Das Porträt eines amerikanischen Sommers -
ehrlich, bewegend, unsentimental
Charles und Grace Shepard leben in den 1940er-Jahren im Städtchen Cold Spring Harbor auf Long Island. Sie sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen. Während die trinkfreudige Mutter Gloria Charles anhimmelt, der für sie den Lockruf des »alten Geldes« verkörpert, verliebt sich Evan in Glorias Tochter, die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten sie, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Gloria teilen ...
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend. Meisterhaft und mit nur wenigen Pinselstrichen gelingt es Richard Yates, »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ), psychologische Fallstricke, Lebenslügen und Selbstbetrug im Amerika der 1940er-Jahre aufzudecken - und dabei doch immer auch ein Herz für seine Figuren zu haben.
ehrlich, bewegend, unsentimental
Charles und Grace Shepard leben in den 1940er-Jahren im Städtchen Cold Spring Harbor auf Long Island. Sie sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen. Während die trinkfreudige Mutter Gloria Charles anhimmelt, der für sie den Lockruf des »alten Geldes« verkörpert, verliebt sich Evan in Glorias Tochter, die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten sie, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Gloria teilen ...
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend. Meisterhaft und mit nur wenigen Pinselstrichen gelingt es Richard Yates, »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ), psychologische Fallstricke, Lebenslügen und Selbstbetrug im Amerika der 1940er-Jahre aufzudecken - und dabei doch immer auch ein Herz für seine Figuren zu haben.
buecher-magazin.deDie Familie galt in den Romanen von Richard Yates noch nie als heimeliger Rückzugsort - auch wenn die Protagonisten sich immer danach sehnen. Der letzte vollendete Roman des amerikanischen Schriftstellers liefert gleich mehrere Beispiele für die vielfältigen Schwierigkeiten in diesem komplexen Beziehungsgeflecht. Da ist, im Jahr 1942, die Familie Shepard in ihrem bescheidenen Haus auf Long Island. Vom eigenen beruflichen Misserfolg enttäuscht kümmert sich Charles rührend um seine seit Jahren psychisch labile Frau Grace. Mit Sorge blicken sie auf ihren halbwüchsigen Sohn Evan, lange Zeit ein Tunichtgut. Als Charles und sein Sohn die Familie Drake kennenlernen, verliebt sich Evan in deren schöne Tochter Rachel. Schon bald darauf heiraten die beiden. In der neuen Lebenssituation zusammen mit Rachels jüngerem Bruder und ihrer Mutter Gloria in einem baufälligen Haus zeigen sich auch in dieser Familie sehr schnell Risse und Brüche. Nahezu alle Figuren des 1992 verstorbenen Schriftstellers, der heute zu den wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts zählt, fühlen sich als vom Schicksal Betrogene und Vernachlässigte. Wie sie sich mit falschen Hoffnungen auf ein besseres Leben und nicht selten mit unzähligen Gläsern Martini mühsam durchwursteln, zeigt Yates mit knappen Mitteln.
© BÜCHERmagazin, Jeanette Stickler
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Endlich erscheint auch Richard Yates' bereits 1986 veröffentlichter Roman "Cold Spring Harbor" auf Deutsch, freut sich Rezensent Tilman Urbach. Denn Yates, viel zu lange als Geheimtipp gehandelt, vermag wie kaum ein zweiter Autor, mit außergewöhnlicher Zärtlichkeit und zugleich Sanftheit Lebenslügen von Durchschnittsmenschen zu entlarven, schreibt der Kritiker. Und so eröffnet auch diese Geschichte um das junge Paar Evan und Rachel, das nicht nur an den eigenen unterschiedlichen Lebensentwürfen, sondern auch an der ständigen Gegenwart von Rachels alkoholkranker Mutter Gloria zerbricht, wieder ein Panorama von Amerikas Mittelschicht der vierziger und fünfziger Jahre, berichtet Urbach, der besonders Yates' "scharfsichtige" Empathie schätzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015Im Land der zerbeulten Herzen
Die Mitte hält nicht mehr: Endlich erscheint der letzte Roman des großen amerikanischen Realisten Richard Yates auf Deutsch.
Von Verena Lueken
Für die Jungen wird es nicht besser ausgehen als für die Alten. Sie ahnen es nur noch nicht, und deshalb sind wir auf ihrer Seite. Weil sie noch eine Hoffnung haben, während wir bereits wissen, sie wird sich nicht erfüllen. Die Grenzen ihres engen Daseins werden auch von ihrem eigenen Vorstellungsvermögen gesetzt, das häufig nicht weiter reicht als bis genau zu dem Vorstadthäuschen, in dem schon die Eltern ihre Träume von etwas Großem, Bedeutsamem ertränkt hatten, als das Leben wurde, wie es ist - mittelmäßig, ereignislos, ohne Glanz und Ruhm und Glück.
So sind die Figuren in den Büchern von Richard Yates. Auch in "Cold Spring Harbor", seinem letzten vollendeten Roman, sind sie so. Hier heißen sie Charles und Grace Shepard und Gloria Drake, das sind die Alten, und ihre Kinder Evan und Rachel und Phil, die im Laufe des Romans heiraten und erwachsen werden. Um sie herum gruppiert Yates ein paar Randfiguren: Glorias geschiedenen Mann und Rachels Vater, Curtis; Evans erste Frau, Mary Donovan, und die gemeinsame Tochter Kathy aus dieser Teenager-Ehe, sowie Phils Freund für einen Sommer, Flash. Der Ort, der dem Roman den Titel gibt, liegt in Long Island, es gibt altes Geld hier und billige Randbebauung. Cold Spring Harbor könnte in unmittelbarer Nachbarschaft zu F. Scott Fitzgeralds East Egg liegen, von wo aus der große Gatsby ein grünes Licht am anderen Ende der Bucht schimmern sah. Bei Yates aber ist das grüne Licht erloschen. In seinen Büchern schimmert nur die Reflexion der Küchenlampe im Sherryglas.
