Nach dem Erfolg von »Sarah«: Scott McClanahan über sein Aufwachsen im ländlichen West Virginia in der Übersetzung von Clemens SetzScott McClanahan traut sich, wozu die wenigsten von uns in der Lage sind. Er schaut das Leben an, als das, was es ist: herzzerreißend tragisch und herzzerbrechend schön, voller Krankheit, Freude, Tod, Groteske, Begeisterung und Liebe.Und dabei trifft er den Kern: den Mensch mit all seinen Fehlern und in seinem göttlichen Glanz.In Crap erzählt er von (s)einer Kindheit in West Virginia, von struktureller Armut und Grubenunglücken, die ganze Ortschaften ausgelöscht haben, er erzählt von Grandma Ruby, Onkel Nathan und den anderen Durchgeknallten im McClanahan-Clan, von der amerikanischen Jugend und davon, wie Naked Joe zu seinem Namen gekommen ist.Bei ars vivendi erschien 2020 bereits »Sarah« von Scott McClanahan, ebenfalls in der Übersetzung von Clemens J. Setz.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Frank Schäfer verfolgt mit großem Interesse Scott McClanahans Beschreibung seiner Adoleszenz in einem trostlosen, schrumpfenden Kaff in den Appalachen. Der dieskrete, feinfühlig Hillbilly-Amerika-Chronist bereite in dem autobiografischen Roman "Crap" seine Realität poetisch neu auf, stets optimistisch und inbrünstig auf der Suche nach den Blumen auf dem Mist des Abgehängt-Seins und den Katastrophen in seiner Heimat, erklärt Schäfer. Die Handlung ist nicht stringent und dadurch ein wenig unordentlich, der Autor verlässt sich dem Rezensenten zufolge sehr auf seine narrative Intuition. Überzeugt wird Schäfer aber von den "gebrochenen Helden" in diesem Buch, die sowohl tragisch als auch lebendig und lustig beschrieben werden. Den alten, mystischen Ton McClanahans hat sein deutschsprachiger Entdecker Clemens Setz zudem ideal übersetzt, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2021Die Welt als Witz und Vorstellung
Ist das noch Beat-Literatur oder schon Nihilismus? Der amerikanische Hinterland-Philosoph Scott McClanahan schreibt an seiner Familiengeschichte
„Shiiiiiit!“ Wie ein Dauerschrei hallt dieses Wort durch das Buch, mal in einfacher Schreibung, mal in Großbuchstaben, mal in gedehnter Form. Der US-amerikanische Schriftsteller Scott McClanahan hat ein Faible für den Jargon des Alltags, ebenso für Fernsehserien oder neurotische Strukturen. Ein wenig erinnern seine Sätze an die Textwelten der Beat-Literaten und ihr Vertrauen in dauernde Bewegung und das „nackte, grenzenlose Hirn“ – alles mit dem Ziel „Syntax und Rhythmus der verarmten menschlichen Prosa zu erneuern“, wie es in Allen Ginsbergs „Howl“ heißt.
Hingegen interessiert sich McClanahan weniger für die großen Städte als für die amerikanische Provinz, speziell für jene Gegend rund um den Ort Rainelle in West Virginia, wo er 1978 geboren wurde. „Crapalachia“ heißt das Buch im Original, skurrile Verschmelzung der Begriffe „Crap“ und „Appalachia“. Wie seine anderen Bücher auch hat McClanahan „Crap“ eng an seiner eigenen Lebensgeschichte entlang geschrieben. Gleichzeitig hat er ein großes Vergnügen daran, den Kapiteln einen ironisch verschnörkelten Anmerkungsteil anzuhängen, indem er notiert, was die Unterschiede zwischen der vermeintlichen Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Buches sind.
Die Wirklichkeit des Buches ist der ganz normale Wahnsinn von Scotts Familie. Scott ist der Erzähler (oder der Erzähler ist Scott), und sich und seine Verwandten und Freunde bezeichnet er liebevoll als einen „Haufen Freaks“. Und weil in diesem dunkel funkelnden Buch alles anders ist, wächst Scott bei seiner Großmutter Ruby auf und sucht sich als Ersatzvater seinen Onkel Nathan aus. Nathan leidet an Zerebralparese, er sitzt im Rollstuhl und wird über eine Magensonde ernährt.
