Neun Monate lang hat Mathieu Sapin den Kandidaten François Hollande während dessen Präsidentschaftskampagne im Jahre 2012 begleitet. Auch die beiden folgenden Jahre verbrachte er hinter den Kulissen des Élysée-Palastes, weitere fünf Jahre an der Seite von Gérard Depardieu. Er hatte sich geschworen, nicht wieder in die Abgründe des politischen Lebens zurückzukehren, doch nun begibt es sich doch wieder in die Höhle des Löwen: das Vorzimmer der Macht des amtierenden Staatspräsidenten von Frankreich, Emmanuel Macron. Selbstironisch vergleicht Mathieu Sapin seinen Versuch, den Beginn der Präsidentschaft von Emmanuel Macron auf Papier festzuhalten, mit der Laufbahn Jean Racines, der im 17. Jahrhundert davon träumt, zum Hofberichterstatter des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. zu werden. Mathieu Sapin hinterfragt die Verbindung von Kunst und Macht mit Humor und Finesse - unser liebster Comic-Reporter seit Tim und Struppi!
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Paris-Korrespondentin Nadia Pantel trifft den französischen Comic-Autor Mathieu Sapin auf dem kleinen Balkon seines Pariser Ateliers und staunt über die Bescheidenheit, wo er sich doch für seine "Comédie Française" so lange im Vorzimmer der Macht bewegen konnte. Interessant ist für die Rezensentin Sapins Porträt von Präsident Emmanuel Macron nicht nur, weil Sapin dabei auch immer seine Rolle mitreflektiert und sich vom Glanz der Macht ebenso verführt wie eingeschüchtert zeigt, sondern auch, weil er historische Tiefenschichten mit einbaut: In einem zweiten Handlungsstrang, erklärt die Rezensentin, begibt sich der Erzähler auf die Spuren Jean Racines, der seinerseits Chronist des Sonnenkönig Ludwig XIV. war. Viel Ambivalenz und genaue Beobachtung entdeckt Pantel in diesem Band, aber auch fantastische Szenen. In einer darf sich Sapin von Brigitte Macron über Racine belehren lassen: "Wussten Sie, dass er in Alexandrinern geträumt hat?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.05.2021Auf den Spuren des Sonnenkönigs
Zwei Jahre ist der Comiczeichner Mathieu Sapin dem französischen Präsidenten hinterhergejagt.
„Comédie Française“ ist dennoch kein Porträt Emmanuel Macrons – sondern ein Porträt der Macht
VON NADIA PANTEL
Emmanuel Macron ist bester Dinge. Ob Frankreichs Präsident in der muffigen Garderobe eines Fernsehstudios sitzt, Kriegsveteranen die Hände schüttelt oder sich für den Export französischer Litschis einsetzt – immer lächelt er. Der französische Comiczeichner Mathieu Sapin hat Macron von 2017 bis 2019 auf zwei größeren Reisen begleitet, ihn im Wahlkampf und bei einer Debatte mit Intellektuellen erlebt. Und er hat danach kein einziges Bild gezeichnet, auf dem Macron nicht entspannt aussieht. „Comédie Française“ heißt Sapins Werk auf den Spuren Macrons. Es ist nicht das Porträt eines Mannes, sondern ein Porträt der Macht.
Eigentlich habe er verstehen wollen, warum „ein Mann mit Anfang 40, aus meiner Generation“ überhaupt Präsident werden will. Ein „langweiliges, schwieriges, brutales“ Amt, findet Sapin. Der 46-Jährige sitzt auf dem schmalen Balkon seines Ateliers in der Nähe des Pariser Canal Saint-Martin. Seine eigene Arbeitsumgebung ist so ziemlich der größte Gegensatz zu dem Pomp, mit dem sich Präsident Macron umgibt. Sapins Atelier ist genau genommen einfach ein Zimmer in einer kleinen Zweiraumwohnung, die er sich mit dem Comiczeichner Christophe Blain teilt. Zum Interview lädt Sapin auf den Balkon, auf den genau zwei Stühle passen, weil drinnen der Platz nicht reicht, um den in Pandemiezeiten nötigen Abstand zu halten. Eigentlich sei sein Macron-Comic die Geschichte eines Scheiterns, sagt Sapin. Er jagt dem Präsidenten hinterher und erlebt ihn nicht als Mensch mit Höhen und Tiefen, sondern „manchmal fast wie einen Roboter“. Sapin kommt Macron nicht wirklich nahe. Doch er wird Teil der Entourage, die um den Staatschef kreist, wie um eine, ja, Sonne.