"Cold Spring Harbor" spielt während der vierziger Jahre, die bekannteren Bücher von Yates ("Revolutionary Road", "Eine strahlende Zukunft" oder "Ruhestörung") in den Fünfzigern und Sechzigern, in denen die Hoffnungen auf ein anderes Leben so tragisch begraben wurden. In den Vierzigern aber, als die Amerikaner mit den Alliierten den großen und gerechten Krieg gegen Deutschland fochten, konnte man noch an etwas Bedeutsameres glauben als an die eigene Karriere - und es gibt in "Cold Spring Harbor" auch eine Nebenfigur, die dafür steht: Aaron, der lebensfrohe Aushilfskellner, der in den Krieg aufbricht. Er hofft, zur Infanterie und mit ihr nach Europa zu kommen, seine ganze Familie ist jüdisch. Aber selbst beim Militär lauert die Enttäuschung: "Vielleicht lande ich auch beim Nachschub oder einer Soldstelle irgendwo in Nebraska", das wäre das Aus für den Traum von Abenteuer und Heldentum. Phil wiederum, der bei der Abschiedsparty Aarons ein seltenes Gefühl von Zugehörigkeit empfindet, war auf dem Heimweg fast "wieder geneigt zu glauben, dass alles auf der Welt einen Sinn ergeben könnte".
Die Männer im Mittelpunkt des Romans aber ziehen nicht in den Krieg, und das ist Teil der Tragödie, die Charles Shepard an seinen Sohn weitergibt. Charles ist Berufssoldat. Allerdings hat er es in der Armee nicht weit gebracht, seine Beförderung ließ viel zu lange auf sich warten, nachdem er erst in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs nach Europa kam und in keinerlei Kriegshandlung mehr verwickelt wurde. Dieser Umstand, den andere vielleicht für glücklich gehalten hätten, nahm ihm den Mut, es mit dem Leben zu Hause noch einmal aufzunehmen. Einen Krieg später ist es sein Sohn Evan, der als untauglich ausgemustert wird. Und dann sind da die Frauen, schwach fast alle, aber dennoch dominant in ihren Ansprüchen daran, was der Mann zu leisten habe. Nur Mary, Evans erste Frau, hat sich eigenständig auf den Weg in ein möglicherweise besseres Leben gemacht. Was sie für Evan, den seine Begeisterung für Autos aus der sich hinziehenden Pubertät befreit hat, wieder interessant macht.
"Cold Spring Harbor" erschien 1986, knapp sechs Jahre bevor Yates im Alter von sechsundsechzig Jahren starb. Jetzt hat ihn Thomas Gunkel sicher und geschmeidig ins Deutsche gebracht. Die Deutsche Verlags-Anstalt publiziert seit 2002 das Gesamtwerk von Yates erstmals auf Deutsch, eine verlegerische Glanzleistung, der für jeden neuen Band applaudiert werden muss. Parallel dazu wurde im Laufe der letzten dreizehn Jahre aus Yates, dem in seiner Heimat damals nahezu vergessenen und bei uns völlig unbekannten Autor, hier wie dort ein weithin verehrter Klassiker. Jetzt fehlt in deutscher Übersetzung nur noch ein Erzählband, dann liegen alle neun Bücher vor, die er geschrieben hat. Großartig wäre es, die Biographie "A Tragic Honesty" von Blake Bailey käme noch dazu.
In ihr erfahren wir, unter welchen Bedingungen Yates dieses letzte vollendete Buch geschrieben hat. Er war manisch-depressiv, was vor allem gegen Ende seines Lebens und verstärkt durch seinen jahrzehntelangen Alkoholismus immer wieder zu Zusammenbrüchen führte. Er war ein kranker Mann, uralt schon zu Beginn seiner Sechziger, ein Kettenraucher, der einen Sauerstofftank hinter sich herzog, so dass nicht nur seine Studenten fürchteten, er werde sich und sie möglicherweise dazu einmal versehentlich in die Luft jagen. Er hatte immer wieder zeitweise überhaupt kein Geld, aber er arbeitete mit stählerner Disziplin an jedem Tag, an dem er in der Lage war, vom Bett zum Schreibtisch zu kriechen.
Es lässt sich bei Yates kein Früh- von einem Spätwerk unterscheiden. Seine Figuren bewohnen denselben kleinen Teil der Welt, und Yates schreibt auch in den Achtzigern noch vom Leben der Menschen in der Mitte des Jahrhunderts. Doch jeder Roman nimmt sich noch einige weitere Krumen jener zerbröselnden Mitte der amerikanischen Gesellschaft vor, auf die Yates vom ersten Buch an seine Aufmerksamkeit richtete. Anders als einige seiner Zeitgenossen, John Cheever etwa, experimentierte Yates nicht mit der Form, in der er erzählte, nicht mit der Sprache, nicht mit Chronologie oder Plausibilität. Er war und blieb ein realistischer Erzähler, mit einem Adlerblick für die enormen Verformungen der menschlichen Seele unter dem Druck sozialer Konvention, verbunden mit der Kleinherzigkeit der eigenen Vorstellungen in einem Land, das auf blendend weiß lächelnden Optimismus gebürstet war.
