Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2001Die große Erosion
Emmanuel Bove begleitet eine Liebe · Von Tilman Spreckelsen
Als Emmanuel Boves Witwe Louise 1979 starb, fand man unter ihrem Bett einen verschnürten Lederkoffer mit Tagebuchseiten, Fotos, Briefen und Manuskripten ihres Mannes. Die große Renaissance, die das Werk des 1945 gestorbenen Autors seither erlebt hat, war damals trotz einiger Neuausgaben nicht abzusehen; Bove galt noch immer als ein literarisches Phänomen der Zwischenkriegszeit.
Daß sein Werk in Frankreich inzwischen wieder so umfassend präsent ist, daß sich in Deutschland derzeit sieben Verlage darum reißen, das Werk Boves zu publizieren, ist ein mittleres literarisches Wunder. Eine Ursache mag sein, daß Bove seine Leser nie enttäuscht, wenn sie seinem Stil einmal verfallen sind, denn die einzelnen Bücher weisen große Ähnlichkeiten hinsichtlich des Stoffes oder der Figuren auf. Die schmalen Romane fügen sich bruchlos aneinander, die beschriebene Welt ist in den meisten Fällen die bedrückend enge der französischen Kleinbürger, die einander mit umfassender Gefühllosigkeit begegnen oder diese Haltung im Verlauf der Romane einzunehmen lernen, die von finanziellen Sorgen gebeutelt werden und von einer Krise in die nächste gleiten, ohne daß dem Autor diese Umschwünge der Handlung zu grellen Elendsgemälden gerieten. Denn es macht den Reiz von Boves bewundernswert reduzierter Prosa aus, daß er in seiner kalkuliert verhaltenen Erzählweise ganz der Wirkung seiner Fabel und der Figuren vertraut.
In den letzten Jahren sind neben den Neuausgaben, von denen die meisten auch ins Deutsche übersetzt worden sind, auch zwei Manuskripte aus dem Nachlaßkoffer erschienen: "Ein Außenseiter" und "Ein Mann, der wußte". Beide Texte fügen sich mühelos in das bekannte OEuvre ein, wenn auch besonders die Gestalt des Maurice Lesca in "Ein Mann, der wußte", den vielen erschütternd einsamen Figuren im Kosmos Boves eine durch innere wie äußere Verwahrlosung gezeichnete Gestalt hinzufügt, die dennoch durch aggressive Vorstöße gegenüber der erschrockenen Umwelt versucht, die verlorene Kontrolle zurückzugewinnen.
Der dritte Roman aus dem Nachlaß liegt seit zwei Jahren in einer französischen Edition vor; jetzt ist er ins Deutsche übertragen worden. "Colette Salmand" ist 1936 entstanden und sollte ursprünglich im Literaturalmanach "OEuvres libres" des Verlags Fayard erscheinen. Doch Bove war nicht bereit, den größten Teil des Romans umzuarbeiten, so daß eine Publikation unterblieb, obwohl der zwischenzeitlich bettelarme Autor dringend auf Einkünfte angewiesen war.
Colette Salmand ist eine junge Frau, die sich im ersten Weltkrieg in den Studenten Jacques Leshardouin verliebt, den eine schwere Kopfverletzung unberechenbar macht. Als er einen Arzt, der sich weigert, ihn für fronttauglich zu erklären, kurzerhand erschießt, flieht er nach Genf. Wenig später folgt ihm Colette, die zunächst von dem Mord nichts weiß, bis Jacques sich ihr offenbart.
Das Leben des Paars ist bestimmt von ewigen Geldsorgen, denen sich besonders Colette in zunehmendem Maße stellen muß. Hier beginnt ein Prozeß der Desillusionierung, den Bove behutsam, aber ausgesprochen effizient schildert. Denn das eigentliche Thema des Romans ist das Ende einer Liebe, über deren Entstehung wir so gut wie nichts erfahren, deren anfängliche Intensität wir in dem blinden Vertrauen Colettes diskret vorgeführt bekommen, deren Erosion wir aber den gesamten Text hindurch begleiten.
