Seit der Antike wird über Unfälle geschrieben, doch der Unfall, den man heute kennt, ist eine Erfindung der Moderne. Recht, Versicherungswesen, Statistik, Medizin und Literatur - das sind die Bereiche, in denen der moderne Unfall Kontur gewinnt.Das 20. Jahrhundert stellt das Jahrhundert des Automobilunfalls dar. Kraftfahrzeug und Massenmotorisierung prägen die Moderne, und so erlangt der Unfall weithin Prominenz. Als das große Ungewollte besetzt er die Stellen des Bruchs und der Krise, bis sich das Wissen vom Unfall neu ordnet. Um 1900 legt die szientifische Beschreibung den Unfall auf Begriffe der Kalkulation, der Prognostik, des Traumas fest, um die Unwägbarkeit des Ereignisses zu rationalisieren. Zur Risikominimierung entsteht ein komplexer Vor- und Nachsorgeapparat. Die literarische Beschreibung des Unfalls jedoch setzt gegen die Strategien der Regulation den regellosen Charakter des Ereignisses. Als Symbol des Umsturzes und des Einschnitts wird der Unfall zum Signum der experimentellen Literatursprache der Moderne. Er bildet den Anti-Tropus, der sich einer als rückständig verworfenen Literatur widersetzt. Von Marinetti über Kafka bis zu Musil, von Brecht zu Bernhard und Jelinek: Für die Literatur des 20. Jahrhunderts erhält der Unfall als Modell einer Poetik der Moderne Gewicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2009Autobus, Apfelmus
Leitmotivplanke der Moderne: Claudia Lieb erklärt die merkwürdige Faszination der Literatur am Verkehrsunfall als gewaltsamen Einbruch von Kontingenz in die unaufhaltsam fortschreitende Technisierung.
Fasziniert vom Unfall war die Literatur schon lange vor der Erfindung des Automobils. Schon bei Homer lässt Athene Eumelos' Streitwagen effektvoll verunglücken; und in Kleists Charité-Vorfall wird ein kürzlich überfahrener Mann eingeliefert, der, wie sich herausstellt, in seinem Leben schon so oft unter die Kutschenräder geriet, dass die Ärzte kaum zwischen alten und neuen Verletzungen zu unterscheiden wissen.
Die Destruktionskraft der neuen motorisierten Technik erschütterte aber um 1900 das zeitgenössische Bewusstsein. Dabei war die Ära des Pferdeverkehrs, wie die Statistiken belegen, keineswegs sicherer gewesen. Dennoch schimpfte die Presse über das "Mordinstrument" Auto und den neuen "Sausewahn" und zeichnete das Klischeebild vom rücksichtslosen Snob, der mit seiner Luxuskarre alles über den Haufen fährt.
Otto Julius Bierbaum verewigte diese Figur 1906 im Protagonisten seines Romans "Prinz Kuckuck", einem vermögenden Müßiggänger mit politischen Ambitionen. Bei seinen Reden produziert sein eigenwilliger Wahlkampf-Wagen mit der Hupe einen infernalischen Lärm, sabotiert also das Sprechen ("Automobüll, Automobüll", höhnt dazu noch der gegnerische Bürgermeister); am Ende fährt es seinen Fahrer gegen eine Mauer - für Claudia Lieb ein Sinnbild für den Kollaps des Rhetorischen.
Ihre instruktive, materialreiche Studie zeigt, wie der Unfall zu einer thematischen wie poetologischen Leitfigur der Moderne avancierte. Während Rechtsprechung, Versicherungswesen, Statistik oder Medizin alles daransetzten, das neue Phänomen zu rationalisieren, war es gerade der gewaltsame Einbruch von Kontingenz, Kehrseite der vor Optimismus strotzenden Technisierung, der den Unfall für die moderne Literatur attraktiv und zu ihrer "emblematischen Figur" werden ließ. Wie literarisch anregend etwa Kafka Autounfälle fand, zeigt seine Automobilgeschichte im Pariser Reisetagebuch vom 11. September 1911. Ein arroganter Automobilist fährt darin das kleinere "Tricykle" eines Bäckergehilfen zu Schrott und zieht hinterher gestenreich die sich bildende Menge auf seine Seite.
Der Versuch eines herbeigerufenen Polizisten, das Ereignis zu protokollieren, scheitert kläglich: Aufgrund eines falsch gewählten Anfangs kann der immer verzweifelter sein Formular hin und her wendende Ordnungshüter bald "unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat". So wird aus einem banalen Crash unversehens ein abgründiger Kommentar über die Unmöglichkeit des Schreibens.
Als inkommensurabler Bruch konnten mit dem Unfall Krisen und Umbrüche aller Art literarisch angezeigt werden. Für Marinetti stand die Karambolage der "Selbst-Bewegung" für die Suche nach einer neuen futuristischen Sprache. Brecht veranschaulichte am Beispiel einer alltäglichen Straßenszene die Merkmale seines epischen Theaters, Musil die Bedeutungslosigkeit des Individuums im Zeitalter der Statistik. Und Döblin verwendete die Kollision zwischen Mensch und Maschine, um der Krise des Romans zu begegnen; wie das Auto über Franz Biberkopf braust Döblins "Berlin Alexanderplatz" über die tradierten Formen des Romans: "Da rollen die Worte auf einen an, man muss sich vorsehen, dass man nicht überfahren wird, passt du nicht auf auf den Autobus, fährt er dich zu Appelmus."
