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Die Geschichte der klösterlichen Gemeinschaft von Cluny, Trägerin einer der wichtigsten Reformbewegungen der abendländischen Kirche, dargestellt in ihrer vielschichtigen Bedeutung für die europäische Kulturgeschichte von dem führenden Cluny-Forscher Europas.

Produktbeschreibung
Die Geschichte der klösterlichen Gemeinschaft von Cluny, Trägerin einer der wichtigsten Reformbewegungen der abendländischen Kirche, dargestellt in ihrer vielschichtigen Bedeutung für die europäische Kulturgeschichte von dem führenden Cluny-Forscher Europas.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.1996

Europäischer Synchrongesang
Joachim Wollasch über Aufstieg und Niedergang des Klosters Cluny

Es ist Nacht. Ein gewaltiger Sturm fegt über das Südtyrrhenische Meer. Ein Schiff voll mit Jerusalem-Pilgern, die auf der Rückreise nach Frankreich gerade den Messinakanal überquert haben, ist in äußerster Not. Das Schiff wird auf die scharfen Klippen einer Vulkaninsel zugetrieben. Durch ein gefährliches Manöver gelingt es dem Steuermann, den Weg zu einer geschützten Bucht zu finden. Auf dem Land empfängt ein Klausner die Seefahrer. Als der heilige Mann von einem Pilger erfährt, daß er aus Aquitanien stammt, fällt er ihm beinahe um den Hals: Er komme aus dem Lande, wo Cluny liegt und wo der ehrwürdige Abt Odilo und seine Brüder unaufhörlich beten. Aber woher, fragt der Aquitanier, kenne der sizilianische Einsiedler ein so fern gelegenes Kloster? Nun, er wohne in der Nähe des Vulkankraters und habe so oft die Flüche gehört, welche die Teufel im unten brennenden Fegefeuer gegen Abt Odilo und seine Brüder in Cluny ausstoßen. Immer mehr von den dort gepeinigten Seelen schaffen nämlich den Ausbruch in die Seligkeit durch den Kamin des Purgatoriums, und zwar kraft der Gebete aus Cluny. Möge er, in seine Heimat zurückgekehrt, dem Abt und den Seinen berichten, daß die Gebete ihre Wirkung nicht verfehlten. Als Abt Odilo über den heimgekehrten Aquitanier die Botschaft des Einsiedlers erfährt, freut er sich und läßt den Erfolg durch die ganze Gemeinschaft von Cluny am nächsten 2. November feiern. Der Jahrestag bürgerte sich ein - zuerst bei den betenden Mönchen, danach in der gesamten Christenheit. So entstand an der Jahrtausendwende das Allerseelenfest.

Was war das für eine Mönchsgemeinschaft, deren Abt die Macht hatte, einen neuen Festtag in die Liturgie der ganzen Kirche einzuführen? Welcher Art waren jene Gebete, die die Teufel so fürchten mußten? Was hielten Bischöfe und Päpste von diesen Mönchen, die den übrigen Klerus so in den Schatten stellten? Wie lassen sich der enorme Erfolg der Cluniazenser im elften Jahrhundert und später der rasche Niedergang der Gemeinschaft erklären? Joachim Wollaschs Buch über Cluny beantwortet diese und viele andere Fragen. Der Münsteraner Historiker, Verfasser grundlegender dokumentarischer Studien über die cluniazensische Bewegung, legt anhand einer unglaublichen Fülle von Informationen, Namen, Daten und Fakten Anfänge, Blüte und Niedergang dieser Mönchsgemeinschaft dar, die von einem 909/910 in Burgund gegründeten Kloster ausging und eine strengere Observanz sowohl in neuen als auch in bereits bestehenden Klöstern in halb Europa verbreitete. Es handelte sich nicht um einen neuen Orden, sondern um eine Kongregation von Benediktinern, die sich vor allem durch eine rigide Liturgie und disziplinierten Lebenswandel auszeichneten und die dem Abt des Mutterhauses Cluny unterstellt waren, wobei Cluny von Landesherren und Ortsbischof unabhängig war.

