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Corinthes letzte Tage: damit findet der "autobiographische" Zyklus Alain Robbe-Grillets seinen Abschluß. Eine "Autobiographie" freilich besonderer Art. Denn wie jener einst aufgebrochen war, die überkommenen Konventionen "realistischen" Schreibens und die dahinterstehende Auffassung der Darstellbarkeit von Welt zu untergraben, um die noch immer bestehenden Illusionen eines rationalen, mit sich identischen Ich, das sich erzählend seiner eigenen Geschichte vergewissert, zu demontieren. Und so ist das Subjekt dieser "Autobiographie" oder "Autofiktion" auch kein einzelnes, sondern ein mehrfaches, gleichsam ein "schizophrenes" Ich.…mehr

Produktbeschreibung
Corinthes letzte Tage: damit findet der "autobiographische" Zyklus Alain Robbe-Grillets seinen Abschluß. Eine "Autobiographie" freilich besonderer Art. Denn wie jener einst aufgebrochen war, die überkommenen Konventionen "realistischen" Schreibens und die dahinterstehende Auffassung der Darstellbarkeit von Welt zu untergraben, um die noch immer bestehenden Illusionen eines rationalen, mit sich identischen Ich, das sich erzählend seiner eigenen Geschichte vergewissert, zu demontieren. Und so ist das Subjekt dieser "Autobiographie" oder "Autofiktion" auch kein einzelnes, sondern ein mehrfaches, gleichsam ein "schizophrenes" Ich.
Autorenporträt
Alain Robbe-Grillet wurde am 18. August 1922 in Brest geboren. Er hat Landwirtschaft studiert und später am Institut National des Statistiques gearbeitet. 1953 publizierte er seinen ersten Roman. Am 18. Feburar 2008 ist Alain Robbe-Grillet 85jährig in Caen gestorben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.1997

Kirche der Häretiker
Alain Robbe-Grillets Autobiographie · Von Jürg Altwegg

Anfang der sechziger Jahre, als der Nouveau Roman zusammen mit dem Strukturalismus zum erfolgreichsten Exportartikel der französischen Kultur geworden war, gab sein Papst, wie man Alain Robbe-Grillet genannt hat, eines seiner vielen Gastspiele in der Neuen Welt. In der Eisenbahn zwischen Chicago und Minneapolis sprach er eine "hübsche Literaturstudentin" an. Als er sich nach zweihundert Kilometern namentlich vorstellte, reagierte sie verdutzt: "Das ist doch nicht möglich, er ist schon lange tot!"

Der Nouveau Roman gilt als trockene und reichlich theoretische Angelegenheit, die sich in sterilen Formalismen und stilistischen Experimenten erschöpft, ihren Sinn aus den Strukturen bezieht und leblose Figuren ohne Fleisch und Blut in die öde Welt penetrant zelebrierter Langeweile setzt. Sein ästhetisches Credo wird auf den Begriff der Objektivität reduziert, und dieses literarische Konzept wird zum ideologischen Programm stilisiert. So eifrig, wie ihm die internationale intellektuelle Öffentlichkeit zumindest ein Jahrzehnt lang huldigte, wird auch heute noch seine Überwindung verkündet und zelebriert. An dieser Bewegung des Absetzens und Bezichtigens beteiligen sich längst auch die Protagonisten des Nouveau Roman.

"Der Roman befand sich in einer Sackgasse, es gab keinen Ausweg", verkündete Marguerite Duras in ihrer unnachahmlich kategorischen Art, als sie das Genre mit "Der Liebhaber" gerade für sich entdeckt hatte. Die Duras begann mit der Verleugnung ihrer literarischen Vergangenheit, die sie nicht weniger heftig verwarf als ihre politische und ideologische, zum Zeitpunkt der Entdeckung ihres Ichs. Es war im Nouveau Roman so tabu wie in den Geisteswissenschaften der Epoche. In ihrem autobiographischen Liebesroman über die Zeit ihrer kolonialistischen Jugend und in den journalistischen wie literarischen Arbeiten, die den "Liebhaber" begleiten, enthüllt sie es auf leicht selbstquälerische und ziemlich exhibitionistische Weise.

