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Jung, attraktiv, begabt und unabhängig: Das ist Mia Holl, eine Frau von dreißig Jahren, die sich vor einem Schwurgericht verantworten muss. Zur Last gelegt wird ihr ein Zuviel an Liebe (zu ihrem Bruder), ein Zuviel an Verstand (sie denkt naturwissenschaftlich) und ein Übermaß an geistiger Unabhängigkeit. In einer Gesellschaft, in der die Sorge um den Körper alle geistigen Werte verdrängt hat, reicht diese Innenausstattung aus, um als gefährliches Subjekt eingestuft zu werden. Mia Holl will beweisen, dass ihr Bruder, verurteilt wegen einer angeblichen Vergewaltigung, unschuldig ist. Sie gerät…mehr

Produktbeschreibung
Jung, attraktiv, begabt und unabhängig: Das ist Mia Holl, eine Frau von dreißig Jahren, die sich vor einem Schwurgericht verantworten muss. Zur Last gelegt wird ihr ein Zuviel an Liebe (zu ihrem Bruder), ein Zuviel an Verstand (sie denkt naturwissenschaftlich) und ein Übermaß an geistiger Unabhängigkeit. In einer Gesellschaft, in der die Sorge um den Körper alle geistigen Werte verdrängt hat, reicht diese Innenausstattung aus, um als gefährliches Subjekt eingestuft zu werden. Mia Holl will beweisen, dass ihr Bruder, verurteilt wegen einer angeblichen Vergewaltigung, unschuldig ist. Sie gerät also in Stellung gegen das System, hier "Methode" genannt, auch aus Liebe zu ihrem Bruder, der sich das Leben nahm.

Juli Zeh entwirft in Corpus Delicti das spannende Science-Fiction-Szenario einer Gesundheitsdiktatur im Jahr 2057. Sie zeichnet ein System, das alle und alles kontrolliert. Gesundheit ist zur höchsten Bürgerspflicht geworden. Die "Methode" verlangt ein festes Sportpensum ebensowie die Abgabe von Schlaf- und Ernährungsberichten. Buchstäblich über jeden Schritt seiner Bürger ist dieser Staat informiert.

Corpus Delicti handelt von höchst aktuellen Fragen: Wie weit kann und wird der Staat individuelle Rechte einschränken? Gibt es ein Recht des Einzelnen auf Widerstand?

Juli Zehs Corpus Delicti. Ein Prozess ist ein visionäres und ungeheuer spannendes Buch über unsere Zukunft, die wir immer weniger bestimmen können.
Autorenporträt
Zeh, Juli
Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, wurde für ihre Bücher, die inzwischen in 28 Sprachen übersetzt sind, vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Bücherpreis (2002), dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Per Olov Enquist-Preis (2005) und zuletzt mit dem Jürgen-Bansemer-und-Ute-Nyssen-Dramatiker-Preis (2008) sowie dem Prix Cévennes (2008).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2020

Kriterien für die Prävention

Man muss begründete und unbegründete Ängste unterscheiden: Was Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" in der Pandemie-Krise lehrt.

Gesund und sauber bleiben - kann das denn alles sein? So fragt Juli Zeh in ihrem 2009 erschienenen Roman "Corpus Delicti", der Negativ-Utopie einer Gesundheitsdiktatur in der Mitte unseres Jahrhunderts, die in einigen Aspekten vorderhand wie eine erzählerische Folie der gegenwärtigen Corona-Politik wirken könnte. Aber abgesehen davon, dass prognostische Kurzschlüsse zwischen Literatur und Lebenswelt die Zeitdiagnose generell eher behindern als befördern, ist in diesem besonderen Fall vorweg zu sagen: Trotz mancher Anklänge des Romans an die aktuelle Situation, was die Risiken eines prinzipiell uferlosen Präventionsgedankens angeht, überwiegen in der Sache die Unterschiede.

In der von Juli Zeh entworfenen Diktatur kann jemand gerichtlich vorgeladen werden, der sich folgender Vergehen schuldig gemacht hat: "Vernachlässigung der Meldepflichten. Schlafbericht und Ernährungsbericht wurden im laufenden Monat nicht eingereicht. Plötzlicher Einbruch im sportlichen Leistungsprofil." Man mag fragen: Sind wir, die Bürger der auf Bekämpfung von Covid-19 eingeschworenen Republik, nicht schon auf dem Weg in einen solchen Staat? Kommunalbeamte und Polizeigewerkschafter fordern uns dazu auf, Verstöße von Mitbürgern gegen die Kontaktverbote zu melden. Aber schon dieses Beispiel führt die Unterschiede vor Augen. Die Meldungen, was immer man von ihrer Nützlichkeit halten mag, sind als Akte des Bürgersinns konzipiert. Es ist kein System von Meldepflichten installiert worden.

