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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Träumen Limousinen von elektrischen Schafen?
Auf motorisiertem Pirschgang durch die Stadt der Städte: Don DeLillo bricht mit "Cosmopolis" in eine längst vergangene Zukunft auf / Von Hannes Hintermeier

So wie hierzulande jahrelang auf den Roman zur Wiedervereinigung gewartet wurde, gibt es in der amerikanischen Literatur eine Lücke. Wer schreibt wohl den großen Roman zum 11. September 2001? Don DeLillo, seit "Libra" und "Underworld" ausgewiesen als führender Spezialist für politische Wahnsysteme, hätte das Zeug dazu. Mit seinem neuen Buch aber geht er zeitlich erst einmal knapp an diesen Epochenbruch heran und widmet sich der Welt, wie die New Economy sie sah.

"Cosmopolis" spielt an einem Apriltag des Jahres 2000 in Manhattan. Es zeigt uns einen stürzenden Helden an einem einzigen Tag auf seinem Weg durch die einzige Stadt, die für solche Höllenstürze in Frage kommt: Ähnliche literarische Tagesausflüge haben andere auch schon unternommen. Aber vermutlich hat noch niemand ein solches Monster an Menschenverachtung und Arroganz erfunden - oder ebender New Yorker Wirklichkeit entlehnt -, wie DeLillo es mit dem achtundzwanzigjährigen Börsenspekulanten und Multimilliardär Eric Packer getan hat.

Der bewohnt eine dreistöckige Wohnung mit achtundvierzig Zimmern, die ihn 104 Millionen Dollar gekostet hat, darin ein Zwinger für Windhunde, ein Haifischbecken, zwei Lifte (einer mit Satie-, einer mit Rap-Beschallung). Wir sehen ihn an diesem Tag, der sein letzter sein wird, die längste Zeit in seiner zweiten Heimat - einer "proustifizierten" (vulgo: schallgedämmten) Stretchlimousine mit eingebautem Bad, Marmorboden und einer Videoanlage, die die Zukunft anzeigen kann. Hier empfängt er seinen Technologiechef, seine Oberste Theoretikerin, seinen Arzt; von dort aus trifft er seine ephemere Ehefrau, ebenfalls milliardenschwer, aber Verfasserin von Gedichten, die Packer "Scheiße" findet. Daneben verstrickt er sich immer tiefer durch Spekulation in eine ausweglose Lage.

Am Ende dieses sehr speziellen Tages wird er sein Milliardenvermögen verspielt und die Weltwirtschaft in Schieflage gebracht haben. Packer aber plagen, wenn überhaupt, andere Sorgen. Er leidet unter Schlaflosigkeit und unter der Diagnose, Eigentümer einer "asymmetrischen Prostata" zu sein. Nebenher bewegen ihn Fragen wie diese: "Was passiert mit den vielen Stretchlimos, die den ganzen Tag durch die pulsierende Stadt pirschen? Wo verbringen sie die Nacht?"

Denn nur eines kann und will er nicht in diesem gepanzerten Kokon - sich die Haare schneiden lassen. Zu diesem Zweck will er sich entlang der 47. Straße einmal von Ost nach West durch Manhattan fahren lassen, nur leider ist der Verkehr der Metropole durch den Besuch des amerikanischen Präsidenten nebst dazugehörigen Massendemonstrationen sowie einem Trauerzug für den an Herzversagen gestorbenen Rap-Guru Brutha Fez zum kompletten Stillstand gekommen. Das Resultat ist, auf gut amerikanisch, "eine Situation". Ein Kollaps, in dem diese Schleichfahrt durch den Irrwitz des globalisierten Börsenkapitalismus an ihr Ende gerät.

Das ist einerseits Geschichte, andererseits eben doch nicht erledigt: Das Gespenst des Kapitalismus, im Roman mit dem Leitmotiv der Ratte besetzt, ist auch hundertfünfzig Jahre nach dem "Kommunistischen Manifest" nicht umzubringen - es ist eher noch gespenstischer geworden. Wenn schon Ungeheuer wie Eric Packer damit nicht klarkommen, welche Art von Mensch wäre dann wohl für die Zukunft gerüstet? DeLillo hat keine Antwort, er will auch keine geben. Statt dessen verfällt er in ein Thesenstück, das er, da die Handlung so zäh wie der Stau vorankommt, mit papiernen Dialogen transportieren muß. Das macht die Lektüre, zumal in der ersten Hälfte des Romans, zur Strapaze.

