Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.1995Ein geheimer Gegenstand
In Bletchley war der Krieg die Schule der Demokratie
F. H. Hinsley, Alan Stripp (Herausgeber): Code Breakers. The inside story of Bletchley Park. Oxford University Press, Oxford 1993. 321 Seiten, Abbildungen, 17,95 Pfund.
Das Gerät sieht aus wie eine Schreibmaschine. Klappt man den Deckel auf, liest man eine Warnung. "Dies ist ein geheimer Gegenstand im Sinne des § 88 des Reichsstrafgesetzbuches (Fassung vom 24. April 1934). Mißbrauch wird nach den Bestimmungen des Gesetzes bestraft, sofern nicht andere Strafbedingungen in Frage kommen." Die Drohung hat nichts genutzt. Der Feind löste die Rätsel, die die Enigma-Maschine aufgab.
In Bletchley Park, einem viktorianischen Landsitz in Buckinghamshire nahe dem Schnittpunkt der Eisenbahnlinien von London in den Norden und von Oxford nach Cambridge, wurde der Funkverkehr der deutschen Streitkräfte entschlüsselt. Wer für die Government Code and Cypher School rekrutiert wurde, mußte sich zu strengstem Stillschweigen verpflichten. Selbst vor der Gattin stand er als Feigling da, der undefinierbare Büroarbeit in der Provinz verrichtete, während die Freunde auf den Schlachtfeldern starben. Erst in den siebziger Jahren brach ein Offizier den Ehrenkodex. Vorher hatten nur Eingeweihte verstanden, wen Churchill in seinen Kriegserinnerungen "unsere Spione in Deutschland" genannt hatte. Heute dürfen die Veteranen endlich ihre Geschichte erzählen.
Harry Hinsley, Jahrgang 1918, und Alan Stripp, Jahrgang 1924, haben ihre Kameraden um Erinnerungen gebeten. Herausgekommen ist ein merkwürdiges und überaus faszinierendes Buch, halb lebensgeschichtliche Quelle, halb akademische Darstellung. Es ist auf mancherlei Weise esoterisch, im nostalgischen Ton der old boys - und girls - wie im mathematischen und elektrotechnischen Detail; trotzdem ist es in England ein überraschender Verkaufserfolg. Die sorgfältige Beweisaufnahme des Berufshistorikers steht neben dem anekdotischen Zeugnis des Amateurs.
Dieses Doppelgesicht trug Bletchley schon im Krieg. Die Kryptographie ist eine Sache von Liebhabern, von denen professionelle Perfektion verlangt wird. Den Wissenschaftler prädestiniert für diese Aufgabe vielleicht weniger das systematische als das schweifende Denken, das zweckfreie Spiel in Einsamkeit und Freiheit. Die Fachleute für oral history mögen entscheiden, ob die Rechenschaft der Fachleute verläßlicher ist als das Gedächtnis der Laien.
In der Natur des Gegenstandes liegt es, daß Täuschung und Wahrheit schwer zu trennen sind. Viele Fährten erwiesen sich als falsch, indes der naheliegende Weg verschmäht wurde. Die Nachricht, deren Dechiffrierung den größten Scharfsinn erforderte, mochte nutzlos sein. Wenn die Armeen weitergezogen und die Wolken verschwunden waren, war der schließlich gefundene Schlüssel nur noch ein Hilfswerkzeug für neue Entschlüsselungen.
Die Enigma-Maschine ersetzt jeden Buchstaben durch einen anderen. Man drückt eine Taste, eine Lampe leuchtet auf. Diese Ersetzung ist das sichtbare Ergebnis einer Kette unsichtbarer Ersetzungen in einem System von Walzen und Steckkontakten. Mit jedem Buchstaben verändert sich die Stellung der Walzen. Tippt man mehrmals denselben Buchstaben, erhält man jeweils ein anderes Resultat. Die Einstellung der Maschine wurde jeden Tag geändert. Es gab 159 Trillionen Möglichkeiten.
Das Genie von Bletchley war Alan Turing, der Erfinder der Turing-Maschine, die jede andere Maschine simulieren kann. Die Enigma-Maschine wurde in Bletchley von der "Bombe" simuliert, einer Frühform des Computers, die mögliche Einstellungen durchspielte. Die Technik machte den Geist freilich nicht arbeitslos. Die Bombe konnte nur in Bewegung gesetzt werden, um einen crib (wörtlich "Spickzettel") zu prüfen, ein Stück auf Verdacht dechiffrierten Text. Dabei machte man sich zunutze, daß die Militärsprache stark standardisiert ist, so daß dieselben Wörter immer wieder an derselben Stelle erscheinen. Man konnte die cribs dem Feind sogar diktieren. Minen wurden an bestimmten Orten gelegt, nur um Minenwarnungen auszulösen.