Das heißt aber nicht, die Romane unterschieden sich nicht voneinander. "Cold Spring Harbor" gewinnt Komplexität nicht so sehr durch seine Figuren (die weniger eindrucksvoll sind als etwa April und Frank Wheeler oder Emily Grimes) als durch seine multiperspektivische Erzählhaltung. Mal folgen wir Charles, dessen Schicksal nach dem Krieg bis zur Pubertät des Sohnes in wenigen Sätzen erzählt wird, mal diesem inzwischen erwachsenen Sohn Evan, und als ein Autoschaden sie mit den Drakes zusammenbringt, auch den Mitgliedern jener vaterlosen Familie, in der vor allem die Mutter in einem befleckten Cocktailkleid vom Klassenaufstieg phantasiert und in der Bekanntschaft mit den Shepards ihre Chance sieht und sie mit allem, was sie hat, ergreift. Gloria Drake ist eine Frau, wie wir sie in jedem Yates-Roman finden (vielleicht, weil sie der Mutter des Autors so ähnlich ist). Gegen die Enttäuschung ihrer sozialen Aufstiegssehnsüchte trinkt sie tapfer an, während sie ihren beschränkten Schatz an Charme und Einsichten freimütig vor vollkommen fremden Menschen ausschüttet, zum Beispiel eben vor Charles und Evan Shepard.
Wo Status, Geld und auch Herkunft so viel zählen wie in der Mitte des amerikanischen Jahrhunderts, geht die Mittelklasse relativ schlecht ausgerüstet an den Start. Es darf nichts schiefgehen. Sobald eine Ehe zerbricht, ein Job verlorengeht, eine frühe Schwangerschaft die Heirat vor dem College erzwingt, sinken die kleinen Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg schon dahin. Angesichts dessen, was vermasselt wurde, schaut das Leben jämmerlich aus.
Vor ihrem ersten Kuss sitzt Evan mit Rachel in seinem Auto und schaut auf die Lichter Manhattans. Evan durchzuckt der Gedanke, "dass all die in Gelb, Orange und Rot getauchten Wolkenkratzer mit ihren zahllosen funkelnden Fenstern für etwas Sinnvolleres da waren als fürs Geschäftemachen; sie waren für ihn da, als hätte er sie sich herbei gewünscht, und als sei es ihr höherer Daseinszweck, seine Sehnsucht zu steigern und seine Träume zu beherbergen". Und dann geht es doch schief. Bei Yates gibt es keine ungeheuren Veränderungen in der letzten Minute, keine Erlösung, keine Rettung davor, von der Welt einfach zermalmt zu werden. Auch Evan wird letztlich vor der Welt, vor der Familie und der Liebe versagen, und niemand wird verblüfft darüber sein. Die Figuren, die Yates entwirft, haben keinen Kontakt zu sich selbst. Deshalb sind sie Verlorene. Groß werden sie, weil Yates über sie schreibt, als hätten sie ihre Seele noch zu verlieren.
Richard Yates: "Cold Spring Harbor".
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Mitte hält nicht mehr: Endlich erscheint der letzte Roman des großen amerikanischen Realisten Richard Yates auf Deutsch.
Von Verena Lueken
Für die Jungen wird es nicht besser ausgehen als für die Alten. Sie ahnen es nur noch nicht, und deshalb sind wir auf ihrer Seite. Weil sie noch eine Hoffnung haben, während wir bereits wissen, sie wird sich nicht erfüllen. Die Grenzen ihres engen Daseins werden auch von ihrem eigenen Vorstellungsvermögen gesetzt, das häufig nicht weiter reicht als bis genau zu dem Vorstadthäuschen, in dem schon die Eltern ihre Träume von etwas Großem, Bedeutsamem ertränkt hatten, als das Leben wurde, wie es ist - mittelmäßig, ereignislos, ohne Glanz und Ruhm und Glück.
So sind die Figuren in den Büchern von Richard Yates. Auch in "Cold Spring Harbor", seinem letzten vollendeten Roman, sind sie so. Hier heißen sie Charles und Grace Shepard und Gloria Drake, das sind die Alten, und ihre Kinder Evan und Rachel und Phil, die im Laufe des Romans heiraten und erwachsen werden. Um sie herum gruppiert Yates ein paar Randfiguren: Glorias geschiedenen Mann und Rachels Vater, Curtis; Evans erste Frau, Mary Donovan, und die gemeinsame Tochter Kathy aus dieser Teenager-Ehe, sowie Phils Freund für einen Sommer, Flash. Der Ort, der dem Roman den Titel gibt, liegt in Long Island, es gibt altes Geld hier und billige Randbebauung. Cold Spring Harbor könnte in unmittelbarer Nachbarschaft zu F. Scott Fitzgeralds East Egg liegen, von wo aus der große Gatsby ein grünes Licht am anderen Ende der Bucht schimmern sah. Bei Yates aber ist das grüne Licht erloschen. In seinen Büchern schimmert nur die Reflexion der Küchenlampe im Sherryglas.
"Cold Spring Harbor" spielt während der vierziger Jahre, die bekannteren Bücher von Yates ("Revolutionary Road", "Eine strahlende Zukunft" oder "Ruhestörung") in den Fünfzigern und Sechzigern, in denen die Hoffnungen auf ein anderes Leben so tragisch begraben wurden. In den Vierzigern aber, als die Amerikaner mit den Alliierten den großen und gerechten Krieg gegen Deutschland fochten, konnte man noch an etwas Bedeutsameres glauben als an die eigene Karriere - und es gibt in "Cold Spring Harbor" auch eine Nebenfigur, die dafür steht: Aaron, der lebensfrohe Aushilfskellner, der in den Krieg aufbricht. Er hofft, zur Infanterie und mit ihr nach Europa zu kommen, seine ganze Familie ist jüdisch. Aber selbst beim Militär lauert die Enttäuschung: "Vielleicht lande ich auch beim Nachschub oder einer Soldstelle irgendwo in Nebraska", das wäre das Aus für den Traum von Abenteuer und Heldentum. Phil wiederum, der bei der Abschiedsparty Aarons ein seltenes Gefühl von Zugehörigkeit empfindet, war auf dem Heimweg fast "wieder geneigt zu glauben, dass alles auf der Welt einen Sinn ergeben könnte".
