Crime Album Stories basiert auf einem historischen Album mit Polizeifotografien von Alphonse Bertillon, das Eugenia Parry in einem Pariser Antiquitätenladen gefunden hat. Die 25 Kapitel im vorliegenden Buch setzen sich mit zum Teil haarsträubenden Mordfällen in Paris zwischen 1886 und 1902 auseinander.
Parry arbeitet dabei nicht nur die Fakten akribisch auf und beschreibt, wie und unter welchen Umständen die Morde geschehen sind. Bewusst oszillierend zwischen Tatsachen und Fiktion geht sie auch der Frage nach den Hintergründen und der Motivation der Täter nach.
Alphonse Bertillon war Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem Polizeifotograf und gilt als ein Pionier der Kriminologie; sein effizientes Identifikations- und Ablagesystem, genannt Anthropometrie oder Bertillonage, wurde später international von zahlreichen Polizeidepartementen übernommen.
Die Beschreibungen der Morde basieren auf Aufzeichnungen des damaligen Chefermittlers der Pariser Polizei, Armand Cochefert, der in den meisten der beschriebenen Fällen selbst ermittelte.
Parry arbeitet dabei nicht nur die Fakten akribisch auf und beschreibt, wie und unter welchen Umständen die Morde geschehen sind. Bewusst oszillierend zwischen Tatsachen und Fiktion geht sie auch der Frage nach den Hintergründen und der Motivation der Täter nach.
Alphonse Bertillon war Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem Polizeifotograf und gilt als ein Pionier der Kriminologie; sein effizientes Identifikations- und Ablagesystem, genannt Anthropometrie oder Bertillonage, wurde später international von zahlreichen Polizeidepartementen übernommen.
Die Beschreibungen der Morde basieren auf Aufzeichnungen des damaligen Chefermittlers der Pariser Polizei, Armand Cochefert, der in den meisten der beschriebenen Fällen selbst ermittelte.
Wahre Kriminalfälle - Märchen für Erwachsene
Was war das Faszinierende an den Moritaten der Bänkelsänger, so dass bald sogar die Spatzen Geschichten wie die von "Sabinchen war ein Frauenzimmer" landauf, landab von den Dächern pfeifen konnten?
Warum sind noch heute die Berichte aus den Archiven der Gerichtsmedizin, wie sie etwa von Hans Pfeiffer zu Papier gebracht wurden, bei den Lesern so beliebt?
Ganz einfach: Weil diese (echten) Begebenheiten in der Gestalt von Märchen für Erwachsene daherkommen.
Sie sind meist nicht übermäßig lang, genau so detailliert, dass es dem Leser einen Schauer über den Rücken jagt, bei all ihrer Brutalität aber zeitlich (und teilweise räumlich) gerade so weit weg, um den Hauch des Unwirklichen aufrecht zu erhalten. Auch ganz wichtig: der Missetäter wird (fast) jedesmal zur Strecke gebracht und bestraft.
Ungewöhnlicher Fotoband mit Geschichte
Nicht anders verhält es sich mit diesem ungewöhnlichen Buch, das jedoch um eine Dimension erweitert wurde, die es aus der Masse heraus hebt. Es steckt voller Fotografien, von der Autorin per Zufall bei einem Pariser Antiquar, einer Flohmarktbekanntschaft, gefunden.
Das Interessante an der Geschichte: Eugenia Perry kauft das Album nicht, sondern sieht es sich nur jedes Mal, wenn sie sich in Paris aufhält, bei den Besitzern - und später auch leihweise im Hotel - an. Fünfundzwanzig Jahre lang.
Die Abbildungen sind nichts für schwache Nerven: durchschnittene Kehlen, aufgebahrte Leichen, verwüstete Zimmer, trostlose Häuser und Höfe, die von der Armseligkeit ihrer Besitzer künden ... und dazwischen immer wieder jene Fotos, die Alphonse Bertillon so berühmt gemacht haben.