Selbst bei den technischen Hilfsmitteln zur Rekonstruktion von Infektionswegen, denen lebensrettende Wirksamkeit zugetraut wird, betonen alle Autoritäten, dass ihr Betrieb nur auf freiwilliger Basis denkbar ist. Und weiter im Katalog der Roman-Vergehen: Die sportliche Ertüchtigung wird den Bürgern nicht vorgeschrieben, vielmehr begründet sie in allen Verordnungen und Allgemeinverfügungen den Schutzraum einer Freiheit, in die auch im gegenwärtigen Notstand nicht eingegriffen wird, weil man sich auch ohne Körperkontakt fit halten kann.

Auch besonnene Kommentatoren haben allerdings zur Beschreibung des Horizonts möglicher Nebenfolgen der Maßnahmen gegen die Pandemie den Begriff der Diktatur verwendet. So hat der Frankfurter Öffentlichrechtler Uwe Volkmann im "Verfassungsblog" ein entsprechendes Szenario als "zwar drastisch formuliert, aber als Befürchtung möglicherweise nicht übertrieben" bezeichnet. Volkmann bezog sich dabei auf eine Äußerung seines Göttinger Kollegen Hans Michael Heinig, der ebenfalls im "Verfassungsblog" geschrieben hatte: "Ungern fände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat." So ist unsere Situation: Eine Befürchtung kann auch dann vernünftig sein, wenn man es für unwahrscheinlich hält, dass sie eintritt. Und das Aussprechen der Befürchtung kann das Eintreten unwahrscheinlicher machen.

In "Corpus Delicti" ist die politische Ausgangslage erkennbar eine andere: Geht es im Buch um Gesundheit um der Gesundheit willen, um ein mit diktatorischen Maßnahmen durchgesetztes Staatsprinzip ohne lebensbedrohlichen Hintergrund, so haben wir es in der hiesigen Wirklichkeit von 2020 mit temporären Strategien zur Eindämmung einer lebensgefährlichen Pandemie zu tun. Juli Zeh selbst stellt, auf ihren Roman als mögliches Deutungsmuster für die Corona-Politik angesprochen, in der "Süddeutschen Zeitung" klar: "Was wir auf alle Fälle festhalten können, ist, dass zurzeit tief in die Grundrechte von Bürgern eingegriffen wird, ohne dass die Rechtsgrundlage geklärt wäre. Man muss deshalb nicht gleich von einer Diktatur sprechen."

Diese Vorsicht muss indes nicht daran hindern, in der Darstellung des übergriffigen Potentials einer in staatliche Regie genommenen Präventionsidee den Roman "Corpus Delicti" als Warnung vor einem hygienepolitischen Durchregieren zu lesen, das sich zu den Grundrechten gerade nicht mit der gebotenen Verhältnismäßigkeit in Beziehung setzt. Die naturalistische Ideologie hinter einem solchen Kontrollprogramm kleidet "Corpus Delicti" in die rhetorische Frage: "Was sollte vernünftigerweise dagegen sprechen, Gesundheit als Synonym für Normalität zu betrachten? Das Störungsfreie, Fehlerlose, Funktionierende: Nichts anderes taugt zum Ideal." Doch von Seiten der Politiker, Bürokraten oder Gesundheitswissenschaftler hat es in einer nun seit Wochen intensiv geführten Debatte noch keine Äußerung gegeben, die in diesem Stil an die Ideologeme aus Aldous Huxleys Roman "Brave New World" erinnern würde. Ein anderes Ideal prägt die Einlassungen der Virologen und der von ihnen instruierten Regierenden: ein Lernen aus Fehlern, das die eigene Fehlbarkeit einkalkuliert. Dem entspricht das praktische Ziel der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems - in himmelweitem Gegensatz zur Wahnidee des perfekten Funktionierens.