Die Männer im Mittelpunkt des Romans aber ziehen nicht in den Krieg, und das ist Teil der Tragödie, die Charles Shepard an seinen Sohn weitergibt. Charles ist Berufssoldat. Allerdings hat er es in der Armee nicht weit gebracht, seine Beförderung ließ viel zu lange auf sich warten, nachdem er erst in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs nach Europa kam und in keinerlei Kriegshandlung mehr verwickelt wurde. Dieser Umstand, den andere vielleicht für glücklich gehalten hätten, nahm ihm den Mut, es mit dem Leben zu Hause noch einmal aufzunehmen. Einen Krieg später ist es sein Sohn Evan, der als untauglich ausgemustert wird. Und dann sind da die Frauen, schwach fast alle, aber dennoch dominant in ihren Ansprüchen daran, was der Mann zu leisten habe. Nur Mary, Evans erste Frau, hat sich eigenständig auf den Weg in ein möglicherweise besseres Leben gemacht. Was sie für Evan, den seine Begeisterung für Autos aus der sich hinziehenden Pubertät befreit hat, wieder interessant macht.
"Cold Spring Harbor" erschien 1986, knapp sechs Jahre bevor Yates im Alter von sechsundsechzig Jahren starb. Jetzt hat ihn Thomas Gunkel sicher und geschmeidig ins Deutsche gebracht. Die Deutsche Verlags-Anstalt publiziert seit 2002 das Gesamtwerk von Yates erstmals auf Deutsch, eine verlegerische Glanzleistung, der für jeden neuen Band applaudiert werden muss. Parallel dazu wurde im Laufe der letzten dreizehn Jahre aus Yates, dem in seiner Heimat damals nahezu vergessenen und bei uns völlig unbekannten Autor, hier wie dort ein weithin verehrter Klassiker. Jetzt fehlt in deutscher Übersetzung nur noch ein Erzählband, dann liegen alle neun Bücher vor, die er geschrieben hat. Großartig wäre es, die Biographie "A Tragic Honesty" von Blake Bailey käme noch dazu.
In ihr erfahren wir, unter welchen Bedingungen Yates dieses letzte vollendete Buch geschrieben hat. Er war manisch-depressiv, was vor allem gegen Ende seines Lebens und verstärkt durch seinen jahrzehntelangen Alkoholismus immer wieder zu Zusammenbrüchen führte. Er war ein kranker Mann, uralt schon zu Beginn seiner Sechziger, ein Kettenraucher, der einen Sauerstofftank hinter sich herzog, so dass nicht nur seine Studenten fürchteten, er werde sich und sie möglicherweise dazu einmal versehentlich in die Luft jagen. Er hatte immer wieder zeitweise überhaupt kein Geld, aber er arbeitete mit stählerner Disziplin an jedem Tag, an dem er in der Lage war, vom Bett zum Schreibtisch zu kriechen.
Es lässt sich bei Yates kein Früh- von einem Spätwerk unterscheiden. Seine Figuren bewohnen denselben kleinen Teil der Welt, und Yates schreibt auch in den Achtzigern noch vom Leben der Menschen in der Mitte des Jahrhunderts. Doch jeder Roman nimmt sich noch einige weitere Krumen jener zerbröselnden Mitte der amerikanischen Gesellschaft vor, auf die Yates vom ersten Buch an seine Aufmerksamkeit richtete. Anders als einige seiner Zeitgenossen, John Cheever etwa, experimentierte Yates nicht mit der Form, in der er erzählte, nicht mit der Sprache, nicht mit Chronologie oder Plausibilität. Er war und blieb ein realistischer Erzähler, mit einem Adlerblick für die enormen Verformungen der menschlichen Seele unter dem Druck sozialer Konvention, verbunden mit der Kleinherzigkeit der eigenen Vorstellungen in einem Land, das auf blendend weiß lächelnden Optimismus gebürstet war.
Das heißt aber nicht, die Romane unterschieden sich nicht voneinander. "Cold Spring Harbor" gewinnt Komplexität nicht so sehr durch seine Figuren (die weniger eindrucksvoll sind als etwa April und Frank Wheeler oder Emily Grimes) als durch seine multiperspektivische Erzählhaltung. Mal folgen wir Charles, dessen Schicksal nach dem Krieg bis zur Pubertät des Sohnes in wenigen Sätzen erzählt wird, mal diesem inzwischen erwachsenen Sohn Evan, und als ein Autoschaden sie mit den Drakes zusammenbringt, auch den Mitgliedern jener vaterlosen Familie, in der vor allem die Mutter in einem befleckten Cocktailkleid vom Klassenaufstieg phantasiert und in der Bekanntschaft mit den Shepards ihre Chance sieht und sie mit allem, was sie hat, ergreift. Gloria Drake ist eine Frau, wie wir sie in jedem Yates-Roman finden (vielleicht, weil sie der Mutter des Autors so ähnlich ist). Gegen die Enttäuschung ihrer sozialen Aufstiegssehnsüchte trinkt sie tapfer an, während sie ihren beschränkten Schatz an Charme und Einsichten freimütig vor vollkommen fremden Menschen ausschüttet, zum Beispiel eben vor Charles und Evan Shepard.
