Long Island in den 1940er-Jahren: Charles und Grace Shepard sorgen sich um Sohn Evan, der nach einer wilden Pubertät und einer früh gescheiterten Ehe nicht recht auf die Beine kommt. Da lernen sie zufällig Familie Drake kennen, und Evan verliebt sich in die stille, schöne Rachel. Nach einer kurzen Verlobungszeit heiraten sie, doch das Haus in Cold Spring Harbor müssen sie sich mit Rachels Mutter Gloria teilen ... Bald liegen die Nerven blank.
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend - von »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ).
Ein Roman über Väter und Söhne, Mütter und Töchter, die Liebe und die Fehler der Jugend - von »einem der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts« (FAZ).
»Kein anderer Schriftsteller hat die Sehnsucht so präzise beschrieben wie Yates.« DER TAGESSPIEGEL
Drachenjahre
In seinem letzten Roman zieht der große amerikanische
Autor Richard Yates die Summe seines Schaffens
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Heute würde man das, woran Gloria Drake leidet, als bipolare Störung bezeichnen – und zumindest im Fernsehen kann eine Frau, die damit geschlagen ist, bei der CIA Karriere machen, wie Carrie Mathison aus der Serie „Homeland“. Damals aber, Anfang der Vierzigerjahre in den USA, gab es nicht einmal einen Namen dafür; man behalf sich mit Verlegenheitswörtern wie „Stimmungsschwankungen“, „Labilität“ und sprach hinter vorgehaltener Hand von „Verrücktheit“. Der Begriff „Psychotherapie“ dagegen klang für die normalen Leute, als handle es sich um eine aus Europa eingeschleppte Kommunistenkrankheit.
Als geschiedene Frau und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, deren Ehe ihrer Krankheit nicht standgehalten hat, muss sich Gloria in der Anonymität der Großstadt New York verstecken, abtauchen ins Greenwich Village, wo die Sitten lockerer sind. Sozial isoliert und deklassiert haust sie in einem schäbigen Apartment, das nach Katzendreck stinkt, und tyrannisiert die Kinder mit ihren überzogenen Erwartungen. Gloria redet zu viel, und sie trinkt zu viel. Der starke Drink schon am frühen Morgen ist ihre einzige Medizin und Alkohol das gesellschaftlich akzeptierte Sedativum jener Jahre. Womit das zweite Tabu genannt wäre, das der große amerikanische Desillusionierungskünstler Richard Yates (1926-1992) in seinem letzten, nun erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Cold Spring Harbor“ umkreist. Denn auch das Alkoholproblem wird im Buch beharrlich verschleiert. „Neurasthenie“ lautet die offizielle Sprachregelung.
Yates veröffentlichte diesen Roman 1986, aber die Handlung siedelte er im Jahr 1941 an. Dazwischen lagen sexuelle Revolution und Studentenunruhen, Counter Culture und Beat Generation – die Befreiungsbewegungen, die Amerika erlösen wollten vom puritanischen Erbe und vom Druck des Konformismus. Yates war ein literarischer Vorreiter dieser Umbrüche. Mit kaltem Grimm schrieb er über deren Prähistorie, wurde zum Chronisten der Mentalitätsgeschichte vor 1968. In seinem Altersroman, einem Konzentrat seines Schaffens, versammelt er noch einmal voll stiller Erbitterung die verdrängten Themen: Den Sex, der zur Besessenheit wird, wenn man erst heiraten muss, um ihn zu haben – woraus dann lauter unglückliche Familien hervorgehen. Die Obsession des sozialen Aufstiegs, die jene ins Leere stürzen lässt, für die der amerikanische Traum nicht in Erfüllung geht. Und das Diktat des positiven Denkens, das sich leicht in ein selbstzerstörerisches Ungeheuer verwandelt, in einen Drachen wie Gloria Drake.
Als Richard Yates 1961 seinen ersten Roman „Zeiten des Aufruhrs“ publizierte, war er als Enthüllungsautor der amerikanischen Lebenslügen seiner Zeit voraus. Doch als acht Jahre später sein nächster Roman erschien, war der Trend, den er miterfunden hatte, schon wieder vorbei. So blieb er zeitlebens unterschätzt und verkannt; sein schlechtes Timing hatte ihn um die verdiente Anerkennung gebracht. Erst spät wurde Yates wiederentdeckt, und endlich erschienen auch auf Deutsch nach und nach seine schönen, ruhig und kraftvoll erzählten Romane und Storys.