Fast gleichzeitig legte der im Rufe eines Voyeurs mit sadistischen Neigungen stehende Alain Robbe-Grillet, von der Duras in der Gunst der Leser überholt und von Claude Simon im Wettkampf um den Nobelpreis geschlagen, den ersten Band einer dreiteiligen Autobiographie vor. Er trägt den Titel "Der wiederkehrende Spiegel". Ihm folgte "Angélique oder die Verzauberung". Den Abschluß bilden jetzt "Corinthes letzte Tage", die drei Jahre nach der französischen Ausgabe in der Übersetzung von Andrea Spingler erscheinen.

Gegen Ende des Buches schildert der inzwischen fünfundsiebzig gewordene Robbe-Grillet die Begegnung mit der amerikanischen Studentin im Zug. Die Anekdote ist ein frühes Indiz seiner Unsterblichkeit. Zu den Leitmotiven seiner Autobiographie gehört der kritische - um es gleich zu sagen: geglückte - Versuch der Ehrenrettung für den Nouveau Roman. Er ist Robbe-Grillets Gesamtkunst- und Lebenswerk, mit dem er sich weiterhin identifizieren will. "Fragen Sie Butor, Pinget, Duras, Ollier, ja Sarraute", schreibt er in "Corinthes letzte Tage", "ob ihre Bücher zum Nouveau Roman gehören. Keiner wird es ohne Zögern zugeben, fast alle werden sogleich ihre Vorbehalte verdeutlichen wollen, mehrere von ihnen werden dieser Einordnung heftige und absolute Ablehnung entgegenbringen."

Robbe-Grillet hatte sie alle bei den Editions de Minuit versammelt. So unterschiedlich diese Schriftsteller, deren Entwicklung in ganz verschiedene Richtungen geführt hat, schon damals waren - für Robbe-Grillet hatten sie doch Wesentliches gemein: die gleiche Auffassung von der Literatur. Sie richtete sich gegen Sartres Begriff - und Diktatur - des Engagements. Jeder war ein Star, es gab weder eine Hierarchie noch gemeinsame Regeln. "Der Nouveau Roman ist nie eine Schule und noch weniger eine umfassende literarische Theorie gewesen", beschwört der Biograph in eigener Sache seinen Leser: "Glaubt man wirklich, daß ich, um eine Kirche zu gründen, eine solche Versammlung von Häretikern ausgewählt hätte?"

Stolz ist er auf seine Jünger denn doch. Nathalie Sarraute, die ihm von allen am nächsten steht, sieht er in der Nachfolge Prousts. Butor und Simon, über die er sich schon sehr viel distanzierter äußert, situiert er in jener von Joyce und Faulkner - "so wie ich in jener Kafkas stand". Als "Zusammenschluß von Übeltätern" bezeichnet er seine Bande, die "seit gut einem drittel Jahrhundert" unter dem Etikett Nouveau Roman in "Schulbücher und Enzyklopädien" Einzug gehalten hat und von China bis Schweden, zwischen Neuseeland und dem Irak "beträchtlichen Einfluß" ausübt: "Der Nobelpreis, mit dem unlängst Claude Simon ausgezeichnet wurde und der genausogut Nathalie Sarraute hätte zufallen können (nicht mir, der ich nicht ein so achtbares Profil besitze!), ist nur ein Beweis unter anderen für dieses unbestreitbare, nunmehr historische Phänomen."

Als es den Editions de Minuit, die auch den überall abgewiesenen Samuel Beckett aufnahmen, besonders schlecht ging, faßte Robbe-Grillet, von dessen "Voyeur" beachtliche zehntausend Exemplare abgesetzt worden waren, einen Wechsel zu Gallimard, der ihn umwarb, ins Auge. Er bot ihm "La Jalousie" an und wollte den Vorschuß dem Verleger Jérôme Lindon, der informiert und einverstanden war, für Minuit zur Verfügung stellen. Gaston Gallimard lehnte das Manuskript schließlich doch ab. Tatsächlich erwies sich das Buch als kommerzieller Mißerfolg. Die Editions de Minuit überlebten trotzdem - vor allem dank der hohen Auflagen, die Beckett wie Alain Robbe-Grillet langfristig im In- wie Ausland erreichten.

