf der gleichen Seite heißt es, dass der Verlag die Antwort auf das Manuskript 47 Jahre lang schuldig geblieben ist. Das passt nicht zusammen. (5)
Weiterhin steht dort, Claraboia sei kein politischer Roman und nur wegen der gesellschaftlichen Tabubrüche nicht veröffentlicht worden. (8) Das Buch lässt sich sehr wohl (auch) politisch interpretieren und ich glaube, dass es aus diesem Grund nicht veröffentlicht wurde. Des Weiteren teile ich nicht die Auffassung des Verlages im Klappentext, dass durch den Untermieter Abel Nogueira frischer Wind in die Hausgemeinschaft kommt. Abel erfüllt eher eine Funktion auf der Metaebene.
Der Roman bewegt sich m.E. auf zwei Ebenen. Auf der Handlungsebene beschreibt Saramago das kleinbürgerliche Leben der Bewohner des Mietshauses und auf einer Metaebene diskutiert der intelligente Schuster Silvestre mit dem Untermieter Abel Nogueira über gesellschaftspolitische Fragen. Abel greift nicht direkt in das Geschehen ein und hat kaum Kontakt zu den anderen Mietern, dennoch spiegelt sich sein pessimistisches Weltbild im Mikrokosmos des Mietshauses wider.
Saramago beschreibt die Verhältnisse in einem portugiesischen Mietshaus im Lissabon der 1940er Jahre. 6 Parteien, verteilt auf 3 Etagen, wohnen in dem Block. Im Erdgeschoss leben der Schuster Silvestre mit seiner Ehefrau Mariana sowie die Galicierin Carmen mit ihrem Ehemann, dem Handelsvertreter Emílio Fonseco. Silvstre nimmt den jungen Untermieter Abel Nogueira auf.
Im ersten Obergeschoss wohnt Dona Justina mit ihrem Ehemann Caetano Cunha, der bei einer Zeitung arbeitet. Sie haben ihre Tochter vor 2 Jahren verloren. Ihnen gegenüber lebt Dona Lídia, die Geliebte des reichen Fabrikanten Paulino Morais. Im zweiten Obergeschoss ist Dona Rosália mit ihrem Ehemann Anselmo und ihrer neunzehnjährigen Tochter Maria Claudia ansässig. Ihnen gegenüber wohnt die Witwe Cândida mit ihren Töchtern Isaura und Adriana sowie ihrer jüngeren Schwester Amélia, einer Wirtschafterin.
Hinter der kleinbürgerlichen Fassade brodelt es mächtig. Beziehungskrisen, Konflikte und Intrigen bestimmen den Alltag. Misstrauen, Vergewaltigung, Prostitution und Hass werfen ein düsteres Licht auf die Bewohner. Wenn das Mietshaus ein Spiegelbild der Gesellschaft darstellen soll, muss es um deren Moral schlecht bestellt sein. Wenn die Verhältnisse im Mietshaus als Symbol für die politischen Verhältnisse in der Salazar-Diktatur interpretiert werden, werden auch die Tabubrüche plausibel.
Die politischen Bezüge werden besonders in Kapitel 21 deutlich, wo Schuster Silvestre über seine subversive Vergangenheit erzählt. „Aber nun musste man den Mund halten. Und ich schwieg. Um diese Zeit habe ich meine Mariana kennen gelernt.“ (192) Das ist in Kurzform eine politische Situationsbeschreibung einschließlich seiner Antwort darauf. Abel denkt eher handlungsorientiert. Da er einen Sinn nur mit dem Verstand und nicht mit dem Gefühl erfassen kann („einlullenden Illusionen wie Liebe“ (351)), bleibt er ein Pessimist.
Bei diesem Roman handelt es sich um eine wiedergefundene Perle. In ihm spiegelt sich der Zeitgeist der Salazar-Diktatur wider. Saramago beschreibt nicht nur Unzufriedenheit, Hass und Gewalt, sondern liefert auch Antworten auf essentielle Fragen. Die heutige Gesellschaft ist freier und auch die heutigen Romane sind freizügiger, aber die beschriebenen Krisen und Konflikte sind zeitlos. Es handelt sich um einen Roman, mit dem ich mich gern beschäftigt habe.