Deshalb hat der Gießener Öffentlichrechtler Steffen Augsberg recht, wenn er, Verhältnismäßigkeit im Streit über die Verhältnismäßigkeit anmahnend, vor "Fundamentalkritik" warnt, was derzeitige vorübergehende Grundrechteeinschränkungen angeht: "Das kann unsere Demokratie ab, wenn wir eine Weile lang nicht demonstrieren dürfen", erklärte Augsberg bei der jüngsten Pressekonferenz des Deutschen Ethikrats, dessen Mitglied er ist: Zwar ist die Versammlungsfreiheit dem Begriff nach auf körperliches Zusammensein von Menschen angewiesen, aber Augsberg hält ihre Aussetzung jedenfalls zeitweise für hinnehmbar, weil sich die wichtigen Korrekturfunktionen, die von der Demonstrationsfreiheit ausgehen, "mit ähnlichen Effekten" auch anders verwirklichen ließen, etwa durch Online-Petitionen.

Augsberg macht einen bedenkenswerten Vorschlag dafür, wie sich das dystopische Potential einer gegebenen Normlage bestimmen lässt. Anders formuliert: wie man begründete und unbegründete Befürchtungen unterscheiden kann. Man könne, gibt Augsberg zu bedenken, heute nicht Risiken ausschließen wollen, welche man in Nicht-Corona-Zeiten durchaus hinzunehmen bereit wäre. In solcher Bereitschaft zu situationsadäquater Abwägung spricht sich keine Wurstigkeit im Umgang mit Grundrechten aus, sondern die Warnung vor einer Hundertzehnprozentigkeit, die wir auch in normaler Zeit nicht als Maßstab anlegen würden. Insoweit gilt Augsbergs Appell, die Diskussion über Grundrechteeinschränkungen unter realistischen und nicht unter absoluten, lebensfremden Maßstäben zu führen. Nur so, in der Verständigung über triftige Maßstäbe der Grundrechtswahrung, würden sich auch die Kriterien gewinnen lassen, anhand derer man mit begründeten Schritten zu einer "Quasinormalität" zurückkehren könne.

Der Staat in "Corpus Delicti" entledigt sich dagegen im Namen der Prävention aller Rechenschaftspflichten. Juli Zeh lässt ihre Romanheldin Mia Holl, die Anormale, die Rebellin gegen die Gesundheitsdiktatur, ein J'accuse formulieren: "Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet." Es mag heute jeder Bürger selbst entscheiden, ob er Grund für diese radikale Maßnahme des moralischen Selbstschutzes hat. So kann die literarische Kontrastfolie einer Gesundheitsdiktatur helfen, die tatsächlichen Verhältnisse mit Augenmaß zu beurteilen.

CHRISTIAN GEYER /PATRICK BAHNERS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2009