Wo Status, Geld und auch Herkunft so viel zählen wie in der Mitte des amerikanischen Jahrhunderts, geht die Mittelklasse relativ schlecht ausgerüstet an den Start. Es darf nichts schiefgehen. Sobald eine Ehe zerbricht, ein Job verlorengeht, eine frühe Schwangerschaft die Heirat vor dem College erzwingt, sinken die kleinen Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg schon dahin. Angesichts dessen, was vermasselt wurde, schaut das Leben jämmerlich aus.
Vor ihrem ersten Kuss sitzt Evan mit Rachel in seinem Auto und schaut auf die Lichter Manhattans. Evan durchzuckt der Gedanke, "dass all die in Gelb, Orange und Rot getauchten Wolkenkratzer mit ihren zahllosen funkelnden Fenstern für etwas Sinnvolleres da waren als fürs Geschäftemachen; sie waren für ihn da, als hätte er sie sich herbei gewünscht, und als sei es ihr höherer Daseinszweck, seine Sehnsucht zu steigern und seine Träume zu beherbergen". Und dann geht es doch schief. Bei Yates gibt es keine ungeheuren Veränderungen in der letzten Minute, keine Erlösung, keine Rettung davor, von der Welt einfach zermalmt zu werden. Auch Evan wird letztlich vor der Welt, vor der Familie und der Liebe versagen, und niemand wird verblüfft darüber sein. Die Figuren, die Yates entwirft, haben keinen Kontakt zu sich selbst. Deshalb sind sie Verlorene. Groß werden sie, weil Yates über sie schreibt, als hätten sie ihre Seele noch zu verlieren.
Richard Yates: "Cold Spring Harbor".
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In seinem letzten Roman zieht der große amerikanische Autor Richard Yates die Summe seines Schaffens. ... Wäre dieser Roman ein Gemälde, dann eines von Edward Hopper.« Süddeutsche Zeitung, Christopher Schmidt
Im Land der zerbeulten Herzen
Die Mitte hält nicht mehr: Endlich erscheint der letzte Roman des großen amerikanischen Realisten Richard Yates auf Deutsch.
Von Verena Lueken
Für die Jungen wird es nicht besser ausgehen als für die Alten. Sie ahnen es nur noch nicht, und deshalb sind wir auf ihrer Seite. Weil sie noch eine Hoffnung haben, während wir bereits wissen, sie wird sich nicht erfüllen. Die Grenzen ihres engen Daseins werden auch von ihrem eigenen Vorstellungsvermögen gesetzt, das häufig nicht weiter reicht als bis genau zu dem Vorstadthäuschen, in dem schon die Eltern ihre Träume von etwas Großem, Bedeutsamem ertränkt hatten, als das Leben wurde, wie es ist - mittelmäßig, ereignislos, ohne Glanz und Ruhm und Glück.
So sind die Figuren in den Büchern von Richard Yates. Auch in "Cold Spring Harbor", seinem letzten vollendeten Roman, sind sie so. Hier heißen sie Charles und Grace Shepard und Gloria Drake, das sind die Alten, und ihre Kinder Evan und Rachel und Phil, die im Laufe des Romans heiraten und erwachsen werden. Um sie herum gruppiert Yates ein paar Randfiguren: Glorias geschiedenen Mann und Rachels Vater, Curtis; Evans erste Frau, Mary Donovan, und die gemeinsame Tochter Kathy aus dieser Teenager-Ehe, sowie Phils Freund für einen Sommer, Flash. Der Ort, der dem Roman den Titel gibt, liegt in Long Island, es gibt altes Geld hier und billige Randbebauung. Cold Spring Harbor könnte in unmittelbarer Nachbarschaft zu F. Scott Fitzgeralds East Egg liegen, von wo aus der große Gatsby ein grünes Licht am anderen Ende der Bucht schimmern sah. Bei Yates aber ist das grüne Licht erloschen. In seinen Büchern schimmert nur die Reflexion der Küchenlampe im Sherryglas.
"Cold Spring Harbor" spielt während der vierziger Jahre, die bekannteren Bücher von Yates ("Revolutionary Road", "Eine strahlende Zukunft" oder "Ruhestörung") in den Fünfzigern und Sechzigern, in denen die Hoffnungen auf ein anderes Leben so tragisch begraben wurden. In den Vierzigern aber, als die Amerikaner mit den Alliierten den großen und gerechten Krieg gegen Deutschland fochten, konnte man noch an etwas Bedeutsameres glauben als an die eigene Karriere - und es gibt in "Cold Spring Harbor" auch eine Nebenfigur, die dafür steht: Aaron, der lebensfrohe Aushilfskellner, der in den Krieg aufbricht. Er hofft, zur Infanterie und mit ihr nach Europa zu kommen, seine ganze Familie ist jüdisch. Aber selbst beim Militär lauert die Enttäuschung: "Vielleicht lande ich auch beim Nachschub oder einer Soldstelle irgendwo in Nebraska", das wäre das Aus für den Traum von Abenteuer und Heldentum. Phil wiederum, der bei der Abschiedsparty Aarons ein seltenes Gefühl von Zugehörigkeit empfindet, war auf dem Heimweg fast "wieder geneigt zu glauben, dass alles auf der Welt einen Sinn ergeben könnte".