In diesem Kreisen findet Sapin sein Thema. Er beobachtet in „Comédie Française“ nicht nur Macron, sondern auch sich selbst. Das Buch beginnt damit, dass Macron Sapin zuzwinkert und sagt, Sapin habe „einen genialen Comic über Dépardieu“ gemacht. Ist Sapin nach dieser Begegnung noch Chronist oder ist er schon Verführter? In seinen Comics ist Sapin grundsätzlich der Antiheld, er ist überfordert, manchmal auch eingeschüchtert, als er in der Präsidentenmaschine mitfliegen darf, kotzt er in die Bordtoilette. Was fasziniert so einen an der Macht? Diese Frage stellt sich nicht nur der Leser, sondern auch Sapin selbst.
Als Comiczeichner könne er eigentlich „ruhige Tage am Schreibtisch“ verbringen, sagt Sapin. Doch er hat sich entschieden, „an exotische Orte zu reisen, wie ein Reporter“. Was Sapin „exotische Orte“ nennt, ist auf der Titelseite seines aktuellen Werks treffend mit „Reisen ins Vorzimmer der Macht“ beschrieben. Exotisch sind nicht die Tropen oder ferne Länder, exotisch sind die Menschen an der Spitze des Staates. Sapins Reisen in die Politik begannen 2012 mit einem Buch über den Wahlkampf François Hollandes, dann folgte „Le Château“, ein Porträt des Élysée-Palasts, dieser prähistorischen Riesenmaschine. Auch außerhalb Frankreichs berühmt wurde Sapin 2018 durch „Gérard – Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“. Sapin nähert sich darin dem berühmten Schauspieler ähnlich an wie dem Präsidenten: Es sind für ihn Machtzentren, Personen, die in der Mitte eines Universums hocken, deren Dynamik er verstehen und beschreiben möchte.
„Ich suche mir Personen aus, die widersprüchlich sind“, sagt Sapin, „ich will keine Wertung vorgeben, sondern beobachtender Zeuge sein.“ Dazu gehört auch, dass Sapin selbst Teil seiner Bilder ist, „der Leser soll wissen, dass ich nichts zeichne, was ich nicht selbst gesehen habe“. Sapin als Comicfigur ist ein hageres Männlein mit knödeligem Kopf. In einer Szene geht Sapin essen und hält eine Kartoffel auf einer Gabel in die Höhe. Gemüse und Kopf sind gleich groß und ähneln einander sehr.