Die Postmoderne ging dagegen auf Distanz zum Unfall. Seine inflationäre Gegenwart in Film und Fernsehen spiegelt sich beispielsweise in den grotesken Übertreibungen einer Elfriede Jelinek: Ihre Figuren "rasen ... in autobusse, holzfuhrwerke und pkws hinein, geraten unter motorräder, kombis und lkws", und wer "das überlebt", kann immer noch "mit dem moped gegen den betonbrückenpfeiler prallen".
OLIVER PFOHLMANN
Claudia Lieb: "Crash". Der Unfall der Moderne. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009. 344 S., br., 34,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leitmotivplanke der Moderne: Claudia Lieb erklärt die merkwürdige Faszination der Literatur am Verkehrsunfall als gewaltsamen Einbruch von Kontingenz in die unaufhaltsam fortschreitende Technisierung.
Fasziniert vom Unfall war die Literatur schon lange vor der Erfindung des Automobils. Schon bei Homer lässt Athene Eumelos' Streitwagen effektvoll verunglücken; und in Kleists Charité-Vorfall wird ein kürzlich überfahrener Mann eingeliefert, der, wie sich herausstellt, in seinem Leben schon so oft unter die Kutschenräder geriet, dass die Ärzte kaum zwischen alten und neuen Verletzungen zu unterscheiden wissen.
Die Destruktionskraft der neuen motorisierten Technik erschütterte aber um 1900 das zeitgenössische Bewusstsein. Dabei war die Ära des Pferdeverkehrs, wie die Statistiken belegen, keineswegs sicherer gewesen. Dennoch schimpfte die Presse über das "Mordinstrument" Auto und den neuen "Sausewahn" und zeichnete das Klischeebild vom rücksichtslosen Snob, der mit seiner Luxuskarre alles über den Haufen fährt.
Otto Julius Bierbaum verewigte diese Figur 1906 im Protagonisten seines Romans "Prinz Kuckuck", einem vermögenden Müßiggänger mit politischen Ambitionen. Bei seinen Reden produziert sein eigenwilliger Wahlkampf-Wagen mit der Hupe einen infernalischen Lärm, sabotiert also das Sprechen ("Automobüll, Automobüll", höhnt dazu noch der gegnerische Bürgermeister); am Ende fährt es seinen Fahrer gegen eine Mauer - für Claudia Lieb ein Sinnbild für den Kollaps des Rhetorischen.
Ihre instruktive, materialreiche Studie zeigt, wie der Unfall zu einer thematischen wie poetologischen Leitfigur der Moderne avancierte. Während Rechtsprechung, Versicherungswesen, Statistik oder Medizin alles daransetzten, das neue Phänomen zu rationalisieren, war es gerade der gewaltsame Einbruch von Kontingenz, Kehrseite der vor Optimismus strotzenden Technisierung, der den Unfall für die moderne Literatur attraktiv und zu ihrer "emblematischen Figur" werden ließ. Wie literarisch anregend etwa Kafka Autounfälle fand, zeigt seine Automobilgeschichte im Pariser Reisetagebuch vom 11. September 1911. Ein arroganter Automobilist fährt darin das kleinere "Tricykle" eines Bäckergehilfen zu Schrott und zieht hinterher gestenreich die sich bildende Menge auf seine Seite.
Der Versuch eines herbeigerufenen Polizisten, das Ereignis zu protokollieren, scheitert kläglich: Aufgrund eines falsch gewählten Anfangs kann der immer verzweifelter sein Formular hin und her wendende Ordnungshüter bald "unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat". So wird aus einem banalen Crash unversehens ein abgründiger Kommentar über die Unmöglichkeit des Schreibens.
Als inkommensurabler Bruch konnten mit dem Unfall Krisen und Umbrüche aller Art literarisch angezeigt werden. Für Marinetti stand die Karambolage der "Selbst-Bewegung" für die Suche nach einer neuen futuristischen Sprache. Brecht veranschaulichte am Beispiel einer alltäglichen Straßenszene die Merkmale seines epischen Theaters, Musil die Bedeutungslosigkeit des Individuums im Zeitalter der Statistik. Und Döblin verwendete die Kollision zwischen Mensch und Maschine, um der Krise des Romans zu begegnen; wie das Auto über Franz Biberkopf braust Döblins "Berlin Alexanderplatz" über die tradierten Formen des Romans: "Da rollen die Worte auf einen an, man muss sich vorsehen, dass man nicht überfahren wird, passt du nicht auf auf den Autobus, fährt er dich zu Appelmus."
Die Postmoderne ging dagegen auf Distanz zum Unfall. Seine inflationäre Gegenwart in Film und Fernsehen spiegelt sich beispielsweise in den grotesken Übertreibungen einer Elfriede Jelinek: Ihre Figuren "rasen ... in autobusse, holzfuhrwerke und pkws hinein, geraten unter motorräder, kombis und lkws", und wer "das überlebt", kann immer noch "mit dem moped gegen den betonbrückenpfeiler prallen".
OLIVER PFOHLMANN
Claudia Lieb: "Crash". Der Unfall der Moderne. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2009. 344 S., br., 34,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Höchst gefesselt hat sich Oliver Pfohlmann von Claudia Lieb den Verkehrsunfall als zentrales literarisches Motiv der Moderne analysieren lassen. Sowohl thematisch als auch poetologisch spielt der Unfall eine herausragende Rolle, wie die Autorin dem faszinierten Rezensenten zeigen kann, und er lobt die Studie als informativ und in ihrer Materialfülle mit Literaturbeispielen von Kafka bis Brecht und Döblin sehr überzeugend. Der Unfall kann als Kehrseite der Technikbegeisterung der Moderne gelesen werden und zugleich als das literarische Mittel, um "Krisen und "Umbrüche" darzustellen, so Pfohlmann angeregt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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