Die Männer im Mittelpunkt des Romans aber ziehen nicht in den Krieg, und das ist Teil der Tragödie, die Charles Shepard an seinen Sohn weitergibt. Charles ist Berufssoldat. Allerdings hat er es in der Armee nicht weit gebracht, seine Beförderung ließ viel zu lange auf sich warten, nachdem er erst in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs nach Europa kam und in keinerlei Kriegshandlung mehr verwickelt wurde. Dieser Umstand, den andere vielleicht für glücklich gehalten hätten, nahm ihm den Mut, es mit dem Leben zu Hause noch einmal aufzunehmen. Einen Krieg später ist es sein Sohn Evan, der als untauglich ausgemustert wird. Und dann sind da die Frauen, schwach fast alle, aber dennoch dominant in ihren Ansprüchen daran, was der Mann zu leisten habe. Nur Mary, Evans erste Frau, hat sich eigenständig auf den Weg in ein möglicherweise besseres Leben gemacht. Was sie für Evan, den seine Begeisterung für Autos aus der sich hinziehenden Pubertät befreit hat, wieder interessant macht.
"Cold Spring Harbor" erschien 1986, knapp sechs Jahre bevor Yates im Alter von sechsundsechzig Jahren starb. Jetzt hat ihn Thomas Gunkel sicher und geschmeidig ins Deutsche gebracht. Die Deutsche Verlags-Anstalt publiziert seit 2002 das Gesamtwerk von Yates erstmals auf Deutsch, eine verlegerische Glanzleistung, der für jeden neuen Band applaudiert werden muss. Parallel dazu wurde im Laufe der letzten dreizehn Jahre aus Yates, dem in seiner Heimat damals nahezu vergessenen und bei uns völlig unbekannten Autor, hier wie dort ein weithin verehrter Klassiker. Jetzt fehlt in deutscher Übersetzung nur noch ein Erzählband, dann liegen alle neun Bücher vor, die er geschrieben hat. Großartig wäre es, die Biographie "A Tragic Honesty" von Blake Bailey käme noch dazu.
In ihr erfahren wir, unter welchen Bedingungen Yates dieses letzte vollendete Buch geschrieben hat. Er war manisch-depressiv, was vor allem gegen Ende seines Lebens und verstärkt durch seinen jahrzehntelangen Alkoholismus immer wieder zu Zusammenbrüchen führte. Er war ein kranker Mann, uralt schon zu Beginn seiner Sechziger, ein Kettenraucher, der einen Sauerstofftank hinter sich herzog, so dass nicht nur seine Studenten fürchteten, er werde sich und sie möglicherweise dazu einmal versehentlich in die Luft jagen. Er hatte immer wieder zeitweise überhaupt kein Geld, aber er arbeitete mit stählerner Disziplin an jedem Tag, an dem er in der Lage war, vom Bett zum Schreibtisch zu kriechen.
Es lässt sich bei Yates kein Früh- von einem Spätwerk unterscheiden. Seine Figuren bewohnen denselben kleinen Teil der Welt, und Yates schreibt auch in den Achtzigern noch vom Leben der Menschen in der Mitte des Jahrhunderts. Doch jeder Roman nimmt sich noch einige weitere Krumen jener zerbröselnden Mitte der amerikanischen Gesellschaft vor, auf die Yates vom ersten Buch an seine Aufmerksamkeit richtete. Anders als einige seiner Zeitgenossen, John Cheever etwa, experimentierte Yates nicht mit der Form, in der er erzählte, nicht mit der Sprache, nicht mit Chronologie oder Plausibilität. Er war und blieb ein realistischer Erzähler, mit einem Adlerblick für die enormen Verformungen der menschlichen Seele unter dem Druck sozialer Konvention, verbunden mit der Kleinherzigkeit der eigenen Vorstellungen in einem Land, das auf blendend weiß lächelnden Optimismus gebürstet war.
Das heißt aber nicht, die Romane unterschieden sich nicht voneinander. "Cold Spring Harbor" gewinnt Komplexität nicht so sehr durch seine Figuren (die weniger eindrucksvoll sind als etwa April und Frank Wheeler oder Emily Grimes) als durch seine multiperspektivische Erzählhaltung. Mal folgen wir Charles, dessen Schicksal nach dem Krieg bis zur Pubertät des Sohnes in wenigen Sätzen erzählt wird, mal diesem inzwischen erwachsenen Sohn Evan, und als ein Autoschaden sie mit den Drakes zusammenbringt, auch den Mitgliedern jener vaterlosen Familie, in der vor allem die Mutter in einem befleckten Cocktailkleid vom Klassenaufstieg phantasiert und in der Bekanntschaft mit den Shepards ihre Chance sieht und sie mit allem, was sie hat, ergreift. Gloria Drake ist eine Frau, wie wir sie in jedem Yates-Roman finden (vielleicht, weil sie der Mutter des Autors so ähnlich ist). Gegen die Enttäuschung ihrer sozialen Aufstiegssehnsüchte trinkt sie tapfer an, während sie ihren beschränkten Schatz an Charme und Einsichten freimütig vor vollkommen fremden Menschen ausschüttet, zum Beispiel eben vor Charles und Evan Shepard.
Wo Status, Geld und auch Herkunft so viel zählen wie in der Mitte des amerikanischen Jahrhunderts, geht die Mittelklasse relativ schlecht ausgerüstet an den Start. Es darf nichts schiefgehen. Sobald eine Ehe zerbricht, ein Job verlorengeht, eine frühe Schwangerschaft die Heirat vor dem College erzwingt, sinken die kleinen Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg schon dahin. Angesichts dessen, was vermasselt wurde, schaut das Leben jämmerlich aus.
