Produktdetails
  • Verlag: Knv Import; Vintage, London
  • Englisch
  • Abmessung: 17, 5 cm
  • Gewicht: 165g
  • ISBN-13: 9780099507253
  • ISBN-10: 0099507250
  • Artikelnr.: 21299574
Autorenporträt
Tim Parks wurde 1954 in Manchester geboren, wuchs in London auf und studierte in Cambridge und Harvard. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Somerset-Maugham-Award. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist er als Übersetzer (u. a. von Italo Calvino und Alberto Moravia) tätig und unterrichtet Literarisches Übersetzen an der Universität von Mailand. Tim Parks lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Verona.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2006

Das Ende vom Rauschen
Journalisten in der Midlifecrisis: Tim Parks’ Roman „Stille”
Ein schnelles Leben, immer auf der Jagd nach der nächsten Sensation, Körper und Geist scannen jedes Erlebnis in Hinsicht auf seine mediale Verwertbarkeit und die Schärfung des eigenen Profils: der Fernsehjournalist Harold Cleaver hat es eines Tages satt, sein Leben als Medienprofi. Er steigt in London Gatwick ins nächste Flugzeug nach Mailand. Er will sich verkriechen, irgendwo in den Südtiroler Bergen, wo sein Handy keinen Empfang hat. Niemand soll ihn mehr erreichen, die Frau nicht, mit der er seit dreißig Jahren ohne Trauschein zusammenlebt und die ihm vier Kinder geboren hat, aber ebenso wenig all die anderen Frauen, mit denen er ins Bett gegangen ist, sein Sender schon gar nicht, und die Nachrichten aus aller Welt können ihm ohnehin gestohlen bleiben. Das riecht nach Midlifecrisis. Und tatsächlich lenkt Tim Parks den ganzen Roman durchs Bewusstsein seines fünfundfünfzigjährigen Helden.
Das aber macht er so geschickt, dass der im Original „Cleaver”, in der deutschen Übersetzung von Ulrike Becker treffend „Stille” betitelte Roman weit mehr ist als nur das Porträt eines Mannes in der Krise. In lockerer Diktion, die bei aller Trockenheit Emotionen aufsaugt wie ein Löschpapier, erzählt er von den Stimmen im Kopf eines jeden Menschen, der im weitesten Sinne mit Medien zu tun hat. Und sind nicht die meisten längst Medien-Junkies, den Finger an der Fernbedienung, immer auf dem Weg ins Netz, am heimischen PC, im Internetcafé, das Handy am Ohr oder in den Händen? Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist, zumindest wenn er in der westlichen Hemisphäre lebt, ein Kakophoniker. In seinem Kopf lärmt und tost es. Kein Wunder, dass er sich nach Stille sehnt.
Der 1954 in Manchester geborene, seit langem in Verona lebende Tim Parks, dessen Romane Witz und Tiefsinn geschmeidig vereinen, gibt seinem Helden einen handfesten Grund, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Eben erst hat er den amerikanischen Präsidenten interviewt und vor laufender Kamera demontiert, da erscheint die als Roman getarnte Autobiographie seines ältesten Sohnes. Auf dem Gipfel seines Ruhms steht er nun plötzlich da wie nackt. Jeder wird sehen können, dass Harold Cleaver nicht nur ein harter journalistischer Brocken ist, der bei Bedarf den charmanten Plauderer gibt, sondern auch der von seiner Lebensgefährtin „Harry” genannte Familienvater. Für einen guten Witz, eine schmissige Pointe gibt er preis, was niemals preisgegeben werden dürfte: das Liebesbedürfnis und die Schwächen der ihm nächsten Menschen, deren innere Kompassnadeln auf ihn gerichtet sind.