Und man erkennt sie alle wieder, die Motive und Figuren seines Schreibens, die „Cold Spring Harbor“ zusammenführt: Die Underdog-Arroganz aus „Eine gute Schule“ (1978) wird hier von Phil personifiziert, einem klemmigen Jungen, der den ganzen Sommer über jobben muss, um sich ein neues Tweedsakko für die Privatschule leisten zu können. An die Alkoholexzesse und psychotischen Schübe, die auch Yates’ eigene Dämonen waren, ist man seit „Ruhestörung“ (1975) gewöhnt. Und die Labilität einer klammernden Mutter kommt einem aus „Eine besondere Vorsehung“ (1969) ebenso bekannt vor wie die kaputten Ehen aus „Eine strahlende Zukunft“ (1984). Nur ein Thema, die Kunst, von der sich so viele seiner Figuren Heilung erhoffen, ist keines mehr im letzten Roman. Für den demoralisierten Yates der späten Jahre war Literatur als Lebensrettung offenkundig keine Option mehr.
Wäre dieser Roman ein Gemälde, dann eines von Edward Hopper. Nicht weil er auf Long Island spielt und also am Meer, das Hopper so oft gemalt hat, sondern wegen der unerfüllten Sehnsüchte, die hier wie dort die Figuren befeuern – und deren Erlöschen Yates stoisch protokolliert. Getreu der Devise, dass eine Geschichte erst dann erzählt ist, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Yates erzählt von der kleinen Depression nach der großen, der geistigen Krise, die auf die materielle folgte. Auch das Auto, das der Roman immer wieder als Wunschmaschine in Szene setzt, weil es für soziale Mobilität steht, für vorehelichen Sex und für Wohlstand, taugt nicht als Fluchtfahrzeug aus der Katastrophe.
Die Kinder sollen es einmal besser haben. Doch Evan, einziger Sohn eines frühpensionierten Infanterie-Captains und seiner ebenfalls alkoholkranken Frau, ist ein Sorgenkind. Den Aufstieg verbaut er sich durch Jugendkriminalität und eine kurze High-School-Ehe. Statt für das College zu sparen, versäuft Evan das wenige Geld, das er als einfacher Arbeiter verdient, und wenn Yates, der maliziöse Lakoniker, eine Wohnung als „pfirsichfarben“ beschreibt, weiß der Leser, dass deren Bewohner auf zu großem Fuße leben. Mit seinem blendenden Aussehen ist Evan ein echter Womanizer, auch Rachel wird von ihm betört und seine zweite Frau, doch dann zieht deren anstrengende Mutter Gloria zu dem jungen Paar. Wie ein Parasit in einem Wirtskörper nistet sie sich im gestrandeten Walfischkörper von Long Island ein. In der irrigen Meinung, dort wohnten nur reiche Leute, überschätzt sie grotesk den gesellschaftlichen Status von Evans Vater, auf den sie ein Auge geworfen hat.
Immer häufiger flüchtet Evan aus den eigenen vier Wänden, in denen es keine Privatsphäre mehr gibt, und trifft irgendwann seine Ex wieder. Rachel ahnt davon nichts. Tragödie ist immer aus zweiter Hand, schreibt William Faulkner in „Schall und Wahn“. Bei Yates rattern die Figuren in ein vorgespurtes Unglück, doch dass Millionen andere ihr Schicksal teilen, mindert nicht die Wucht des Aufpralls. Als Rachel zu ihrem neugeborenen Sohn sagt, es sei ein Glück, dass aus ihm ein Mann werde, ist ihr die Tragweite dessen, was es bedeutet, in jener Zeit kein Mann zu sein, sondern eine alleinstehende Frau mit Kind, noch nicht bewusst. Um so mehr aber dem Autor und seinen Lesern.