Alles über die Anfänge der Anthropometrie
Dieser Verwaltungsangestellte der Polizeipräfektur war es nämlich, der das allererste System zum Führen einer Verbrecherkartei ersann, indem er die Täter alle auf die gleiche Weise vermaß (Körpergröße; Länge der ausgestreckten Arme; Rumpflänge; Länge und Breite von Kopf und rechtem Ohr; Länge des linken Fußes; Abstand zwischen linkem Ellbogen und Mittelfinger; und Länge des Mittelfingers) und beim selben Licht fotografierte (von vorn und im Profil).
Später wurde der Erfinder der Anthropometrie auch häufig eingesetzt, um Tatortfotos zu schießen - auch diese befinden sich in dem vorliegenden Bildband.
Aufwendige Mischung aus Zeitgeschichte und Fiktion
Die gut zwei Dutzend Fälle, um die es geht, sind sehr unterschiedlich beschrieben. Mal wird die Tat aus der Sicht der Ermittlungsbeamten geschildert (z.B. "Niemande"), dann wendet sich ein des Mordes verurteilter Ich-Erzähler per Brief an seine Verwandten ("Kopfstück"), oder ein Bediensteter der Anatomie plaudert aus dem Nähkästchen ("Großer, rosiger Knabe").
Natürlich sind die Gedanken, von denen Täter und Opfer bewegt werden, eine reine Erfindung der Autorin. Die sie allerdings geschickt mit schriftlichen Unterlagen (wie etwa Briefen) aus dem Polizeiarchiv unterfüttert, was dem Ganzen ein Flair von "so könnte es gewesen sein" verleiht.
Alles in allem handelt es sich bei "Crime Album Stories" um eine aufwendig gestaltete Mischung aus Zeitgeschichte und Fiktion.
Hochinteressante Lektüre - doch nichts für schwache Nerven
Allein schon die Schilderungen der Lebensumstände in den Städten und auf dem Land am Ende des 19. Jahrhunderts, der Ablauf der Gerichtsprozesse oder der beschriebene Sensations-Tourismus (Hunderte, die sich in Mietkutschen zum Schauplatz eines Verbrechens begeben - "Fett und Asche"-, weil "Le Petit Journal" dasselbe in speziellen Farbbeilagen mittels Illustrationen so dramatisch geschildert haben) machen die 319 Seiten zu einer höchst interessanten Lektüre nicht nur für die Anhänger von "True Crime".
(Michaela Pelz, www.krimi-forum.de)
Was war das Faszinierende an den Moritaten der Bänkelsänger, so dass bald sogar die Spatzen Geschichten wie die von "Sabinchen war ein Frauenzimmer" landauf, landab von den Dächern pfeifen konnten?
Warum sind noch heute die Berichte aus den Archiven der Gerichtsmedizin, wie sie etwa von Hans Pfeiffer zu Papier gebracht wurden, bei den Lesern so beliebt?
Ganz einfach: Weil diese (echten) Begebenheiten in der Gestalt von Märchen für Erwachsene daherkommen.
Sie sind meist nicht übermäßig lang, genau so detailliert, dass es dem Leser einen Schauer über den Rücken jagt, bei all ihrer Brutalität aber zeitlich (und teilweise räumlich) gerade so weit weg, um den Hauch des Unwirklichen aufrecht zu erhalten. Auch ganz wichtig: der Missetäter wird (fast) jedesmal zur Strecke gebracht und bestraft.
Ungewöhnlicher Fotoband mit Geschichte
Nicht anders verhält es sich mit diesem ungewöhnlichen Buch, das jedoch um eine Dimension erweitert wurde, die es aus der Masse heraus hebt. Es steckt voller Fotografien, von der Autorin per Zufall bei einem Pariser Antiquar, einer Flohmarktbekanntschaft, gefunden.
Das Interessante an der Geschichte: Eugenia Perry kauft das Album nicht, sondern sieht es sich nur jedes Mal, wenn sie sich in Paris aufhält, bei den Besitzern - und später auch leihweise im Hotel - an. Fünfundzwanzig Jahre lang.
Die Abbildungen sind nichts für schwache Nerven: durchschnittene Kehlen, aufgebahrte Leichen, verwüstete Zimmer, trostlose Häuser und Höfe, die von der Armseligkeit ihrer Besitzer künden ... und dazwischen immer wieder jene Fotos, die Alphonse Bertillon so berühmt gemacht haben.