Um sein eigenes Verhältnis zur Macht zu erforschen, erfindet Sapin einen zweiten Erzählstrang, der einen doppelten Blick auf die Gegenwart ermöglicht. „Comédie Française“ spielt auch im 17. Jahrhundert, zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Sapin nimmt den Leser mit, wie er sich in die Biografie Jean Racines einarbeitet. Frankreichs größter Tragödienautor wendet sich als gefeierter Schriftsteller vom Theater ab, um den König als Chronist zu begleiten. Wie viel Racine steckt nun also in Sapin, und wie wappnet er sich dagegen, den Inszenierungen der Macht zu erliegen? Das Buch ist einerseits die Geschichte eines Comiczeichners, Sapin selbst, der hinter dem Präsidenten Macron herjagt. Und andererseits bewegt sich das Werk entlang der großen französischen Kontinuitäten. Denn indem Sapin seine Nähe zu einem Racine untersucht, rückt er gleichzeitig auch Macron in die Nähe des Sonnenkönigs. „Frankreich ist ein paradoxes Land“, sagt Sapin auf seinem Balkon: „Einerseits sind wir das Land der Revolution, andererseits haben wir diesen irre mächtigen Präsidenten, der in einem Palast wohnt.“
Die Parallelen zwischen der Gegenwart und der Epoche des Sonnenkönigs ziehen sich nicht nur durch „Comédie Française“, weil Sapin dies so montiert. Sondern auch, weil das Land um ihn herum sie zieht. Sapins Reisen mit Macron fallen in die Jahre 2018 und 2019, es ist die Zeit der Gelbwesten-Bewegung. Macron fährt durch Ostfrankreich, um des Endes des Ersten Weltkriegs zu gedenken und sich selbst als Erneuerer des Landes zu inszenieren. Sapin begleitet dieses erinnerungspolitische Großprojekt und hält fest, wie Macron von zornigen Bürgern beschimpft statt bejubelt wird. Die Gelbwesten interessieren Sapin aber nur am Rande, sie tauchen immer wieder auf, zu Wort kommen sie nicht. Doch wer in den Jahren 2018 und 2019 in Frankreich die Nachrichten verfolgte, weiß, dass es zu den Lieblingsvorwürfen der Gilets jaunes gehörte, Macron mit Ludwig XIV. gleichzusetzen. Und Macron selbst wiederum nennt sich zu Beginn seiner Zeit im Élysée Jupiter, weil er sich bewusst für eine symbolische Überhöhung seines Amtes entscheidet. „Es gibt in Frankreich diese Wut über die Abgehobenheit der Eliten, die viele an das 17. Jahrhundert erinnert“, sagt Sapin, „und gleichzeitig diese Sehnsucht nach dem 17. Jahrhundert als goldenes Zeitalter.“
Diese Sehnsucht dokumentiert Sapin, ohne klar Position zu beziehen. Er lässt sich von Brigitte Macron einen Vortrag über Racine halten („wussten Sie, dass er in Alexandrinern geträumt hat“) und wird belehrt, dass der König für den Dichter damals „die Leib gewordene Macht von Gottes Gnaden“ darstellte. Der kleine, knödelige Comic-Sapin sagt einfach nur „Ok.“ Und notiert daneben: „Sie spricht über das 17. Jahrhundert, als wäre sie dabei gewesen.“ Dieses Bedürfnis, sich in die Geschichte hineinzuwühlen, beobachtet Sapin auch bei sich selbst. Die Racine-Episoden sind ein richtiger Historiencomic geworden, dem man Sapins Freude ansieht, eine vergangene Welt zu zeichnen.
Und so wie in der Politik überlappen sich auch in der Architektur, in dem was Sapin „das Dekor“ nennt, die Ebenen. Racine lebte in Paris dort, wo heute Sapin lebt, im Quartier Latin. Sapin erzählt von seinem Vater, der Archäologe war und von dem er eine „sehr physische Beziehung zur Vergangenheit“ übernommen habe. Anders gesagt: Die alten Steine sprechen mit Sapin. Als im April 2019 Notre-Dame brannte, stand Sapin vor der Kathedrale, sah den Rauch und die Flammen und war schon so tief in die Welt Racines abgetaucht, dass er als Erstes daran dachte, dass gerade ein Gebäude zusammenzustürzen drohte, an dem schon Racine vorbeigelaufen war.
Am Ende verschränken sich nicht nur die Epochen, auch die Comichelden aus Sapins Büchern könnten miteinander ins Gespräch kommen. Es ist schon spät am Abend auf einer Reise im Windschatten Macrons, als der Präsident sich auf einmal persönlich an Sapins gezeichnetes Alter Ego wendet. Cocktailglas in der Hand, entspannt lächelnd, wie immer. Macron, wie Sapin ihn sieht, ist einer, den die Macht aufblühen lässt, statt ihn zu belasten. Nach einem kurzen Small Talk wird Macron fordernd: Er will Gérard Depardieu anrufen. Sapin ist in diesem Moment nicht mehr Beobachter der Macht, er ist einfach nur eine Art nützliches Adressbuch. Und die Frage, wer hier eigentlich wen verführt, stellt sich neu. Es geht nicht mehr um den Künstler, der sein Verhältnis zur Macht auslotet. Es geht um den mächtigsten Mann des Staates, der den großen Star kennenlernen möchte, denjenigen, den die Menschen wirklich lieben.