Für Scott ist er der liebenswerteste Mensch der Welt, auch wenn der Onkel noch jede Partie Dame gegen ihn gewonnen hat. Nach Nathans Tod zieht Ruby zu einem Verwandten, und Scott muss sich eine neue Bleibe suchen. Er findet sie bei seinem Freund Little Bill. Dort geht der Wahnsinn weiter, denn Bill hat Zwangsneurosen, alles scheint sich hier im Kreis zu drehen. Was McClanahan umtreibt, ist das Vergehen der Zeit. Oder in Scotts Worten: „Das Thema dieses Buches ist ein Geräusch. Es geht so: tick, tick, tick, tick, tick, tick, tick (...). Eines der traurigsten Geräusche der Welt.“ Wer dem Lauf der Zeit entgegentreten will, für den wird die Erinnerung wichtig. Scott möchte die Zeit anhalten, er träumt davon, dass er seine Lieben wieder ins Leben zurückrufen und sich, für einen Augenblick jedenfalls, gemeinsam mit seiner Leserschaft an alle erinnern kann. Traurig und glücklich zugleich.
Da die Erinnerung brüchig, sprunghaft und oft unzuverlässig ist, scheint es nur konsequent, dass McClanahan seinen Erzähler Scott ebenso widersprüchlich und vielstimmig angelegt hat. Nicht von ungefähr nennt ihn die Großmutter ein ums andere Mal Todd. Und nicht von ungefähr probiert er die unterschiedlichsten Tonlagen aus und wundert sich nicht, als Bills neurotisches Verhalten und Sprechen nach und nach auf ihn übergeht. Der Schriftsteller Clemens Setz hat diese verschiedenen Stimmen und Sprechweisen schön in seiner Übersetzung eingefangen.
Der Erinnerungsbewegung gemäß erzählt McClanahan in schartigen Bildern und Szenen, ohne strenge Chronologie, eher gleichen die kurzen Absätze einem losen Gefüge, das zwei Prämissen folgt, Scotts deutlicher Aussage „Scheiß auf Symbole“ und Grandma Rubys Vorstellung vom Lauf der Welt: „Andauernd passiert ein Ding nach dem anderen, ohne Plan dahinter. Und dann passiert irgendetwas, und es bedeutet nichts.“ Und so lauscht man hier den Telefonstreichen von Scott und seinen Freunden, um gleich darauf mit ihm über den Friedhof zu schlendern, liest seine Erinnerungen an den Essenstisch von Ruby und landet bei der Geschichte von West Virginia. Dazu setzt McClanahan immer wieder Formulierungen oder ganze Absätze in Versalien, schiebt Kochrezepte, Namenslisten und Trauerkärtchen zwischen die Zeilen.
Man entwickelt im Lauf des Lesens eine große Sympathie für diese Familie. Und für die nervöse Schwebe, in der McClanahan seine Welt hält. Wie nebenbei entwirft er auch ein mehrfach gebrochenes Porträt dessen, was man früher leichthin „Arbeiterschicht“ nannte. Denn die McClanahans schufteten einst fast alle im örtlichen Bergwerk – auch wenn Oma Ruby sich gerne dagegen abgrenzt: „Sie sei eine Bauerntochter, und man solle sie nicht mit diesen ganzen kohleabbauenden McClanahans in Verbindung bringen, die am Fuße des Bergs wohnten.“
„Die Welt ist ein Witz“, meint Scott einmal. Um gleich darauf wieder vom Tod zu erzählen. Der Tod verbindet alle Figuren in diesem Buch. Und vermutlich ist es seine dauernde Anwesenheit, die eine zweite große Bewegung hervorbringt: die Suche nach einem Zuhause. McClanahan gestaltet diese Suche widersprüchlich und zersplittert, ohne jeden Kitsch. Als Scott nach vielen Jahren in das Städtchen zurückkehrt, in dem er aufgewachsen ist, findet er Rubys Haus nur noch verlassen vor. Also beginnt er, sein Buch zu schreiben. Und versucht, die ganze Welt als Zuhause einzurichten. Natürlich weiß er, dass sein Vorhaben aussichtslos ist. Doch er gibt nicht auf: Vor jeder Reise stopft er sich die Taschen voll mit Crapalachia-Erde und verteilt sie dann überall auf den Straßen.