Alles über die Anfänge der Anthropometrie
Dieser Verwaltungsangestellte der Polizeipräfektur war es nämlich, der das allererste System zum Führen einer Verbrecherkartei ersann, indem er die Täter alle auf die gleiche Weise vermaß (Körpergröße; Länge der ausgestreckten Arme; Rumpflänge; Länge und Breite von Kopf und rechtem Ohr; Länge des linken Fußes; Abstand zwischen linkem Ellbogen und Mittelfinger; und Länge des Mittelfingers) und beim selben Licht fotografierte (von vorn und im Profil).
Später wurde der Erfinder der Anthropometrie auch häufig eingesetzt, um Tatortfotos zu schießen - auch diese befinden sich in dem vorliegenden Bildband.
Aufwendige Mischung aus Zeitgeschichte und Fiktion
Die gut zwei Dutzend Fälle, um die es geht, sind sehr unterschiedlich beschrieben. Mal wird die Tat aus der Sicht der Ermittlungsbeamten geschildert (z.B. "Niemande"), dann wendet sich ein des Mordes verurteilter Ich-Erzähler per Brief an seine Verwandten ("Kopfstück"), oder ein Bediensteter der Anatomie plaudert aus dem Nähkästchen ("Großer, rosiger Knabe").
Natürlich sind die Gedanken, von denen Täter und Opfer bewegt werden, eine reine Erfindung der Autorin. Die sie allerdings geschickt mit schriftlichen Unterlagen (wie etwa Briefen) aus dem Polizeiarchiv unterfüttert, was dem Ganzen ein Flair von "so könnte es gewesen sein" verleiht.
Alles in allem handelt es sich bei "Crime Album Stories" um eine aufwendig gestaltete Mischung aus Zeitgeschichte und Fiktion.
Hochinteressante Lektüre - doch nichts für schwache Nerven
Allein schon die Schilderungen der Lebensumstände in den Städten und auf dem Land am Ende des 19. Jahrhunderts, der Ablauf der Gerichtsprozesse oder der beschriebene Sensations-Tourismus (Hunderte, die sich in Mietkutschen zum Schauplatz eines Verbrechens begeben - "Fett und Asche"-, weil "Le Petit Journal" dasselbe in speziellen Farbbeilagen mittels Illustrationen so dramatisch geschildert haben) machen die 319 Seiten zu einer höchst interessanten Lektüre nicht nur für die Anhänger von "True Crime".
(Michaela Pelz, www.krimi-forum.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2001Was exakte Wissenschaft vermag
Eugenia Parry lüftet Bertillons Kriminalfälle aus dem alten Paris
Bertillon hat keinen Zweifel: Kapitän Alfred Dreyfus ist der Autor jener Zeilen, die belegen, daß er militärische Geheimnisse an den deutschen Geheimdienst verraten hat. Die Vergrößerung mit Hilfe der Fotografie und der Vergleich mit anderen Schriftstücken des Offiziers belegen es. Der Abteilungsdirektor der "Service d'identification" im Pariser Justizpalast ist sich da ganz sicher. Und das Militärgericht folgt ihm. Der "Verräter Dreyfus" wird 1894 in die Strafkolonie auf die Teufelsinsel bei Cayenne verbannt.
Schon 1882 - nachdem Bertillon drei Jahre als einfacher Schreibgehilfe im Dienst der "Préfecture de Police" in Paris gestanden hatte - hatte er seinen ersten großen Erfolg verbucht: Mit Hilfe der von ihm selbst angelegten Kartei identifizierte er 49 Wiederholungstäter unter 589 Verdächtigen. Der Polizeipräsident Camescasse ist beeindruckt. Bertillon bekommt zwei Assistenten und beginnt nach den Messungen bestimmter, nach Ansicht der Wissenschaft unveränderbarer Körpermerkmale, die Verdächtigen zu fotografieren.