Die Ursachen dafür wurzeln nur zum Teil in der enttäuschenden Passivität, die Jacques seit der Flucht nach Genf an den Tag legt, oder in den bizarren Phantasien, die er Colette als reale Begebenheiten auftischt: Ein französischer Konsul habe ihn auf der Straße angesprochen und zum Essen eingeladen, um ihm zu eröffnen, daß er den Flüchtling erkannt habe und über den Mordfall bestens informiert sei. Jacques solle doch nach Frankreich zurückkehren und sich stellen, habe der Konsul gemeint und hinzugefügt: "Ich sage Ihnen das, weil ich die tiefe Überzeugung habe, daß die Menschen Ihnen vergeben werden. Wir alle haben Jugendsünden begangen." Daß Colette sich schließlich von dem Geliebten abwendet, als Jacques, der sich tatsächlich den Behörden stellt und verurteilt wird, endlich das Gefängnis verlassen kann, ist das Ergebnis einer so umfassenden Erschöpfung ihres guten Willens und ihrer Bereitschaft, sich auf den schwierigen jungen Mann einzustellen, daß die Entscheidung als zwingende Konsequenz dieses gegenläufigen Liebesromans erscheint. Daß der Weg dahin so leise wie folgerichtig entworfen ist, so unaufgeregt wie bedrückend, macht die große Faszination dieses Romans aus. Daß Bove kein Wort daran ändern wollte, ist nur zu verständlich.
Emmanuel Bove: "Colette Salmand". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Heber-Schärer. Friedenauer Presse, Berlin 2001. 184 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emmanuel Bove begleitet eine Liebe · Von Tilman Spreckelsen
Als Emmanuel Boves Witwe Louise 1979 starb, fand man unter ihrem Bett einen verschnürten Lederkoffer mit Tagebuchseiten, Fotos, Briefen und Manuskripten ihres Mannes. Die große Renaissance, die das Werk des 1945 gestorbenen Autors seither erlebt hat, war damals trotz einiger Neuausgaben nicht abzusehen; Bove galt noch immer als ein literarisches Phänomen der Zwischenkriegszeit.
Daß sein Werk in Frankreich inzwischen wieder so umfassend präsent ist, daß sich in Deutschland derzeit sieben Verlage darum reißen, das Werk Boves zu publizieren, ist ein mittleres literarisches Wunder. Eine Ursache mag sein, daß Bove seine Leser nie enttäuscht, wenn sie seinem Stil einmal verfallen sind, denn die einzelnen Bücher weisen große Ähnlichkeiten hinsichtlich des Stoffes oder der Figuren auf. Die schmalen Romane fügen sich bruchlos aneinander, die beschriebene Welt ist in den meisten Fällen die bedrückend enge der französischen Kleinbürger, die einander mit umfassender Gefühllosigkeit begegnen oder diese Haltung im Verlauf der Romane einzunehmen lernen, die von finanziellen Sorgen gebeutelt werden und von einer Krise in die nächste gleiten, ohne daß dem Autor diese Umschwünge der Handlung zu grellen Elendsgemälden gerieten. Denn es macht den Reiz von Boves bewundernswert reduzierter Prosa aus, daß er in seiner kalkuliert verhaltenen Erzählweise ganz der Wirkung seiner Fabel und der Figuren vertraut.
In den letzten Jahren sind neben den Neuausgaben, von denen die meisten auch ins Deutsche übersetzt worden sind, auch zwei Manuskripte aus dem Nachlaßkoffer erschienen: "Ein Außenseiter" und "Ein Mann, der wußte". Beide Texte fügen sich mühelos in das bekannte OEuvre ein, wenn auch besonders die Gestalt des Maurice Lesca in "Ein Mann, der wußte", den vielen erschütternd einsamen Figuren im Kosmos Boves eine durch innere wie äußere Verwahrlosung gezeichnete Gestalt hinzufügt, die dennoch durch aggressive Vorstöße gegenüber der erschrockenen Umwelt versucht, die verlorene Kontrolle zurückzugewinnen.