NICO BLEUTGE
Scott McClanahan: Crap. Aus dem amerikanischen Englisch von Clemens Setz. Ars Vivendi, Cadolzburg 2021. 195 Seiten, 20 Euro.
„Andauernd passiert
ein Ding nach dem anderen,
ohne Plan dahinter.“
Alles scheint sich im Kreis zu drehen: der amerikanische Autor Scott McClanahan.
Foto: privat
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Ist das noch Beat-Literatur oder schon Nihilismus? Der amerikanische Hinterland-Philosoph Scott McClanahan schreibt an seiner Familiengeschichte
„Shiiiiiit!“ Wie ein Dauerschrei hallt dieses Wort durch das Buch, mal in einfacher Schreibung, mal in Großbuchstaben, mal in gedehnter Form. Der US-amerikanische Schriftsteller Scott McClanahan hat ein Faible für den Jargon des Alltags, ebenso für Fernsehserien oder neurotische Strukturen. Ein wenig erinnern seine Sätze an die Textwelten der Beat-Literaten und ihr Vertrauen in dauernde Bewegung und das „nackte, grenzenlose Hirn“ – alles mit dem Ziel „Syntax und Rhythmus der verarmten menschlichen Prosa zu erneuern“, wie es in Allen Ginsbergs „Howl“ heißt.
Hingegen interessiert sich McClanahan weniger für die großen Städte als für die amerikanische Provinz, speziell für jene Gegend rund um den Ort Rainelle in West Virginia, wo er 1978 geboren wurde. „Crapalachia“ heißt das Buch im Original, skurrile Verschmelzung der Begriffe „Crap“ und „Appalachia“. Wie seine anderen Bücher auch hat McClanahan „Crap“ eng an seiner eigenen Lebensgeschichte entlang geschrieben. Gleichzeitig hat er ein großes Vergnügen daran, den Kapiteln einen ironisch verschnörkelten Anmerkungsteil anzuhängen, indem er notiert, was die Unterschiede zwischen der vermeintlichen Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Buches sind.
Die Wirklichkeit des Buches ist der ganz normale Wahnsinn von Scotts Familie. Scott ist der Erzähler (oder der Erzähler ist Scott), und sich und seine Verwandten und Freunde bezeichnet er liebevoll als einen „Haufen Freaks“. Und weil in diesem dunkel funkelnden Buch alles anders ist, wächst Scott bei seiner Großmutter Ruby auf und sucht sich als Ersatzvater seinen Onkel Nathan aus. Nathan leidet an Zerebralparese, er sitzt im Rollstuhl und wird über eine Magensonde ernährt.
Für Scott ist er der liebenswerteste Mensch der Welt, auch wenn der Onkel noch jede Partie Dame gegen ihn gewonnen hat. Nach Nathans Tod zieht Ruby zu einem Verwandten, und Scott muss sich eine neue Bleibe suchen. Er findet sie bei seinem Freund Little Bill. Dort geht der Wahnsinn weiter, denn Bill hat Zwangsneurosen, alles scheint sich hier im Kreis zu drehen. Was McClanahan umtreibt, ist das Vergehen der Zeit. Oder in Scotts Worten: „Das Thema dieses Buches ist ein Geräusch. Es geht so: tick, tick, tick, tick, tick, tick, tick (...). Eines der traurigsten Geräusche der Welt.“ Wer dem Lauf der Zeit entgegentreten will, für den wird die Erinnerung wichtig. Scott möchte die Zeit anhalten, er träumt davon, dass er seine Lieben wieder ins Leben zurückrufen und sich, für einen Augenblick jedenfalls, gemeinsam mit seiner Leserschaft an alle erinnern kann. Traurig und glücklich zugleich.