Denn siehe: Packer reagiert auf diese "Hysterie in Hochgeschwindigkeit" mit einer nicht ganz neuen Sprach- und Bewußtseinskrise. Im Jahr einhunderteins nach Hofmannsthals Chandos-Brief zerfallen Packer die Worte, wie sie einst dem jungen Lord Chandos zerfielen - "im Munde wie modrige Pilze". Für Packer sind Vokabeln wie "Wolkenkratzer", "Handfeuerwaffe", "Geldautomat", "Flughafen", "Computer" und "Telefon" Relikte einer längst vergangenen Zeit. Wie die Gegenstände, die sie bezeichnen, sind sie obsolet geworden. Vija Kinski, Oberste Theoretikern von Packer Capital, erklärt es ihrem Chef so: "Die Gegenwart ist schwieriger zu finden. Sie wird aus der Welt gesaugt, um Platz zu schaffen für die Zukunft der unkontrollierten Märkte und riesigen Investitionspotentiale. Die Zukunft wird dringlich. Deshalb wird bald etwas passieren, vielleicht schon heute."

Die Zukunft lauert schon irgendwo da draußen, am Ende der Straße, die so glamourös beginnt und in der Brache endet. In einem Abbruchhaus wartet der Mörder auf Packer. Benno Levin nennt er sich, in seinem umfangreichen Tagebuch sinnt er auf Wiedergutmachung für die Schmach der Entlassung. Mit dem thailändischen Baht hat er sich in der Devisenabteilung beschäftigt, aber natürlich kennt Packer diesen Namenlosen, der damals Richard Sheets hieß, nicht. Als Kind war Sheets ein Münzenlecker, der die Ränder von Hartgeld mit der Zunge erkundete. Heute bezieht er seine Emotionen aus dem Internet, lädt sich bei Bedarf eine kulturelle Panik, einen karibischen Seelenverlust oder einen koreanischen Wutanfall herunter. Von Geld besessen zu sein ist nicht das einzige, was diesen beiden Hälften ein und desselben Wahnsinns gemein ist. Sie teilen auch das Schicksal der asymmetrischen Prostata. Was das bedeutet? Nichts.

Als Packer endlich - er hat in der Zwischenzeit seinen Sicherheitschef erschossen, Sex mit drei verschiedenen Frauen gehabt, sich einen Stromstoß verpassen lassen - bei seinem Friseur angekommen ist, am Ende der Straße, dort, wo er einst hergekommen ist, verläßt er diesen überstürzt mit nur zur Hälfte geschnittenen Haaren. So wird man ihn am Ende auch finden - dank frühzeitiger Schnitte in die Zukunft ist der Leser dem Opfer zunächst voraus. Bis Packer auf seiner Hochtechnologie-Armbanduhr sich selbst ("männlich, unbekannt") als Toten sieht.

Wie alt kann Aktuelles sein? Sowenig Packer als Grimasse eines völlig losgelösten Nihilismus verfängt, so wenig kann in diesem prätentiös sich spreizenden Zivilisationsfinale die Sprache überzeugen. Sätze wie "Die Straße war ein Angriff auf die Wahrheit der Zukunft" oder "Wie oft müssen zwei Menschen ficken, bis einer von ihnen es verdient hat zu sterben?" mögen als Ausweis der Groteske dienen. In der Summe läuft diese Kunstprosamaschinerie nur längst offene Türen ein - Türen, die DeLillo selbst mit seinen früheren Werken geöffnet hat. Die Gütekurve seiner Romanproduktion bleibt also weiterhin so unberechenbar wie die Aktienkurse. Daran ist nichts Verwerfliches. Ärgerlich ist nur, daß er mit diesem Roman hinter seinen eigenen Standards geblieben ist.

Don DeLillo: "Cosmopolis". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2003. 203 S., geb., 16,90 [Euro].

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