Sehr bald nimmt er ebenfalls die Opfer an den entsprechenden Tatorten auf. Diese "Spurensuche" erfaßt nicht nur die Lage der Getöteten, sondern vor allem die Art und Weise, wie das Verbrechen geschah. Ein spezielles Weitwinkelobjektiv und ein Magnesiumblitz gehören zur Ausrüstung. Bertillon listet genau die Umstände des Verbrechens auf: Dies hilft ihm, die "Handschrift" des Mörders zu entschlüsseln.
Die Erfolge des damals berühmt-berüchtigten Hauptkommissars Armand Cochefert scheinen ohne Bertillons Hilfe kaum möglich zu sein: Der eine läßt sich von der Intuition leiten, der andere kennt nur die Wissenschaft. Die "Bertillonage", die auf der Auswertung und dem genauen Vergleich statistischer und anthropometrischer Daten basierte, avancierte sehr bald zum offiziellen Begriff einer Fahndungsmethode. Sie wurde zur Grundlage der modernen Kriminalistik, obgleich sie in der linken Presse eher abschätzig als Teil des Repressionssystems abqualifiziert wurde. Erst der genetische Fingerabdruck ersetzte sie restlos.
Das Karteisystem von Bertillon umfaßte also neben den anthropometrischen Daten auch Aufnahmen der Beschuldigten en face und im Profil, und zwar so, daß die Kameraentfernung immer konstant blieb. Diese Fotos und Dokumente durften das "Département de l'anthropométrie" nicht verlassen. Bertillon verstand es jedoch, sich hervorragend der Boulevardpresse zu bedienen. Nur "gefilterte" Informationen und ausgewählte Fotos - meist Porträts der Toten - wurden der Presse zugespielt, vor allem, wenn es darum ging, Kriminalfälle mit Hilfe der Bevölkerung aufzuklären.
Im Jahr 1971 erfuhr die amerikanische Fotohistorikerin Eugenia Parry, daß ein Pariser Sammler ein Album besaß, das einige der aufsehenerregenden Kriminalfälle zwischen 1886 und 1902 dokumentierte. Heimlich hatte jemand eine Privatdokumentation angelegt. Für Parry war die Entdeckung dieser Fotografien Anlaß, eine Art "criminologie romancée" zu entwerfen, um aus verschiedenen Blickwinkeln das tatsächlich Geschehene neu zu erzählen.
So läßt sie beispielsweise einen Gehilfen am Anatomischen Institut der Pariser Medizinfakultät zu Wort kommen, der bei dem Fall des Mörders Henri-Jacques-Ernest Pranzini seine Stelle verliert. Pranzini, der nicht nur die Kurtisane Marie Regnault, sondern auch deren Dienstmädchen Annette Gremeret sowie deren elfjährige Tochter umgebracht hatte, wurde im August 1887 durch die Guillotine hingerichtet. Der dreifache brutale Mord im März 1887 bewegte mehrere Monate lang die Pariser Halbwelt und die Boulevardpresse. Nachdem Pranzini gefaßt wurde, fotografierte Bertillon ihn. Das Album zeigt zudem die Aufnahmen der beiden Frauen mit ihren schrecklichen Todeswunden.
Der junge Gehilfe erzählt in der Ich-Form das Geschehen am Institut, wo ein makabrer Handel mit Körperteilen betrieben wird. Dort sieht man den guillotinierten Pranzini als erstklassige Ware an. Der Detektiv Rossignol nimmt während der Autopsie des Mörders den jungen Mann beiseite und bittet ihn um ein "Souvenir" für seinen Chef Goron. Da es keine persönlichen Gegenstände gibt, schneidet man einfach ein bißchen Brusthaut ab. Rossignol bestellt zwei Kästchen, in denen die bearbeitete "Haut" als Geschenk an Goron sowie an dessen Vorgesetzten Taylor gehen soll. Rossignol kann jedoch seinen Mund nicht halten und erzählt dem Schreiner, welche Kostbarkeiten er da hat - ein Fehler. Ein Journalist des "Figaro" berichtet in mehreren Artikeln über die dubiosen Praktiken der Polizei. Taylor verliert seinen Job. Die anderen Handelspraktiken am Anatomischen Institut werden nicht mehr erwähnt, Rossignol hält dicht. Der junge Gehilfe jedoch wird entlassen.