Mathieu Sapin,
Jahrgang 1974, ist ein französischer Comicautor und Zeichner. Bekannt wurde er mit
„Gérard – Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“.
Foto: Joel Saget/AFP
Mathieu Sapin hat sich selbst als hageres Männlein mit Knödelkopf gezeichnet (vorne links), das von der Nähe zur Macht immer wieder überfordert ist. Als er in die Präsidentenmaschine eingeladen wird, ist er so eingeschüchtert, dass er kaum noch vollständigen Sätze hervorbringt.
Abb.: Mathieu Sapin / Reprodukt
Mathieu Sapin:
Comédie Française – Reisen ins Vorzimmer der Macht. Comic. Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Handlettering von Olav Korth. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten, 24 Euro.
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Zwei Jahre ist der Comiczeichner Mathieu Sapin dem französischen Präsidenten hinterhergejagt.
„Comédie Française“ ist dennoch kein Porträt Emmanuel Macrons – sondern ein Porträt der Macht
VON NADIA PANTEL
Emmanuel Macron ist bester Dinge. Ob Frankreichs Präsident in der muffigen Garderobe eines Fernsehstudios sitzt, Kriegsveteranen die Hände schüttelt oder sich für den Export französischer Litschis einsetzt – immer lächelt er. Der französische Comiczeichner Mathieu Sapin hat Macron von 2017 bis 2019 auf zwei größeren Reisen begleitet, ihn im Wahlkampf und bei einer Debatte mit Intellektuellen erlebt. Und er hat danach kein einziges Bild gezeichnet, auf dem Macron nicht entspannt aussieht. „Comédie Française“ heißt Sapins Werk auf den Spuren Macrons. Es ist nicht das Porträt eines Mannes, sondern ein Porträt der Macht.
Eigentlich habe er verstehen wollen, warum „ein Mann mit Anfang 40, aus meiner Generation“ überhaupt Präsident werden will. Ein „langweiliges, schwieriges, brutales“ Amt, findet Sapin. Der 46-Jährige sitzt auf dem schmalen Balkon seines Ateliers in der Nähe des Pariser Canal Saint-Martin. Seine eigene Arbeitsumgebung ist so ziemlich der größte Gegensatz zu dem Pomp, mit dem sich Präsident Macron umgibt. Sapins Atelier ist genau genommen einfach ein Zimmer in einer kleinen Zweiraumwohnung, die er sich mit dem Comiczeichner Christophe Blain teilt. Zum Interview lädt Sapin auf den Balkon, auf den genau zwei Stühle passen, weil drinnen der Platz nicht reicht, um den in Pandemiezeiten nötigen Abstand zu halten. Eigentlich sei sein Macron-Comic die Geschichte eines Scheiterns, sagt Sapin. Er jagt dem Präsidenten hinterher und erlebt ihn nicht als Mensch mit Höhen und Tiefen, sondern „manchmal fast wie einen Roboter“. Sapin kommt Macron nicht wirklich nahe. Doch er wird Teil der Entourage, die um den Staatschef kreist, wie um eine, ja, Sonne.
In diesem Kreisen findet Sapin sein Thema. Er beobachtet in „Comédie Française“ nicht nur Macron, sondern auch sich selbst. Das Buch beginnt damit, dass Macron Sapin zuzwinkert und sagt, Sapin habe „einen genialen Comic über Dépardieu“ gemacht. Ist Sapin nach dieser Begegnung noch Chronist oder ist er schon Verführter? In seinen Comics ist Sapin grundsätzlich der Antiheld, er ist überfordert, manchmal auch eingeschüchtert, als er in der Präsidentenmaschine mitfliegen darf, kotzt er in die Bordtoilette. Was fasziniert so einen an der Macht? Diese Frage stellt sich nicht nur der Leser, sondern auch Sapin selbst.
