Jazz übte eine eminente kulturelle Wirkung auf zahlreiche Sphären der neuen Öffentlichkeit Deutschlands nach der Befreiung 1945 aus und wurde zum Ausdruck eines komplexen Zeit- und Lebensgefühls, das weit über Liebhaberkreise hinaus Einfluss auch auf Literatur und Film, Debatten und Diskurse genommen hat.Das Buch zeigt in konzisen Lektüren der unterschiedlichsten Zeugnisse - von Fan-Zines und Leserbriefen über Essays und Sachliteratur, Romane, Hörspiele und Filme bis zu Zeitschriften wie "twen" oder mündlichen Überlieferungen aus der "Exi"-Jugendszene -, in welchem Maß Jazz durch seine enge Verknüpfung mit der radikal kritischen, dabei zugleich 'zurückgenommenen' Haltung des amerikanischen Cool gegenkulturelle Virulenz zum restaurativen Geist der Adenauer-Ära entfaltet hat. Zugleich wird deutlich, dass diese Virulenz durch die besonderen Bedingungen im Westdeutschland der Nachkriegsjahre spezifisch aufgerufen wurde. Zu diesen gerade an diesem Ort relevanten, letztlich unvermeidlichen Bedeutungsfeldern gerieten vor allem die Frage nach dem Rassismus, die Frage nach der nationalen 'Identität' und schließlich die Revision des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik durch eine radikale Ausdruckskultur.Jazz wird erkennbar als genuiner Ausdruck eines zutiefst skeptischen Lebensgefühls - bis die charakteristische Haltung des Cool durch die des lautstarken und aktivistischen Protestes einschließlich der sie begleitenden neuen musikalischen Soundtracks abgelöst wurde.
"Braese begibt sich auf literarische Spurensuche und analysiert die öffentlichen Diskussionen über diese neue, von deutschen Traditionalisten meist nur mit 'Quäken, Jaulen und Grunzen' verbundene 'Tanzmusik'. (...) Darüber hinaus ist das Buch auch eine wichtige Studie über die Gegenkultur zum offen zur Schau getragenen Rassismus in Nachkriegsdeutschland, der die frühen Diskussionen um den Jazz auf der Grundlage nationalsozialistischer Lehren noch erstaunlich lange prägte."Rhein-Neckar-Zeitung, 20.4.2024
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Das Thema des Buchs findet Helmut Böttiger hochinteressant, und in der Tat: Die Rezeption von Jazz in der frühen Bundesrepublik, die Verknüpfung dieses Musikgenres mit der Idee der Demokratie und mit der Abwendung von der Nazizeit - das sind für Böttiger studierenswerte Themen. Verblüfft nimmt der Rezensent zur Kenntnis, dass die populäre Zeitschrift Hörzu 1947 gegen harmlose Bigband-Arrangements im Sender NWDR wetterte und es tatsächlich fertigbrachte, dass der Arrangeur vom Sender gefeuert wurde. Wesentlich weniger einverstanden ist Böttiger mit anderen Passagen des Buchs: Kritisch sieht er etwa, wie der Autor die Kontroverse zwischen "Jazzpapst" Joachim Ernst Berendt und Theodor W. Adorno im Merkur resümiert - nur versäumt es der Rezensent hier, die Positionen des Autors wirklich darzulegen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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