In seinen späten Jahren
war Kunst als Lebensrettung
für ihn keine Option mehr
Richard Yates: Cold Spring Harbor. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. DVA, München 2015. 240 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Liebe ist ein Umsteigebahnhof: Kaum angekommen, wendet sie sich
bereits einem anderen zu. Wartendes Paar an einer Busstation, Pittsburgh 1943.
Foto: imago stock&people
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In seinem letzten Roman zieht der große amerikanische
Autor Richard Yates die Summe seines Schaffens
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Heute würde man das, woran Gloria Drake leidet, als bipolare Störung bezeichnen – und zumindest im Fernsehen kann eine Frau, die damit geschlagen ist, bei der CIA Karriere machen, wie Carrie Mathison aus der Serie „Homeland“. Damals aber, Anfang der Vierzigerjahre in den USA, gab es nicht einmal einen Namen dafür; man behalf sich mit Verlegenheitswörtern wie „Stimmungsschwankungen“, „Labilität“ und sprach hinter vorgehaltener Hand von „Verrücktheit“. Der Begriff „Psychotherapie“ dagegen klang für die normalen Leute, als handle es sich um eine aus Europa eingeschleppte Kommunistenkrankheit.
Als geschiedene Frau und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, deren Ehe ihrer Krankheit nicht standgehalten hat, muss sich Gloria in der Anonymität der Großstadt New York verstecken, abtauchen ins Greenwich Village, wo die Sitten lockerer sind. Sozial isoliert und deklassiert haust sie in einem schäbigen Apartment, das nach Katzendreck stinkt, und tyrannisiert die Kinder mit ihren überzogenen Erwartungen. Gloria redet zu viel, und sie trinkt zu viel. Der starke Drink schon am frühen Morgen ist ihre einzige Medizin und Alkohol das gesellschaftlich akzeptierte Sedativum jener Jahre. Womit das zweite Tabu genannt wäre, das der große amerikanische Desillusionierungskünstler Richard Yates (1926-1992) in seinem letzten, nun erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Cold Spring Harbor“ umkreist. Denn auch das Alkoholproblem wird im Buch beharrlich verschleiert. „Neurasthenie“ lautet die offizielle Sprachregelung.
Yates veröffentlichte diesen Roman 1986, aber die Handlung siedelte er im Jahr 1941 an. Dazwischen lagen sexuelle Revolution und Studentenunruhen, Counter Culture und Beat Generation – die Befreiungsbewegungen, die Amerika erlösen wollten vom puritanischen Erbe und vom Druck des Konformismus. Yates war ein literarischer Vorreiter dieser Umbrüche. Mit kaltem Grimm schrieb er über deren Prähistorie, wurde zum Chronisten der Mentalitätsgeschichte vor 1968. In seinem Altersroman, einem Konzentrat seines Schaffens, versammelt er noch einmal voll stiller Erbitterung die verdrängten Themen: Den Sex, der zur Besessenheit wird, wenn man erst heiraten muss, um ihn zu haben – woraus dann lauter unglückliche Familien hervorgehen. Die Obsession des sozialen Aufstiegs, die jene ins Leere stürzen lässt, für die der amerikanische Traum nicht in Erfüllung geht. Und das Diktat des positiven Denkens, das sich leicht in ein selbstzerstörerisches Ungeheuer verwandelt, in einen Drachen wie Gloria Drake.
Als Richard Yates 1961 seinen ersten Roman „Zeiten des Aufruhrs“ publizierte, war er als Enthüllungsautor der amerikanischen Lebenslügen seiner Zeit voraus. Doch als acht Jahre später sein nächster Roman erschien, war der Trend, den er miterfunden hatte, schon wieder vorbei. So blieb er zeitlebens unterschätzt und verkannt; sein schlechtes Timing hatte ihn um die verdiente Anerkennung gebracht. Erst spät wurde Yates wiederentdeckt, und endlich erschienen auch auf Deutsch nach und nach seine schönen, ruhig und kraftvoll erzählten Romane und Storys.