Als Comiczeichner könne er eigentlich „ruhige Tage am Schreibtisch“ verbringen, sagt Sapin. Doch er hat sich entschieden, „an exotische Orte zu reisen, wie ein Reporter“. Was Sapin „exotische Orte“ nennt, ist auf der Titelseite seines aktuellen Werks treffend mit „Reisen ins Vorzimmer der Macht“ beschrieben. Exotisch sind nicht die Tropen oder ferne Länder, exotisch sind die Menschen an der Spitze des Staates. Sapins Reisen in die Politik begannen 2012 mit einem Buch über den Wahlkampf François Hollandes, dann folgte „Le Château“, ein Porträt des Élysée-Palasts, dieser prähistorischen Riesenmaschine. Auch außerhalb Frankreichs berühmt wurde Sapin 2018 durch „Gérard – Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“. Sapin nähert sich darin dem berühmten Schauspieler ähnlich an wie dem Präsidenten: Es sind für ihn Machtzentren, Personen, die in der Mitte eines Universums hocken, deren Dynamik er verstehen und beschreiben möchte.
„Ich suche mir Personen aus, die widersprüchlich sind“, sagt Sapin, „ich will keine Wertung vorgeben, sondern beobachtender Zeuge sein.“ Dazu gehört auch, dass Sapin selbst Teil seiner Bilder ist, „der Leser soll wissen, dass ich nichts zeichne, was ich nicht selbst gesehen habe“. Sapin als Comicfigur ist ein hageres Männlein mit knödeligem Kopf. In einer Szene geht Sapin essen und hält eine Kartoffel auf einer Gabel in die Höhe. Gemüse und Kopf sind gleich groß und ähneln einander sehr.
Um sein eigenes Verhältnis zur Macht zu erforschen, erfindet Sapin einen zweiten Erzählstrang, der einen doppelten Blick auf die Gegenwart ermöglicht. „Comédie Française“ spielt auch im 17. Jahrhundert, zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Sapin nimmt den Leser mit, wie er sich in die Biografie Jean Racines einarbeitet. Frankreichs größter Tragödienautor wendet sich als gefeierter Schriftsteller vom Theater ab, um den König als Chronist zu begleiten. Wie viel Racine steckt nun also in Sapin, und wie wappnet er sich dagegen, den Inszenierungen der Macht zu erliegen? Das Buch ist einerseits die Geschichte eines Comiczeichners, Sapin selbst, der hinter dem Präsidenten Macron herjagt. Und andererseits bewegt sich das Werk entlang der großen französischen Kontinuitäten. Denn indem Sapin seine Nähe zu einem Racine untersucht, rückt er gleichzeitig auch Macron in die Nähe des Sonnenkönigs. „Frankreich ist ein paradoxes Land“, sagt Sapin auf seinem Balkon: „Einerseits sind wir das Land der Revolution, andererseits haben wir diesen irre mächtigen Präsidenten, der in einem Palast wohnt.“
Die Parallelen zwischen der Gegenwart und der Epoche des Sonnenkönigs ziehen sich nicht nur durch „Comédie Française“, weil Sapin dies so montiert. Sondern auch, weil das Land um ihn herum sie zieht. Sapins Reisen mit Macron fallen in die Jahre 2018 und 2019, es ist die Zeit der Gelbwesten-Bewegung. Macron fährt durch Ostfrankreich, um des Endes des Ersten Weltkriegs zu gedenken und sich selbst als Erneuerer des Landes zu inszenieren. Sapin begleitet dieses erinnerungspolitische Großprojekt und hält fest, wie Macron von zornigen Bürgern beschimpft statt bejubelt wird. Die Gelbwesten interessieren Sapin aber nur am Rande, sie tauchen immer wieder auf, zu Wort kommen sie nicht. Doch wer in den Jahren 2018 und 2019 in Frankreich die Nachrichten verfolgte, weiß, dass es zu den Lieblingsvorwürfen der Gilets jaunes gehörte, Macron mit Ludwig XIV. gleichzusetzen. Und Macron selbst wiederum nennt sich zu Beginn seiner Zeit im Élysée Jupiter, weil er sich bewusst für eine symbolische Überhöhung seines Amtes entscheidet. „Es gibt in Frankreich diese Wut über die Abgehobenheit der Eliten, die viele an das 17. Jahrhundert erinnert“, sagt Sapin, „und gleichzeitig diese Sehnsucht nach dem 17. Jahrhundert als goldenes Zeitalter.“