Das methodische Flackern der Antigone
Zukunft ohne Vision: In ihrem neuen Roman „Corpus Delicti” entwirft Juli Zeh das Science-Fiction-Szenario einer Gesundheitsdiktatur
In der Wirtschaft werden pensionierte Manager reaktiviert, auf deren Erfahrungsschatz man zu früh verzichtet hat. So ähnlich ist das auch auf dem Theater, wo die silver generation einen zweiten Frühling erlebt. Es sind aber nicht die Dramatiker, die von diesem Trend profitieren, sondern die Romanciers. Klassiker gelten als hoffnungsvollste Nachwuchsautoren. Mehrheitsfähig sind aber ebenso aktuelle Bestseller. All diese Romane bieten nicht nur den Vorteil, dass sie bereits beim Publikum durchgesetzt sind; ihre Zweitverwertung spendiert dem Regietheater zudem ein willkommenes Deckmäntelchen. Da der Prosastoff erst für das Theater urbar gemacht werden muss, legitimiert er Freiheiten, die gegenüber Dramentexten als Willkür empfunden werden könnten.
Dass sich die Regie die Lufthoheit auf Kosten des Dramatikers sichert, bekam auch Juli Zeh mit ihrem Erstlingsstück „Corpus Delicti” zu spüren. Endlich hatte da eine junge Autorin das gewichtige Theaterstück geschrieben, über dessen Ausbleiben so oft geklagt wird, und doch wollte es zunächst niemand inszenieren – und zwar gerade wegen seiner dramatischen Qualitäten. Dass „Corpus Delicti” mit gebauten Dialogen und ungebrochenen Figuren aufwartete, wurde als Bedrohung empfunden.
Wertschöpfung selbst gemacht
Inzwischen wird das Stück, das im Auftrag der Ruhrtriennale entstanden und dort auch uraufgeführt worden ist, an verschiedenen Bühnen, unter anderem in Freiburg und Berlin, nachgespielt. Doch Juli Zeh, deren Romane „Schilf” und „Spieltrieb” längst dramatisiert sind, wollte den Erfolg nicht abwarten. Sie hat die Wertschöpfungskette sozusagen in die eigenen Hände genommen, um diese in umgekehrter Richtung zu verlängern, und hat aus ihrem Theaterstück einen Roman gemacht. Das zeugt von schönem Eigensinn und passt ins Bild der schreibenden Moralistin, die auch mit ihren essayistischen Einsprüchen gegen den Zeitgeist dem Säurebad popkultureller Ironie widersteht. Stolz beharrt Juli Zeh auf dem exemplarischen Charakter von Literatur und behauptet das individuelle Allgemeine. Damit untermauert sie den Anspruch eines Erzählens, das immer auch Argumentieren ist.
Seinem Vorleben auf der Theaterbühne verdankt „Corpus Delicti” das Motiv der Hexenjagd, wenngleich die mutmaßliche Hexe hier nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt, sondern eingefroren wird. Denn die Todesstrafe ist in der schönen neuen Welt einer fiktiven Gesundheitsdiktatur genauso verboten wie Alkohol und Nikotin und überhaupt alles, was den perfekten Körper der Untertanen beeinträchtigen könnte. Dass Juli Zeh, die ursprünglich den Auftrag hatte, ein Stück über das Mittelalter zu schreiben, stattdessen einen Science-Fiction vorlegte, beweist mindestens so viel Humor wie Hellsicht. Sie hält sich damit an eine Forderung des Altmeisters der Science-Fiction-Literatur J.G. Ballard, der einmal schrieb, dass uns die Zukunft einen passenderen Schlüssel zur Gegenwart in die Hand gebe als die Vergangenheit. Es ist der Kunstgriff von „Corpus Delicti”, die Tendenzen und latenten Gefährdungen der Gegenwart imaginativ zu Ende zu denken. „Das Mittelalter”, sagt Mia Holl, „ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur.”
Zuvörderst erklärt dieses negative Menschenbild die Indifferenz der Protagonistin des Romans, die sich von einer systemkonformen Jasagerin im totalitären Überwachungsstaat wider Willen zur Ikone des Widerstands wandelt und zuletzt als Staatsfeindin Nummer eins vor Gericht gestellt wird. „Corpus Delicti” ist politische Erweckungsliteratur, die allerdings ihren diskursiven Gehalt in einen ziemlich ausgeklügelten Kriminalplot verpackt. Und das ist nur eines der Genres und intertextuellen Echos, die Juli Zeh sehr belesen verwoben hat zu einem Ganzen, das all das zugleich ist: negative Utopie und Justizdrama, Polit-Thriller und Gesellschaftsstück, handfestes Horror- und hauchzartes Geschwistermärchen.
Der enteignete Körper
In seiner Dramenfassung ging dieser Reichtum an Farben und Facetten unter dem Gesichtspunkt der dramaturgischen Ökonomie nicht ohne erhebliche Unkosten ab, sprengte doch das Stück nicht nur alle Schubladen, sondern auch den gewohnten Umfang – ein wunderbar unverschämter Sabotageakt am Pragmatismus des Theaterbetriebs. Papier ist da schon geduldiger. Die Romanform erlaubt es Juli Zeh, ihre Motivstränge feiner zu verflechten.
