Der Titel Codename Sempo hat in mir zuerst den Gedanken ausgelöst, es handele sich um einen Spionageroman. Erst der Untertitel wies den richtigen Weg. Danach habe ich eine Biographie erwartet, keinen Roman – bei Biographien ist es in der Regel ja so, dass Zeitgeschichte, Ortkenntnis, beteiligte
Personen, Episoden, die nichts mit der Hauptperson zu tun haben, viele Spekulationen und viel Phantasie…mehrDer Titel Codename Sempo hat in mir zuerst den Gedanken ausgelöst, es handele sich um einen Spionageroman. Erst der Untertitel wies den richtigen Weg. Danach habe ich eine Biographie erwartet, keinen Roman – bei Biographien ist es in der Regel ja so, dass Zeitgeschichte, Ortkenntnis, beteiligte Personen, Episoden, die nichts mit der Hauptperson zu tun haben, viele Spekulationen und viel Phantasie den Mantel um das "Skelett" der Hauptperson legen. Dieser Mantel wird dann vom Autor mehr oder weniger gekonnt und heftig ausgepolstert. So auch hier in den ersten Kapiteln. Der Autor ist mangels vieler historischer Dokumente zu Chiune Sugihara auf Sekundärliteratur und auch auf das Internet u. a. Quellen bzw. Zeitzeugen angewiesen.
Andreas Neuenkirchen führt den Leser also nach Japan, wo Chiune Sugihara aufwächst, später nach Harbin, in das sagenhafte Paris des Ostens. Diese Stadt ist wie ein Moloch, die japanische Herrschaft wird zur Tortur, die angelandeten Flüchtlinge sind sich ihres Lebens nicht sicher, besonders die Juden (insb. aus der damaligen Sowjetunion) geraten in Gefahr. Mich verblüfft diese angehäufte Vielfalt von Militär, Diplomatie, Spionage und Luxusleben auf der einen Seite, auf der anderen wird die dramatische Armut und Verelendung der chinesischen Bevölkerung natürlich nicht so ausführlich behandelt.
Chiune Sugihara selbst bin ich in diesem Teil noch nicht so recht nahegekommen, das liegt sicher auch daran, dass viele seiner Gedanken und auch Tätigkeiten eher nur gemutmaßt werden können. Für mich ist er nach dem Studium der perfekte Spion in öffentlichen Diensten. Egal wie seine Funktion genannt wird, es steht wahrscheinlich niemals in seinen Papieren, was er wirklich tut/tun soll. Harbin ist da genau der Schmelztiegel, den es braucht für die "Aufzucht" von Spionen.
Der Schreibstil mit seiner manchmal etwas flapsigen, umgangssprachlichen Attitüde ist vielleicht nicht für jeden angenehm, für mich hat er den (kultur)-geschichtsträchtigen, langwierigen Lesefluss etwas aufmischt. Ich gebe ehrlich zu, es sind so einige Passagen, gerade mit den vielen ungewohnten japanischen Namen, die auch etwas müde machen.
Die Kapitel über Sugiharas Arbeit als Diplomat (und gleichzeitig Spion) sind sehr interessant, seine zweite Ehefrau begleitet ihn ohne zu klagen, die Kinder werden in dieses unstete Leben einbezogen. Eigentlich hätte ich mir gerade in diesem Teil des Buches etwas mehr Ausführlichkeit, vielleicht auch künstlerische Freiheit gewünscht. Wirklich dramatisch gestaltet sich der Aufenthalt in Kaunas. Sugihara lernt hier jüdische Familien kennen und schätzen, hilft das eine oder andere Mal mit einem Transitvisum aus und befindet sich plötzlich in der Situation, Hunderten, ja Tausenden Juden das bedrohte Leben retten zu können. Kurz bevor die deutsche Wehrmacht in Litauen einmarschiert, kann er durch sein beherztes Eingreifen tatsächlich vielen zur Flucht auf dem Landweg durch die Sowjetunion nach Japan verhelfen. Seine Frau und Botschaftsmitarbeiter helfen dabei. Doch die japanische Regierung unterstützt das Vorhaben nur halbherzig, so dass er nicht allen helfen kann, er muss das Land verlassen, das Konsulat wird geschlossen.
Für Sugihara und seine Familie beginnt dann eine mehrere Jahre währende Odyssee, ehe er und die Seinen fast mittellos und erschöpft 1947 Japan wieder erreichen. Der Autor hat für diesen bewegenden Lebensabschnitt einen anderen, „seriöseren“ Schreibstil gewählt. Ironische Bemerkungen finden sich kaum mehr. Trotzdem fehlt mir ein wenig Empathie im Gelesenen, ich meine, eine gewisse Distanziertheit zu erkennen. Fast, als würde der Autor die den Japanern als charakteristisch nachgesagte Kühle und Beherrschtheit für sich übernehmen.
Eines der wichtigsten Erkenntnisse aus den letzten Kapiteln ist für mich die Tatsache, dass die von Chiune Sugihara geretteten Juden (rund 10.000 plus/minus) 250.000 Nachkommen haben.
Der literarische und monetäre Wettstreit um seine Biographie nach Sugiharas Tod wird ausführlich beschrieben, ist aber für mich nicht unbedingt erhellend. Eine Ehefrau, ein Sohn und (ein) Historiker im Wettstreit um die Deutungshoheit, das ist ein übliches Geplänkel, wenn es um so brisante Themen geht.
Für mich ist viel entscheidender, dass Sempo/Chiune Sugihara in Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt wird. Auf der Internetseite zu diesem Eintrag befinden sich diverse Fotos und auch Kopien des Visums für Zorach Wahrhaftig, das er ausgestellt hat. Natürlich kann jeder heutzutage im Internet recherchieren, aber warum hat der Autor sein Buch nicht mit einem kleinen Bildteil versehen? Das Buch wäre dadurch bestimmt etwas persönlicher und emotionaler geworden.
Fazit: viele interessante und detaillierte Informationen über ein für mich unbekanntes Land und seine Kultur und Geschichte, die verwoben sind mit der Biographie eines stillen Helden. Chiune Siguhara bekommt ein würdiges literarisches Denkmal auf deutsch.