Diese Sehnsucht dokumentiert Sapin, ohne klar Position zu beziehen. Er lässt sich von Brigitte Macron einen Vortrag über Racine halten („wussten Sie, dass er in Alexandrinern geträumt hat“) und wird belehrt, dass der König für den Dichter damals „die Leib gewordene Macht von Gottes Gnaden“ darstellte. Der kleine, knödelige Comic-Sapin sagt einfach nur „Ok.“ Und notiert daneben: „Sie spricht über das 17. Jahrhundert, als wäre sie dabei gewesen.“ Dieses Bedürfnis, sich in die Geschichte hineinzuwühlen, beobachtet Sapin auch bei sich selbst. Die Racine-Episoden sind ein richtiger Historiencomic geworden, dem man Sapins Freude ansieht, eine vergangene Welt zu zeichnen.
Und so wie in der Politik überlappen sich auch in der Architektur, in dem was Sapin „das Dekor“ nennt, die Ebenen. Racine lebte in Paris dort, wo heute Sapin lebt, im Quartier Latin. Sapin erzählt von seinem Vater, der Archäologe war und von dem er eine „sehr physische Beziehung zur Vergangenheit“ übernommen habe. Anders gesagt: Die alten Steine sprechen mit Sapin. Als im April 2019 Notre-Dame brannte, stand Sapin vor der Kathedrale, sah den Rauch und die Flammen und war schon so tief in die Welt Racines abgetaucht, dass er als Erstes daran dachte, dass gerade ein Gebäude zusammenzustürzen drohte, an dem schon Racine vorbeigelaufen war.
Am Ende verschränken sich nicht nur die Epochen, auch die Comichelden aus Sapins Büchern könnten miteinander ins Gespräch kommen. Es ist schon spät am Abend auf einer Reise im Windschatten Macrons, als der Präsident sich auf einmal persönlich an Sapins gezeichnetes Alter Ego wendet. Cocktailglas in der Hand, entspannt lächelnd, wie immer. Macron, wie Sapin ihn sieht, ist einer, den die Macht aufblühen lässt, statt ihn zu belasten. Nach einem kurzen Small Talk wird Macron fordernd: Er will Gérard Depardieu anrufen. Sapin ist in diesem Moment nicht mehr Beobachter der Macht, er ist einfach nur eine Art nützliches Adressbuch. Und die Frage, wer hier eigentlich wen verführt, stellt sich neu. Es geht nicht mehr um den Künstler, der sein Verhältnis zur Macht auslotet. Es geht um den mächtigsten Mann des Staates, der den großen Star kennenlernen möchte, denjenigen, den die Menschen wirklich lieben.
Mathieu Sapin,
Jahrgang 1974, ist ein französischer Comicautor und Zeichner. Bekannt wurde er mit
„Gérard – Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu“.
Foto: Joel Saget/AFP
Mathieu Sapin hat sich selbst als hageres Männlein mit Knödelkopf gezeichnet (vorne links), das von der Nähe zur Macht immer wieder überfordert ist. Als er in die Präsidentenmaschine eingeladen wird, ist er so eingeschüchtert, dass er kaum noch vollständigen Sätze hervorbringt.
Abb.: Mathieu Sapin / Reprodukt
Mathieu Sapin:
Comédie Française – Reisen ins Vorzimmer der Macht. Comic. Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Handlettering von Olav Korth. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten, 24 Euro.
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