Ein gutes Schmieröl
Natürlich nimmt er das Machwerk seines Sohnes nicht mit ins selbst gewählte Eremitendasein. Doch „Im Schatten des Allmächtigen” hat sich längst in sein Gedächtnis eingebrannt. Ganze Passagen kann er auswendig. Wut und Schmerz bilden ein gutes Schmieröl für den mnemotechnischen Aufzeichnungsapparat. Wie sehr sie das Bild allerdings verfälschen, ist nicht zu sagen. Und daraus schlägt Tim Parks gehörig Kapital. Denn was immer Harold Cleaver vom Buch des Sohnes wiedergibt, und das ist eine Menge, hat den Filter eines zutiefst verletzten Bewusstseins passiert. Was der Sohn wirklich geschrieben hat, ist von dem, was sein Vater erinnert, nicht zu unterscheiden. Und so wird das Gericht, das der eine über den anderen hält, automatisch auch zum Selbstgericht. Während sich der Medienprofi in Harold noch in gewohnter Empörungsmanier aufbläht, kommt langsam auch ein anderer zum Vorschein: ein Mann, dem das Leben eine Wunde geschlagen hat, deren Verletzung tiefer reicht als es eine öffentliche Demontage jemals bewirken könnte.
Angela, die Zwillingsschwester des ältesten Sohnes, ist vor Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Sie war schön, lässig, musikalisch und mit einem Gottvertrauen dem Leben gegenüber gesegnet, das sie für jeden anziehend erscheinen ließ. Auch für den Vater, der sich eingestehen muss, dass der Tod keines anderen ihn jemals so hätte treffen können wie der seiner achtzehnjährigen Tochter. Doch lange war er dem Schmerz ausgewichen. Nur seine Geliebten wurden immer jünger. Erst in der ablenkungsfreien Zone der Südtiroler Berge wird ihm klar, dass er nach dem Tod der Tochter weniger auf Sex aus gewesen ist als auf die Lebensgeschichten der jungen Frauen. Wie ein Vampir hat er sie ausgesaugt, hat sich ihre Hoffnungen und Enttäuschungen erzählen lassen, bis er selbst zu einer wurde.
Die österreichische Versuchung
Die Erzählkunst von Tim Parks zeigt sich auch darin, dass er niemals ins Moralisieren gerät. Alles ist in Handlung aufgelöst. So wird der Protagonist nicht zum Objekt eines besserwisserischen Autors, sondern zu einer Figur, die von Selbsterkenntnis geradezu heimgesucht wird. Kaum ist es Harold endlich gelungen, das mediale Getöse abzustellen, schon beschäftigt er sich mit den wenigen Personen, die ihn in seiner Enklave umgeben. Ein paar Menschen genügen, die Vermieterin und ihre Familie, damit er sein eigenes Familiendrama stellvertretend nachvollzieht. Dass die Sprachbarriere – er spricht so gut wie kein Deutsch – Nachfragen erschwert, fördert die Imagination. Auch wenn der Leser immer wieder fürchten muss, dass der Roman irgendwann doch in die Saga vom ewigen Inzest abgleitet, hält der Autor gerade noch genügend Abstand zum Klischee. Die österreichische Versuchung, in jeder Familie dunkle Geheimnisse am Werk zu sehen, wird durch eine Spur Italianität gut in Schach gehalten.
Und so wird aus dem Medienprofi Harold Cleaver, der, mal wütend, mal humorvoll, mal gottergeben, immer aber mit großer Energie über sich und die Welt nachdenkt, am Ende selbst eine Art Medium: durchlässig für Erfahrungen, die er früher glaubte, abwehren zu müssen. Das schöne Wortspiel, das im englischen Original seinen Namen so sinnfällig macht, lässt sich leider nicht ins Deutsche übertragen. „Cleaver hatte es schon immer faszinierend gefunden, dass sein Name Hackbeil bedeutete, etwas, womit man Dinge, Fleisch zumeist, in zwei Teile hauen konnte, während das Verb to cleave zugleich bedeuten konnte, jemandem treu zu sein, ein Teil von ihm oder ihr zu werden.” MEIKE FESSMANN
TIM PARKS: Stille. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 359 Seiten, 22 Euro.
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