Für einen Literaturwissenschaftler ist diese erweiterte Dissertation zur Erlangung des Grades Dr. phil der Offenbarungseid. Nicht nur, daß Genitive und Dative, Singulare und Plurale munter durcheinanderpoltern, befleißigt sich der Autor auch einer üblen Mixtur aus wissenschaftlichen Termini und
pseudointellektuellem Neusprech ("wirkmächtig" statt "wirksam", "gleichursprünglich" statt "gleichen…mehrFür einen Literaturwissenschaftler ist diese erweiterte Dissertation zur Erlangung des Grades Dr. phil der Offenbarungseid. Nicht nur, daß Genitive und Dative, Singulare und Plurale munter durcheinanderpoltern, befleißigt sich der Autor auch einer üblen Mixtur aus wissenschaftlichen Termini und pseudointellektuellem Neusprech ("wirkmächtig" statt "wirksam", "gleichursprünglich" statt "gleichen Ursprungs"), welche die Lektüre zur Qual werden läßt. Sonderliches Stilempfinden kann dem Verfasser guten Gewissens nicht nachgesagt werden.
Klare Gedanken lassen sich zumeist auch in klare, verständliche Sätze fassen; hier liegt indes die Vermutung nahe, daß zahlreiche Gedanken bei weitem nicht klar waren, als sie niedergeschrieben wurden. Da finden sich dann Sprechblasen wie „AIDS konturiert unwiederbringlich das sexuelle Erleben.“ oder Kuriosa wie „Der neue Typ des postmodernen Individualisten kann das Coming-out in die Hülle seiner gesellschaftlich geforderten Baukasten-Identität integrieren, weil er sich eingesteht, daß seine Mitte leer ist.“ Man darf fröhlich mitraten: Der Typ? Der Baukasten? Oder doch das Coming-out? Das mögen jene klären, die sich etwas unter einem "subversiven Potenzial" vorstellen können, das "einer heteronormativen Schließung entgeht".
Inhaltlich läßt der Autor, der sich selbst für politisch links hält und in den Gefilden der Queer Theory (in ihrer deutschen Ausprägung) ansiedelt, an beiden Verortungen zweifeln. Da droht etwa Coming-outlern das gleiche Schicksal "wie den Normalen" ("normal" ohne Anführungen!), gebraucht der Autor das eindeutig besetzte Wort "outen" reflexiv bzw. als Synonym für das ebenso eindeutig besetzte "Coming-out" und belegt mit Vermurksungen inhaltlich klar definierter politökonomischer Termini ("libidinöser Mehrwert", "Produktionsweise schwuler Identität"), daß er von der Politischen Ökonomie und ihren Kategorien, mithin der Basis jedweden Linksseins, keine Ahnung und folglich arge Probleme mit der verbal sauberen Abgrenzung von Kontexten hat.
Purer Biologismus schlägt ferner dem Leser entgegen, wenn von "weiblichen Anteilen" im Schwulen bzw. Mann die Rede ist oder schon im Vorwort dem Doktorvater gedankt wird für die Betreuung "ganz wie von einem leiblichen Vater". – Ganz, wie es sich gehört, wenn die Queer Theory mit der Stimme des Blutes spricht.
Eine Dummdreistigkeit sondergleichen leistet sich Woltersdorff mit der Denunziation „Seit dem Rückgang der Sterberaten propagieren einzelne Communitys (sic!), die sich vor allem aus HIV-Positiven zusammensetzen, den willentlich ungeschützten Sexualverkehr, das sogenannte barebacking.“ Selbiges „propagieren“ besagte Communities gerade nicht, sondern sie reklamieren vielmehr das Recht für sich, genauso einverständlichen ungeschützten Geschlechtsverkehr ausüben zu dürfen wie Heterosexuelle. Hier trifft politische auf fachliche Inkompetenz und landet beides, wohin es gehört: im ideologischen Fahrwasser der homophoben Rechten.
Editorisch ist das Buch des in eitler Selbst-Inszenierung auf dem Buchtitel abgebildeten Autors ein editorisches Desaster. Fremdsprachige Zitate werden – eine verlegerische Unsitte und Ausdruck arroganter Verachtung des Publikums – in der Regel nicht übersetzt. Zehn Prozent der Seiten resp. ca. 15 Prozent des Textes nimmt (als wollte oder müßte der Autor beweisen, viel gelesen zu haben) allein die Literaturliste ein, wohingegen Sach- und Personenregister fehlen. Der arbeitsprarende Verzicht auf diese Standards macht es für die effektive wissenschaftliche wie politische Arbeit unbrauchbar. Deshalb meine dringende Empfehlung: Allenfalls ausleihen, aber auf keinen Fall Geld für dieses Buch ausgeben.