Mehrere Autoren berichten, daß die deutsche Gründlichkeit ihre Arbeit erleichtert habe. Ein Offizier sei immer mit seinem korrekten Titel angeredet worden, und in der deutschen Sprache sei so ein Titel gewöhnlich ein langes Wort und damit ein besonders reichhaltiger crib. Für die Rechtschreibreform wäre zu bedenken, daß die Idiosynkrasien der deutschen Orthographie andererseits der beste Schutz vor ungebetenen Mitlesern waren.
So soll den Deutschen die Methode zum Verhängnis geworden sein. In diesem ironischen Verdikt triumphiert der englische über den deutschen Geist. Die Methode hält man in England für selbstverständlich, stolz ist man auf den Individualismus. Schachspieler und Kreuzwortknacker wurden für Bletchley gesucht. Es kam zu Konflikten zwischen der Gemeinschaft der Rätsellöser und der militärischen Hierarchie. Nicht nur in den Luftschutzkellern von London, auch in den Baracken von Bletchley war der Krieg die Schule der Demokratie. Die Treue der intellektuellen Elite zum Wohlfahrtsstaat erklärt sich auch aus diesem Gemeinschaftserlebnis einer Generation junger Graduierter aus Oxford und Cambridge. Ihrer Kriegstätigkeit durften sie sich nicht brüsten, so sammelten sie im Frieden Ruhm: Theologen wie Maurice Wiles, Philologen wie Hugh Lloyd-Jones, Historiker wie Asa Briggs, Politiker wie Roy Jenkins.
Das Überleben im Krieg war der Gründungsmythos der britischen Demokratie. Die Inselfestung stand kurz vor dem Fall, doch im Rückblick scheint sie uneinnehmbar, weil ihre Bewohner zusammenstanden. Zweimal, im Juni 1941 und im Dezember 1942, wurde der Code der deutschen Marine gebrochen. Zweimal wurden die U-Boote abgewehrt. Was einst das ultra secret, das geheimste Geheimnis war, gehört längst zur nationalen Legende. Bletchley Park ist ein mythischer Ort. Der Krieg war dort fast irreal, ein mathematisches Spiel, eine Simulation. Aber alle Fronten waren nur einen Funkspruch entfernt. Ein böser Zufall konnte alles vernichten, ein guter Einfall konnte alles gewinnen.
Von ihren deutschen Gegnern sprechen die Autoren mit Achtung. Sie hätten den Fehler gemacht, an die Unbesiegbarkeit ihrer Maschine zu glauben. Für die Männer und Frauen von Bletchley war der militärische Sieg auch ein moralischer Triumph. Ihre Geschichte handelt von der Bestrafung der Hybris. PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Bletchley war der Krieg die Schule der Demokratie
F. H. Hinsley, Alan Stripp (Herausgeber): Code Breakers. The inside story of Bletchley Park. Oxford University Press, Oxford 1993. 321 Seiten, Abbildungen, 17,95 Pfund.
Das Gerät sieht aus wie eine Schreibmaschine. Klappt man den Deckel auf, liest man eine Warnung. "Dies ist ein geheimer Gegenstand im Sinne des § 88 des Reichsstrafgesetzbuches (Fassung vom 24. April 1934). Mißbrauch wird nach den Bestimmungen des Gesetzes bestraft, sofern nicht andere Strafbedingungen in Frage kommen." Die Drohung hat nichts genutzt. Der Feind löste die Rätsel, die die Enigma-Maschine aufgab.
In Bletchley Park, einem viktorianischen Landsitz in Buckinghamshire nahe dem Schnittpunkt der Eisenbahnlinien von London in den Norden und von Oxford nach Cambridge, wurde der Funkverkehr der deutschen Streitkräfte entschlüsselt. Wer für die Government Code and Cypher School rekrutiert wurde, mußte sich zu strengstem Stillschweigen verpflichten. Selbst vor der Gattin stand er als Feigling da, der undefinierbare Büroarbeit in der Provinz verrichtete, während die Freunde auf den Schlachtfeldern starben. Erst in den siebziger Jahren brach ein Offizier den Ehrenkodex. Vorher hatten nur Eingeweihte verstanden, wen Churchill in seinen Kriegserinnerungen "unsere Spione in Deutschland" genannt hatte. Heute dürfen die Veteranen endlich ihre Geschichte erzählen.
Harry Hinsley, Jahrgang 1918, und Alan Stripp, Jahrgang 1924, haben ihre Kameraden um Erinnerungen gebeten. Herausgekommen ist ein merkwürdiges und überaus faszinierendes Buch, halb lebensgeschichtliche Quelle, halb akademische Darstellung. Es ist auf mancherlei Weise esoterisch, im nostalgischen Ton der old boys - und girls - wie im mathematischen und elektrotechnischen Detail; trotzdem ist es in England ein überraschender Verkaufserfolg. Die sorgfältige Beweisaufnahme des Berufshistorikers steht neben dem anekdotischen Zeugnis des Amateurs.