Vor ihrem ersten Kuss sitzt Evan mit Rachel in seinem Auto und schaut auf die Lichter Manhattans. Evan durchzuckt der Gedanke, "dass all die in Gelb, Orange und Rot getauchten Wolkenkratzer mit ihren zahllosen funkelnden Fenstern für etwas Sinnvolleres da waren als fürs Geschäftemachen; sie waren für ihn da, als hätte er sie sich herbei gewünscht, und als sei es ihr höherer Daseinszweck, seine Sehnsucht zu steigern und seine Träume zu beherbergen". Und dann geht es doch schief. Bei Yates gibt es keine ungeheuren Veränderungen in der letzten Minute, keine Erlösung, keine Rettung davor, von der Welt einfach zermalmt zu werden. Auch Evan wird letztlich vor der Welt, vor der Familie und der Liebe versagen, und niemand wird verblüfft darüber sein. Die Figuren, die Yates entwirft, haben keinen Kontakt zu sich selbst. Deshalb sind sie Verlorene. Groß werden sie, weil Yates über sie schreibt, als hätten sie ihre Seele noch zu verlieren.
Richard Yates: "Cold Spring Harbor".
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Mitte hält nicht mehr: Endlich erscheint der letzte Roman des großen amerikanischen Realisten Richard Yates auf Deutsch.
Von Verena Lueken
Für die Jungen wird es nicht besser ausgehen als für die Alten. Sie ahnen es nur noch nicht, und deshalb sind wir auf ihrer Seite. Weil sie noch eine Hoffnung haben, während wir bereits wissen, sie wird sich nicht erfüllen. Die Grenzen ihres engen Daseins werden auch von ihrem eigenen Vorstellungsvermögen gesetzt, das häufig nicht weiter reicht als bis genau zu dem Vorstadthäuschen, in dem schon die Eltern ihre Träume von etwas Großem, Bedeutsamem ertränkt hatten, als das Leben wurde, wie es ist - mittelmäßig, ereignislos, ohne Glanz und Ruhm und Glück.
So sind die Figuren in den Büchern von Richard Yates. Auch in "Cold Spring Harbor", seinem letzten vollendeten Roman, sind sie so. Hier heißen sie Charles und Grace Shepard und Gloria Drake, das sind die Alten, und ihre Kinder Evan und Rachel und Phil, die im Laufe des Romans heiraten und erwachsen werden. Um sie herum gruppiert Yates ein paar Randfiguren: Glorias geschiedenen Mann und Rachels Vater, Curtis; Evans erste Frau, Mary Donovan, und die gemeinsame Tochter Kathy aus dieser Teenager-Ehe, sowie Phils Freund für einen Sommer, Flash. Der Ort, der dem Roman den Titel gibt, liegt in Long Island, es gibt altes Geld hier und billige Randbebauung. Cold Spring Harbor könnte in unmittelbarer Nachbarschaft zu F. Scott Fitzgeralds East Egg liegen, von wo aus der große Gatsby ein grünes Licht am anderen Ende der Bucht schimmern sah. Bei Yates aber ist das grüne Licht erloschen. In seinen Büchern schimmert nur die Reflexion der Küchenlampe im Sherryglas.
"Cold Spring Harbor" spielt während der vierziger Jahre, die bekannteren Bücher von Yates ("Revolutionary Road", "Eine strahlende Zukunft" oder "Ruhestörung") in den Fünfzigern und Sechzigern, in denen die Hoffnungen auf ein anderes Leben so tragisch begraben wurden. In den Vierzigern aber, als die Amerikaner mit den Alliierten den großen und gerechten Krieg gegen Deutschland fochten, konnte man noch an etwas Bedeutsameres glauben als an die eigene Karriere - und es gibt in "Cold Spring Harbor" auch eine Nebenfigur, die dafür steht: Aaron, der lebensfrohe Aushilfskellner, der in den Krieg aufbricht. Er hofft, zur Infanterie und mit ihr nach Europa zu kommen, seine ganze Familie ist jüdisch. Aber selbst beim Militär lauert die Enttäuschung: "Vielleicht lande ich auch beim Nachschub oder einer Soldstelle irgendwo in Nebraska", das wäre das Aus für den Traum von Abenteuer und Heldentum. Phil wiederum, der bei der Abschiedsparty Aarons ein seltenes Gefühl von Zugehörigkeit empfindet, war auf dem Heimweg fast "wieder geneigt zu glauben, dass alles auf der Welt einen Sinn ergeben könnte".
Die Männer im Mittelpunkt des Romans aber ziehen nicht in den Krieg, und das ist Teil der Tragödie, die Charles Shepard an seinen Sohn weitergibt. Charles ist Berufssoldat. Allerdings hat er es in der Armee nicht weit gebracht, seine Beförderung ließ viel zu lange auf sich warten, nachdem er erst in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs nach Europa kam und in keinerlei Kriegshandlung mehr verwickelt wurde. Dieser Umstand, den andere vielleicht für glücklich gehalten hätten, nahm ihm den Mut, es mit dem Leben zu Hause noch einmal aufzunehmen. Einen Krieg später ist es sein Sohn Evan, der als untauglich ausgemustert wird. Und dann sind da die Frauen, schwach fast alle, aber dennoch dominant in ihren Ansprüchen daran, was der Mann zu leisten habe. Nur Mary, Evans erste Frau, hat sich eigenständig auf den Weg in ein möglicherweise besseres Leben gemacht. Was sie für Evan, den seine Begeisterung für Autos aus der sich hinziehenden Pubertät befreit hat, wieder interessant macht.