Die liturgischen Bräuche waren legendär, und sie waren der Stolz der Kongregation. Wollaschs sorgfältige Rekonstruktion des Tagesablaufes eines Cluniazensers ist beeindruckend: Bereits eine Stunde nach Mitternacht begann der Mönch mit den Gebeten. Er sang etwa anderthalb Stunden lang die beiden nächtlichen Gebetszeiten, die erste und zweite Vigil. Nachher durfte er nochmals für kurze Zeit ins Bett. Mit Anbruch der Dämmerung stand er für die Matutin auf. Nach der Morgentoilette, um fünf Uhr, mit Sonnenaufgang, wie die Benediktsregel vorsah, rief die Glocke zur Prim, die etwa eine halbe Stunde dauerte. Es folgten Primkapitel, morgendliche Meßfeier, Terz, Konventsmesse und Privatmessen. Statt 150 Psalmen des Psalters in einer Woche, wie die Benediktsregel vorschrieb, brachte es der Cluniazenser in seinen besten Zeiten auf über 200 Psalmen pro Tag.

Die ganze Gemeinschaft führte einheitliche Totenbücher. Für die Seele eines verstorbenen Mitglieds oder eines Wohltäters von Cluny setzte sich einmal im Jahr eine Phalanx Tausender in ganz Europa perfekt synchronisiert psalmodierender Mönche in Bewegung. Die uns erhaltenen Nekrologien von Cluny sind übrigens, wie Wollasch mit Recht hervorhebt, eine einmalige geschichtliche Quelle: sie enthalten die Namen von etwa 48000 "Mönchen unserer Gemeinschaft", gestorben vom zehnten bis zum zwölften Jahrhundert.

Hinter dieser Riesenzahl verbirgt sich vielleicht auch das Geheimnis der Schwierigkeiten, die das reiche Kloster Cluny im zwölften Jahrhundert plagten. "Jeder Eintrag eines verstorbenen Cluniacensers, abgesehen von den liturgischen Gedenkleistungen für diesen", bedeutete nämlich auch "die Ausgabe einer Tagesration mönchischer Verpflegung für einen Armen zum Gedenken an den Toten". So wurde die Gemeinschaft von dreihundert bis vierhundert Brüdern im Jahr mit 18250 solcher Präbenden für die Armen belastet - ein heroisches, aber auf längere Sicht untragbares Pensum selbst für ein Kloster, das im Jahr 972 seinen von den Sarazenen gefangengenommenen Abt Maiolus durch die stolze Summe von tausend Pfund Silber Lösegeld hatte zurückkaufen können und dessen Abt noch zur Zeit Bernhards von Clairvaux wie ein Fürst mit mindestens sechzig Pferden im Gefolge reiste.

Wollasch erzählt die Geschichte von Cluny und seinen Äbten mit profunder Sachkenntnis. Er teilt uns sogar die Zusammensetzung der drei Mahlzeiten des Cluniazensers mit (darunter ein halber Liter Wein). Jede Seite macht den Leser mit neuen Namen, neuen Ortschaften und neuen Dokumenten bekannt. Die detailfreudige Kleinarbeit Wollaschs erweckt die vergangene Welt um die erste Jahrtausendwende zu neuem Leben. Doch auch das bunteste Fresko hat seine kleinen blinden Flecken. Man erfährt in diesem Buch nichts über die 520 Bände, die die alte Bibliothek von Cluny berühmt machten, und unerwähnt bleibt der seltsame Fall des Bruders Dietrich, der sich anno 1042 ein Exemplar der philosophischen Kosmographie des Aethicus Hister auslieh (man las also in Cluny nicht nur Psalmen!). Die vielen Intellektuellen, die in den Einflußbereich der Cluniazenser gerieten (darunter Wilhelm von Champeaux und Abaelard), werden alle genannt, unbeantwortet bleibt aber die Frage, ob man in Cluny eine kulturpolitische Strategie zu entwickeln versuchte.

Die "Visionenmeldepflicht", die unter Abt Odilo galt, ist vielleicht in diesem Sinne zu lesen. Wollasch interpretiert sie aufklärerisch: "Ein Bruder, der eine Vision hatte und sie nicht sofort dem Abt mitteilte, wurde bestraft. Offensichtlich sollte so vermieden werden, daß die Konventualen einander mit Erzählungen von Visionen in Unruhe brachten." Die Meldungen der Mönche wurden allerdings mit frommer Neugier gesammelt, in die Biographien der prominenten Cluniazenser eingebaut und in der Öffentlichkeit verbreitet. Und sie verfehlten ihr Ziel nicht. Das alte Cluny ist seit Jahrhunderten ein Haufen von Trümmern. Daß Clunys Ideale trotzdem noch heute wirken, ist einer von jenen Visionen, nämlich der des sizilianischen Einsiedlers, zu verdanken. LORIS STURLESE

Joachim Wollasch: "Cluny - Licht der Welt". Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft. Verlag Artemis und Winkler, Zürich, Düsseldorf 1996. 383 S., Abb., geb., 68,- DM.

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