Und man erkennt sie alle wieder, die Motive und Figuren seines Schreibens, die „Cold Spring Harbor“ zusammenführt: Die Underdog-Arroganz aus „Eine gute Schule“ (1978) wird hier von Phil personifiziert, einem klemmigen Jungen, der den ganzen Sommer über jobben muss, um sich ein neues Tweedsakko für die Privatschule leisten zu können. An die Alkoholexzesse und psychotischen Schübe, die auch Yates’ eigene Dämonen waren, ist man seit „Ruhestörung“ (1975) gewöhnt. Und die Labilität einer klammernden Mutter kommt einem aus „Eine besondere Vorsehung“ (1969) ebenso bekannt vor wie die kaputten Ehen aus „Eine strahlende Zukunft“ (1984). Nur ein Thema, die Kunst, von der sich so viele seiner Figuren Heilung erhoffen, ist keines mehr im letzten Roman. Für den demoralisierten Yates der späten Jahre war Literatur als Lebensrettung offenkundig keine Option mehr.
Wäre dieser Roman ein Gemälde, dann eines von Edward Hopper. Nicht weil er auf Long Island spielt und also am Meer, das Hopper so oft gemalt hat, sondern wegen der unerfüllten Sehnsüchte, die hier wie dort die Figuren befeuern – und deren Erlöschen Yates stoisch protokolliert. Getreu der Devise, dass eine Geschichte erst dann erzählt ist, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Yates erzählt von der kleinen Depression nach der großen, der geistigen Krise, die auf die materielle folgte. Auch das Auto, das der Roman immer wieder als Wunschmaschine in Szene setzt, weil es für soziale Mobilität steht, für vorehelichen Sex und für Wohlstand, taugt nicht als Fluchtfahrzeug aus der Katastrophe.
Die Kinder sollen es einmal besser haben. Doch Evan, einziger Sohn eines frühpensionierten Infanterie-Captains und seiner ebenfalls alkoholkranken Frau, ist ein Sorgenkind. Den Aufstieg verbaut er sich durch Jugendkriminalität und eine kurze High-School-Ehe. Statt für das College zu sparen, versäuft Evan das wenige Geld, das er als einfacher Arbeiter verdient, und wenn Yates, der maliziöse Lakoniker, eine Wohnung als „pfirsichfarben“ beschreibt, weiß der Leser, dass deren Bewohner auf zu großem Fuße leben. Mit seinem blendenden Aussehen ist Evan ein echter Womanizer, auch Rachel wird von ihm betört und seine zweite Frau, doch dann zieht deren anstrengende Mutter Gloria zu dem jungen Paar. Wie ein Parasit in einem Wirtskörper nistet sie sich im gestrandeten Walfischkörper von Long Island ein. In der irrigen Meinung, dort wohnten nur reiche Leute, überschätzt sie grotesk den gesellschaftlichen Status von Evans Vater, auf den sie ein Auge geworfen hat.
Immer häufiger flüchtet Evan aus den eigenen vier Wänden, in denen es keine Privatsphäre mehr gibt, und trifft irgendwann seine Ex wieder. Rachel ahnt davon nichts. Tragödie ist immer aus zweiter Hand, schreibt William Faulkner in „Schall und Wahn“. Bei Yates rattern die Figuren in ein vorgespurtes Unglück, doch dass Millionen andere ihr Schicksal teilen, mindert nicht die Wucht des Aufpralls. Als Rachel zu ihrem neugeborenen Sohn sagt, es sei ein Glück, dass aus ihm ein Mann werde, ist ihr die Tragweite dessen, was es bedeutet, in jener Zeit kein Mann zu sein, sondern eine alleinstehende Frau mit Kind, noch nicht bewusst. Um so mehr aber dem Autor und seinen Lesern.
In seinen späten Jahren
war Kunst als Lebensrettung
für ihn keine Option mehr
Richard Yates: Cold Spring Harbor. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. DVA, München 2015. 240 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Liebe ist ein Umsteigebahnhof: Kaum angekommen, wendet sie sich
bereits einem anderen zu. Wartendes Paar an einer Busstation, Pittsburgh 1943.
Foto: imago stock&people
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»In seinem letzten Roman zieht der große amerikanische Autor Richard Yates die Summe seines Schaffens. ... Wäre dieser Roman ein Gemälde, dann eines von Edward Hopper.« Süddeutsche Zeitung, Christopher Schmidt