Da die Erinnerung brüchig, sprunghaft und oft unzuverlässig ist, scheint es nur konsequent, dass McClanahan seinen Erzähler Scott ebenso widersprüchlich und vielstimmig angelegt hat. Nicht von ungefähr nennt ihn die Großmutter ein ums andere Mal Todd. Und nicht von ungefähr probiert er die unterschiedlichsten Tonlagen aus und wundert sich nicht, als Bills neurotisches Verhalten und Sprechen nach und nach auf ihn übergeht. Der Schriftsteller Clemens Setz hat diese verschiedenen Stimmen und Sprechweisen schön in seiner Übersetzung eingefangen.
Der Erinnerungsbewegung gemäß erzählt McClanahan in schartigen Bildern und Szenen, ohne strenge Chronologie, eher gleichen die kurzen Absätze einem losen Gefüge, das zwei Prämissen folgt, Scotts deutlicher Aussage „Scheiß auf Symbole“ und Grandma Rubys Vorstellung vom Lauf der Welt: „Andauernd passiert ein Ding nach dem anderen, ohne Plan dahinter. Und dann passiert irgendetwas, und es bedeutet nichts.“ Und so lauscht man hier den Telefonstreichen von Scott und seinen Freunden, um gleich darauf mit ihm über den Friedhof zu schlendern, liest seine Erinnerungen an den Essenstisch von Ruby und landet bei der Geschichte von West Virginia. Dazu setzt McClanahan immer wieder Formulierungen oder ganze Absätze in Versalien, schiebt Kochrezepte, Namenslisten und Trauerkärtchen zwischen die Zeilen.
Man entwickelt im Lauf des Lesens eine große Sympathie für diese Familie. Und für die nervöse Schwebe, in der McClanahan seine Welt hält. Wie nebenbei entwirft er auch ein mehrfach gebrochenes Porträt dessen, was man früher leichthin „Arbeiterschicht“ nannte. Denn die McClanahans schufteten einst fast alle im örtlichen Bergwerk – auch wenn Oma Ruby sich gerne dagegen abgrenzt: „Sie sei eine Bauerntochter, und man solle sie nicht mit diesen ganzen kohleabbauenden McClanahans in Verbindung bringen, die am Fuße des Bergs wohnten.“
„Die Welt ist ein Witz“, meint Scott einmal. Um gleich darauf wieder vom Tod zu erzählen. Der Tod verbindet alle Figuren in diesem Buch. Und vermutlich ist es seine dauernde Anwesenheit, die eine zweite große Bewegung hervorbringt: die Suche nach einem Zuhause. McClanahan gestaltet diese Suche widersprüchlich und zersplittert, ohne jeden Kitsch. Als Scott nach vielen Jahren in das Städtchen zurückkehrt, in dem er aufgewachsen ist, findet er Rubys Haus nur noch verlassen vor. Also beginnt er, sein Buch zu schreiben. Und versucht, die ganze Welt als Zuhause einzurichten. Natürlich weiß er, dass sein Vorhaben aussichtslos ist. Doch er gibt nicht auf: Vor jeder Reise stopft er sich die Taschen voll mit Crapalachia-Erde und verteilt sie dann überall auf den Straßen.
NICO BLEUTGE
Scott McClanahan: Crap. Aus dem amerikanischen Englisch von Clemens Setz. Ars Vivendi, Cadolzburg 2021. 195 Seiten, 20 Euro.
„Andauernd passiert
ein Ding nach dem anderen,
ohne Plan dahinter.“
Alles scheint sich im Kreis zu drehen: der amerikanische Autor Scott McClanahan.
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Scott McClanahan ist einer der wenigen Schriftsteller, die Kafkas Credo verwirklichen, dass ein Buch die Axt sein müsse für das gefrorene Meer in uns. Ocean Vuong Für McClanahan gibt es keine Halbheiten. Der Mann hat eine Bestimmung. Dieses Buch ist seine Symphonie, jede Note davon geschrieben, um nachzuhallen und zu bleiben. New York Times »Crap erstaunt durch eine ganz untypische erzählerische Perfektion. Da weiß ein Autor ganz genau, was er tut.« »Scott McClanahans Roman "Crap" stemmt sich mit Heiterkeit gegen die Tristesse einer Familiengeschichte.« Christoph Schröder
»Crap erstaunt durch eine ganz untypische erzählerische Perfektion. Da weiß ein Autor ganz genau, was er tut.« Die Presse