Schon der Titel spielt mit einem Doppelsinn: Als „Nomos der Moderne” bezeichnet der italienische Philosoph Giorgio Agamben den nackten, aller Rechte entkleideten Körper. Das Lager sei die zentrale Chiffre einer Gegenwart, die in der Gefahr schwebt, dass der Ausnahmezustand, in dem die Demokratie diktatorische Züge annimmt, zur Regel wird. Im Roman ist der menschliche Körper selbst das Corpus delicti, also der Gegenstand des Verbrechens. Juli Zeh schildert eine Gesellschaft, die durch und durch befriedet ist, alle ideologischen Gräben überwunden und den schieren Biologismus zur „Methode” seiner Herrschaftsform erhoben hat. In einer Welt, in der jeder Waldlauf von einem implantierten Chip gespeichert und als Gutschrift auf ein Gesundheits-Konto eingelesen wird, in der selbst die Toiletten auf erhöhte Giftstoffe im Abwasser gescannt und Fehlstände auf dem Hometrainer als Ordnungswidrigkeit geahndet werden und die Menschen einander nur noch mit keimfreiem heißen Wasser zuprosten, ist der normierte Körper enteignet und nur noch eine Manifestation des staatlich verordneten Ideals. Ein Klon eigentlich – denn auch die Partnerwahl wird nach immunologischen Gesichtspunkten zentral gesteuert.
Die Antithese zur totalitären Zwangsbeglückung personifiziert Mias Bruder Moritz, ein verwuschelter Philosoph und Lebenskünstler, der sich der Methode lustvoll widersetzt, im Wissen darum, dass die Würze des Lebens genau in dem liegt, was dieser Staat verbietet: der Ambivalenz, den Halbtönen und Widersprüchen, jenem Dazwischen, das er das „Flackern” nennt. Auch Mia flackert lange zwischen den Seiten, als ihr des Mordes beschuldigter Bruder sich in seiner Zelle das Leben nimmt und sie selbst ins Fadenkreuz der Strafverfolgung gerät. Sie weigert sich, zur Speerspitze einer Widerstandsbewegung zu werden, weil sie fürchtet, sie verhärte sich dadurch selbst zur Fanatikerin und könnte sich also ihren Gegnern anverwandeln. Damit aber verriete Mia die Ideale, für die sie angetreten ist.
Indem Juli Zeh eine Geschwisterliebe in den Mittelpunkt stellt, zitiert sie den „Antigone”-Stoff – auch Mia Holls Normenkonflikt besteht ja darin, dass sie die Totenehre des Bruders gegen die Staatsräson verteidigt. Zugleich verweist das Motiv auf den „Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil, der nur zu gut wusste, dass Krankheit nicht nur ein Defekt ist, sondern auch ein „Stimulanz des Lebens”. So scharfsinnig Juli Zeh das prekäre Verhältnis von Moral und Hypermoral verhandelt, so sehr offenbaren gerade die inständigeren Passagen die Schwäche des Buches.
Das Theater mit seiner gebotenen Überzeichnung, der Vergrößerung und Vergröberung und der Dialog gewordenen Dialektik kam Juli Zehs forensischem Furor eben doch entgegen. Im Roman aber wird das Menschliche mehr behauptet als suggestiv gemacht, kommt das Lob der Irrationalität wie vom Reißbrett. Die Poetik der Verrätselung ist hier eine Vermeidungsstrategie. Juli Zeh weiß schon, dass sie erzählen muss, nicht plädieren. Gleichwohl „flackert” das Leben im Roman so methodisch, dass man ständig zu sehen meint, wie die Autorin den Lichtschalter betätigt. Und die Figuren bleiben steril, als hätten sie mit Desinfektionsmittel gegurgelt. Die Kriminalspannung hat in „Corpus Delicti” den Sinn, den sie so oft in der Literatur hat: den Leser da vor sich her zu treiben, wo kein Satz zum Verweilen einlädt, ihn in Atem zu halten, weil die Sprache keine Luft lässt. Und auch das ist eine schwarze Utopie. CHRISTOPHER SCHMIDT
JULI ZEH: Corpus Delicti. Ein Prozess. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2009. 264 Seiten, 19,90 Euro.
Fit for fun? „Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann”, sagt Mia Holl über die schöne neue Welt der Zukunft. Foto: Colin Anderson/Blend Images/Corbis
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Seltsame Kritik. Rezensentin Katharina Granzin mag dieses Buch nicht, oder vielleicht mag sie auch Juli Zeh nicht, die mit "Corpus Delicti" als Theaterstück ziemlichen Erfolg hatte, bevor sie es zum Roman umschrieb. Der Ton der Besprechung ist jedenfalls ungewöhnlich herablassend. Juli Zeh habe nur gelegentlich ein "Mia sagte" einfügen müssen, um einen Roman aus ihrem Stück zu machen, meint Granzin schnippisch. Der Roman selbst sei "eines jener Gedankenexperimente, wie Zeh sie eben gut schreibt". Wer so was mag, bitte, man sieht die Rezensentin förmlich mit der Achsel zucken. Ein weiblicher Orwell sei Zeh aber noch lange nicht, denn, und hier mag die Abneigung der Rezensentin begründet liegen, man könne wohl kaum das Terrorismuspotential einer Gesundheitsdiktatur gegen das des Stalinismus aufrechnen, meint Granzin.

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»Juli Zeh ist mit Corpus Delicti der weibliche George Orwell der Gegenwart geworden.« Deutschlandradio