Der dritte Roman aus dem Nachlaß liegt seit zwei Jahren in einer französischen Edition vor; jetzt ist er ins Deutsche übertragen worden. "Colette Salmand" ist 1936 entstanden und sollte ursprünglich im Literaturalmanach "OEuvres libres" des Verlags Fayard erscheinen. Doch Bove war nicht bereit, den größten Teil des Romans umzuarbeiten, so daß eine Publikation unterblieb, obwohl der zwischenzeitlich bettelarme Autor dringend auf Einkünfte angewiesen war.
Colette Salmand ist eine junge Frau, die sich im ersten Weltkrieg in den Studenten Jacques Leshardouin verliebt, den eine schwere Kopfverletzung unberechenbar macht. Als er einen Arzt, der sich weigert, ihn für fronttauglich zu erklären, kurzerhand erschießt, flieht er nach Genf. Wenig später folgt ihm Colette, die zunächst von dem Mord nichts weiß, bis Jacques sich ihr offenbart.
Das Leben des Paars ist bestimmt von ewigen Geldsorgen, denen sich besonders Colette in zunehmendem Maße stellen muß. Hier beginnt ein Prozeß der Desillusionierung, den Bove behutsam, aber ausgesprochen effizient schildert. Denn das eigentliche Thema des Romans ist das Ende einer Liebe, über deren Entstehung wir so gut wie nichts erfahren, deren anfängliche Intensität wir in dem blinden Vertrauen Colettes diskret vorgeführt bekommen, deren Erosion wir aber den gesamten Text hindurch begleiten.
Die Ursachen dafür wurzeln nur zum Teil in der enttäuschenden Passivität, die Jacques seit der Flucht nach Genf an den Tag legt, oder in den bizarren Phantasien, die er Colette als reale Begebenheiten auftischt: Ein französischer Konsul habe ihn auf der Straße angesprochen und zum Essen eingeladen, um ihm zu eröffnen, daß er den Flüchtling erkannt habe und über den Mordfall bestens informiert sei. Jacques solle doch nach Frankreich zurückkehren und sich stellen, habe der Konsul gemeint und hinzugefügt: "Ich sage Ihnen das, weil ich die tiefe Überzeugung habe, daß die Menschen Ihnen vergeben werden. Wir alle haben Jugendsünden begangen." Daß Colette sich schließlich von dem Geliebten abwendet, als Jacques, der sich tatsächlich den Behörden stellt und verurteilt wird, endlich das Gefängnis verlassen kann, ist das Ergebnis einer so umfassenden Erschöpfung ihres guten Willens und ihrer Bereitschaft, sich auf den schwierigen jungen Mann einzustellen, daß die Entscheidung als zwingende Konsequenz dieses gegenläufigen Liebesromans erscheint. Daß der Weg dahin so leise wie folgerichtig entworfen ist, so unaufgeregt wie bedrückend, macht die große Faszination dieses Romans aus. Daß Bove kein Wort daran ändern wollte, ist nur zu verständlich.
Emmanuel Bove: "Colette Salmand". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Heber-Schärer. Friedenauer Presse, Berlin 2001. 184 S., geb., 36,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Auf Rezensent Tilman Spreckelsen hat dieser dritte, aus dem Nachlass veröffentlichte Roman eigenem Bekunden zufolge "große Faszination" ausgeübt. Es mache den Reiz von Boves "bewundernswert reduzierter Prosa" aus, dass er in seiner "kalkuliert verhaltenen Erzählweise" ganz der Wirkung seiner Fabel und der Figuren vertraue. In diesem Fall handelt es sich, wie wir lesen, um eine junge Frau, die sich im ersten Weltkrieg in einen Studenten verliebt, dessen schwere Kopfverletzung ihn unberechenbar macht. Ebenso leise wie folgerichtig entworfen, sieht Spreckelsen diesen "gegenläufigen Liebesroman" auf seine zwingende Konsequenz" zulaufen. Der Roman sei schon 1936 entstanden, aber unveröffentlicht geblieben, weil Bove sich weigerte, vom Verlag geforderte Änderungen vorzunehmen. Angesichts der Qualität des Buches erscheint dem Rezensenten diese Weigerung "nur zu verständlich".
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Dass der Weg dahin so leise wie folgerichtig entworfen ist, so unaufgeregt wie bedrückend, macht die Faszination dieses Romans aus." (Tilmann Spreckelsen, FAZ)