Dieses Doppelgesicht trug Bletchley schon im Krieg. Die Kryptographie ist eine Sache von Liebhabern, von denen professionelle Perfektion verlangt wird. Den Wissenschaftler prädestiniert für diese Aufgabe vielleicht weniger das systematische als das schweifende Denken, das zweckfreie Spiel in Einsamkeit und Freiheit. Die Fachleute für oral history mögen entscheiden, ob die Rechenschaft der Fachleute verläßlicher ist als das Gedächtnis der Laien.
In der Natur des Gegenstandes liegt es, daß Täuschung und Wahrheit schwer zu trennen sind. Viele Fährten erwiesen sich als falsch, indes der naheliegende Weg verschmäht wurde. Die Nachricht, deren Dechiffrierung den größten Scharfsinn erforderte, mochte nutzlos sein. Wenn die Armeen weitergezogen und die Wolken verschwunden waren, war der schließlich gefundene Schlüssel nur noch ein Hilfswerkzeug für neue Entschlüsselungen.
Die Enigma-Maschine ersetzt jeden Buchstaben durch einen anderen. Man drückt eine Taste, eine Lampe leuchtet auf. Diese Ersetzung ist das sichtbare Ergebnis einer Kette unsichtbarer Ersetzungen in einem System von Walzen und Steckkontakten. Mit jedem Buchstaben verändert sich die Stellung der Walzen. Tippt man mehrmals denselben Buchstaben, erhält man jeweils ein anderes Resultat. Die Einstellung der Maschine wurde jeden Tag geändert. Es gab 159 Trillionen Möglichkeiten.
Das Genie von Bletchley war Alan Turing, der Erfinder der Turing-Maschine, die jede andere Maschine simulieren kann. Die Enigma-Maschine wurde in Bletchley von der "Bombe" simuliert, einer Frühform des Computers, die mögliche Einstellungen durchspielte. Die Technik machte den Geist freilich nicht arbeitslos. Die Bombe konnte nur in Bewegung gesetzt werden, um einen crib (wörtlich "Spickzettel") zu prüfen, ein Stück auf Verdacht dechiffrierten Text. Dabei machte man sich zunutze, daß die Militärsprache stark standardisiert ist, so daß dieselben Wörter immer wieder an derselben Stelle erscheinen. Man konnte die cribs dem Feind sogar diktieren. Minen wurden an bestimmten Orten gelegt, nur um Minenwarnungen auszulösen.
Mehrere Autoren berichten, daß die deutsche Gründlichkeit ihre Arbeit erleichtert habe. Ein Offizier sei immer mit seinem korrekten Titel angeredet worden, und in der deutschen Sprache sei so ein Titel gewöhnlich ein langes Wort und damit ein besonders reichhaltiger crib. Für die Rechtschreibreform wäre zu bedenken, daß die Idiosynkrasien der deutschen Orthographie andererseits der beste Schutz vor ungebetenen Mitlesern waren.
So soll den Deutschen die Methode zum Verhängnis geworden sein. In diesem ironischen Verdikt triumphiert der englische über den deutschen Geist. Die Methode hält man in England für selbstverständlich, stolz ist man auf den Individualismus. Schachspieler und Kreuzwortknacker wurden für Bletchley gesucht. Es kam zu Konflikten zwischen der Gemeinschaft der Rätsellöser und der militärischen Hierarchie. Nicht nur in den Luftschutzkellern von London, auch in den Baracken von Bletchley war der Krieg die Schule der Demokratie. Die Treue der intellektuellen Elite zum Wohlfahrtsstaat erklärt sich auch aus diesem Gemeinschaftserlebnis einer Generation junger Graduierter aus Oxford und Cambridge. Ihrer Kriegstätigkeit durften sie sich nicht brüsten, so sammelten sie im Frieden Ruhm: Theologen wie Maurice Wiles, Philologen wie Hugh Lloyd-Jones, Historiker wie Asa Briggs, Politiker wie Roy Jenkins.
Das Überleben im Krieg war der Gründungsmythos der britischen Demokratie. Die Inselfestung stand kurz vor dem Fall, doch im Rückblick scheint sie uneinnehmbar, weil ihre Bewohner zusammenstanden. Zweimal, im Juni 1941 und im Dezember 1942, wurde der Code der deutschen Marine gebrochen. Zweimal wurden die U-Boote abgewehrt. Was einst das ultra secret, das geheimste Geheimnis war, gehört längst zur nationalen Legende. Bletchley Park ist ein mythischer Ort. Der Krieg war dort fast irreal, ein mathematisches Spiel, eine Simulation. Aber alle Fronten waren nur einen Funkspruch entfernt. Ein böser Zufall konnte alles vernichten, ein guter Einfall konnte alles gewinnen.
Von ihren deutschen Gegnern sprechen die Autoren mit Achtung. Sie hätten den Fehler gemacht, an die Unbesiegbarkeit ihrer Maschine zu glauben. Für die Männer und Frauen von Bletchley war der militärische Sieg auch ein moralischer Triumph. Ihre Geschichte handelt von der Bestrafung der Hybris. PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main