Seine Autobiographie ist voller herrlicher Anekdoten. "Unsere Freunde vom Nouveau Roman liebten ihn nicht besonders", schreibt Robbe-Grillet über Sartre, zu dem er über alle Differenzen hinweg eine distanzierte Beziehung voller Wertschätzung, ja intellektueller Zärtlichkeit unterhielt. Sein Bericht vom Besuch einer französischen Schriftstellerdelegation bei den Genossen in Leningrad gehört zu den Höhepunkten von "Corinthes letzte Tage". An ihm beteiligte sich auch Simone de Beauvoir. Die "Duchesse de Beauvoir" trifft seine ganze Verachtung: "Ihr strenges Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen hatte den tadelnden Ausdruck einer protestantischen Lehrerin, die in einem Inquisitionstribunal sitzt." Das "strenge Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen" wird ein paar Seiten später nochmals genüßlich beschrieben. In seinem Haß auf die Frau an Sartres Seite fällt der Autor unter das Niveau seiner Ästhetik auf den Realismusbegriff von Balzac zurück, bei dem ein Geizhals mit den seinen Eigenschaften zugeschriebenen Gesichtszügen gezeichnet wurde. Gegen solche literarischen Theorien, die er unter Berufung auf die Widersprüche und eine Wirklichkeit, die nicht realistisch sei, bekämpfte, war der Nouveau Roman einst angetreten.

Daß es die Strukturen seien, die den Sinn produzieren, erklärte damals auch der redselige Robbe-Grillet in seinen Interviews. Er hat es nicht vergessen, und daß er ein Mann von intellektueller Redlichkeit ist, beweist er mit seiner Autobiographie. Er hat sie als raffiniertes Spiel auf drei Ebenen konzipiert, die sich vermischen, einander widersprechen und sich auch gegenseitig beeinflussen. Neben den literaturkritischen Reflexionen und den Anekdoten aus dem Alltag eines Schriftstellers gibt es die Fiktion in der etwas obskuren Figur des Corinthe.

Die "Wahrheit" steckt oft in der Fiktion, und den scheinbar objektiven Beschreibungen des Autors muß man am meisten mißtrauen. Die einzelnen Ereignisse, Anekdoten, Figuren, Erlebnisse sind in "Corinthes letzte Tage" historisch faßbarer, scheinbar konkreter - letztlich aber keinesfalls realer oder wirklicher als in den vorherigen Romanen. Wie stark wiederum das Ich des Autors in ihnen präsent war und ist, macht - auf Umwegen und mit Andeutungen - die dreibändige Autobiographie deutlich. Sie ist das Glaubensbekenntnis eines Schriftstellers, der nie an die Allmacht des Schöpfers über sein Werk glauben wollte.

Im ebenso enthüllenden wie verschleiernden Spiel von Realität und Phantasma zelebriert sich Robbe-Grillet mit den Stoffen, auch den erotischen, die sein ganzes Schreiben bestimmen, als widersprüchliche literarische Figur, paradigmatisch und enigmatisch zugleich. Er dreht den Spieß um. Der ohnehin mißverständliche Begriff der Objektivität ist endgültig unhaltbar geworden - und deshalb konstituiert sich der Schriftsteller, der aus seiner Literatur programmgemäß verschwunden war, selbst als ideales Subjekt des Nouveau Roman. "Das Fleisch der Sätze hat schon immer eine große Rolle in meiner Arbeit gespielt", lautet der erste Satz.

Alain Robbe-Grillets autobiographische Trilogie ist in ihrer Aufrichtigkeit, die sie permanent in Frage stellt und in Zweifel zieht, das Gegenteil von Sartres "Die Wörter" und mehr der Gattung als der eigenen Person verpflichtet: eine Autobiographie für den Nouveau Roman. Im nachhinein beweist sie, was nur Kenner merkten: daß dieser ein überaus humorvolles Kapitel der Literaturgeschichte darstellt. Dank Alain Robbe-Grillets "nouvelle autobiographie" bekommt der zu Unrecht vielgeschmähte, von seinem authentischsten Vertreter genial rehabilitierte Nouveau Roman auch noch einen Hauch von Selbstironie. Das kann seinem tieferen Verständnis und weiteren Überleben nur guttun.

Alain Robbe-Grillet: "Corinthes letzte Tage". Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main l997. 235 S., geb., 38,- DM.

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