"Cold Spring Harbor" erschien 1986, knapp sechs Jahre bevor Yates im Alter von sechsundsechzig Jahren starb. Jetzt hat ihn Thomas Gunkel sicher und geschmeidig ins Deutsche gebracht. Die Deutsche Verlags-Anstalt publiziert seit 2002 das Gesamtwerk von Yates erstmals auf Deutsch, eine verlegerische Glanzleistung, der für jeden neuen Band applaudiert werden muss. Parallel dazu wurde im Laufe der letzten dreizehn Jahre aus Yates, dem in seiner Heimat damals nahezu vergessenen und bei uns völlig unbekannten Autor, hier wie dort ein weithin verehrter Klassiker. Jetzt fehlt in deutscher Übersetzung nur noch ein Erzählband, dann liegen alle neun Bücher vor, die er geschrieben hat. Großartig wäre es, die Biographie "A Tragic Honesty" von Blake Bailey käme noch dazu.
In ihr erfahren wir, unter welchen Bedingungen Yates dieses letzte vollendete Buch geschrieben hat. Er war manisch-depressiv, was vor allem gegen Ende seines Lebens und verstärkt durch seinen jahrzehntelangen Alkoholismus immer wieder zu Zusammenbrüchen führte. Er war ein kranker Mann, uralt schon zu Beginn seiner Sechziger, ein Kettenraucher, der einen Sauerstofftank hinter sich herzog, so dass nicht nur seine Studenten fürchteten, er werde sich und sie möglicherweise dazu einmal versehentlich in die Luft jagen. Er hatte immer wieder zeitweise überhaupt kein Geld, aber er arbeitete mit stählerner Disziplin an jedem Tag, an dem er in der Lage war, vom Bett zum Schreibtisch zu kriechen.
Es lässt sich bei Yates kein Früh- von einem Spätwerk unterscheiden. Seine Figuren bewohnen denselben kleinen Teil der Welt, und Yates schreibt auch in den Achtzigern noch vom Leben der Menschen in der Mitte des Jahrhunderts. Doch jeder Roman nimmt sich noch einige weitere Krumen jener zerbröselnden Mitte der amerikanischen Gesellschaft vor, auf die Yates vom ersten Buch an seine Aufmerksamkeit richtete. Anders als einige seiner Zeitgenossen, John Cheever etwa, experimentierte Yates nicht mit der Form, in der er erzählte, nicht mit der Sprache, nicht mit Chronologie oder Plausibilität. Er war und blieb ein realistischer Erzähler, mit einem Adlerblick für die enormen Verformungen der menschlichen Seele unter dem Druck sozialer Konvention, verbunden mit der Kleinherzigkeit der eigenen Vorstellungen in einem Land, das auf blendend weiß lächelnden Optimismus gebürstet war.
Das heißt aber nicht, die Romane unterschieden sich nicht voneinander. "Cold Spring Harbor" gewinnt Komplexität nicht so sehr durch seine Figuren (die weniger eindrucksvoll sind als etwa April und Frank Wheeler oder Emily Grimes) als durch seine multiperspektivische Erzählhaltung. Mal folgen wir Charles, dessen Schicksal nach dem Krieg bis zur Pubertät des Sohnes in wenigen Sätzen erzählt wird, mal diesem inzwischen erwachsenen Sohn Evan, und als ein Autoschaden sie mit den Drakes zusammenbringt, auch den Mitgliedern jener vaterlosen Familie, in der vor allem die Mutter in einem befleckten Cocktailkleid vom Klassenaufstieg phantasiert und in der Bekanntschaft mit den Shepards ihre Chance sieht und sie mit allem, was sie hat, ergreift. Gloria Drake ist eine Frau, wie wir sie in jedem Yates-Roman finden (vielleicht, weil sie der Mutter des Autors so ähnlich ist). Gegen die Enttäuschung ihrer sozialen Aufstiegssehnsüchte trinkt sie tapfer an, während sie ihren beschränkten Schatz an Charme und Einsichten freimütig vor vollkommen fremden Menschen ausschüttet, zum Beispiel eben vor Charles und Evan Shepard.
Wo Status, Geld und auch Herkunft so viel zählen wie in der Mitte des amerikanischen Jahrhunderts, geht die Mittelklasse relativ schlecht ausgerüstet an den Start. Es darf nichts schiefgehen. Sobald eine Ehe zerbricht, ein Job verlorengeht, eine frühe Schwangerschaft die Heirat vor dem College erzwingt, sinken die kleinen Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg schon dahin. Angesichts dessen, was vermasselt wurde, schaut das Leben jämmerlich aus.
Vor ihrem ersten Kuss sitzt Evan mit Rachel in seinem Auto und schaut auf die Lichter Manhattans. Evan durchzuckt der Gedanke, "dass all die in Gelb, Orange und Rot getauchten Wolkenkratzer mit ihren zahllosen funkelnden Fenstern für etwas Sinnvolleres da waren als fürs Geschäftemachen; sie waren für ihn da, als hätte er sie sich herbei gewünscht, und als sei es ihr höherer Daseinszweck, seine Sehnsucht zu steigern und seine Träume zu beherbergen". Und dann geht es doch schief. Bei Yates gibt es keine ungeheuren Veränderungen in der letzten Minute, keine Erlösung, keine Rettung davor, von der Welt einfach zermalmt zu werden. Auch Evan wird letztlich vor der Welt, vor der Familie und der Liebe versagen, und niemand wird verblüfft darüber sein. Die Figuren, die Yates entwirft, haben keinen Kontakt zu sich selbst. Deshalb sind sie Verlorene. Groß werden sie, weil Yates über sie schreibt, als hätten sie ihre Seele noch zu verlieren.
Richard Yates: "Cold Spring Harbor".
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
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