Eine andere Geschichte erzählt den Fall des siebenjährigen Mädchens Angèle Chèze aus der Sicht des bekannten Schweizer Illustrators Théophile Alexandre Steinlen. Die kleine Angèle mochte Steinlen, vor allem wegen seiner Katzenliebe. Und Steinlen war von ihrer Intelligenz begeistert. Zusammen mit dem Kater, den er ihr schenkte, zeichnet er sie. Zwei Tage später sitzt Steinlen mit einigen Künstlerfreunden in einem Bistro in der Rue de Saules, als er vom Sohn eines Polizisten gebeten wird, ihm in das Haus Nummer 29 zu folgen. Da liegt die Kleine, erwürgt. Steinlen trägt sie in die Bar nach unten, ihr Körper ist warm, sie scheint noch zu atmen. Bertillon kommt mit seiner fotografischen Ausrüstung; Armand Cochefert übernimmt die Ermittlungen. Das Mädchen hat möglicherweise kurz vor seinem Tod Tee getrunken und wurde dann mit Äther betäubt. Die Obduktion stellt keine andere Gewalteinwirkung fest. Der Mörder Henri-Guillaume-Hector Ducocq wird in Brüssel verhaftet. Das eigentliche Motiv bleibt unklar. Angèle schien auch in ihrem Todeskampf zu lächeln. Sie kannte den Mörder; er lebte in der Nähe ihres Elternhauses.
Eugenia Parry ist eine ausgewiesene Kennerin der Fotografiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts: Ihre Essays über die französische Kalotypie, über die Fotografen Henri LeSecq, Gustave Le Gray und unlängst über Edgar Degas als Fotograf sind erstklassige Beiträge zur Fotografiegeschichte. In vierundzwanzig "Crime Stories" versucht sie, ein "Paris antique" zum Leben zu erwecken. Sämtliche Kriminalfälle, auf die das Album hinweist, hat sie genau recherchiert. Hinzu kommt ihre ausgezeichnete Kenntnis der Geographie und der Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - Voraussetzungen dafür, um ein spannendes Tableau des Gesellschaftslebens in Paris um die Jahrhundertwende zu entwerfen.
Dennoch entsteht keine Spannung, wie man sie aus anderen "crime stories" kennt. Die Treue zu Bertillons Fotografie zwingt Parry, die Kriminalfälle "von hinten aufzurollen". Die Täter sind bekannt, die Opfer auch. Das Problem der Identifikation haben Bertillon und Cochefert meistens bereits mit Bravour geleistet. Die metaphysische Dimension, die fast jedes Kapitalverbrechen begleitet, fehlt. Auch muß die Autorin auf die "Täterpsychologie" verzichten - denn das Album enthält, wie die zeitgenössischen Zeitungsberichte, nur Fakten.
Kurz vor Bertillons Tod am 13. Februar 1914 wurde er gefragt, ob er eingesehen hätte, daß er sich in seinem Gutachten zur Dreyfusaffäre geirrt hätte und ob er seine Beschuldigung zurücknehme, da die Unschuld des Kapitäns inzwischen erwiesen ist. Der einundsechzigjährige, blinde und schwerkranke Mann lehnte ab. So gelten Bertillons kriminalistische Anthropometrie und seine fotografische Praxis noch immer als Ausdruck eines recht konservativen Beamten. Geflissentlich hat man übersehen, daß in der Rubrik "Religion" in seiner Geburtsurkunde stand: Keine. Es hätte dort stehen können - Wissenschaft und Wahrheit. In Bertillons Augen war die erste Conditio sine qua non für die zweite.
MILAN CHLUMSKY
Eugenia Parry: "Crime Album Stories". Paris 1886-1902. Scalo Publishers, Zürich 2000. 320 S., 60 Abb., geb., £ 19,95.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eugenia Parry lüftet Bertillons Kriminalfälle aus dem alten Paris
Bertillon hat keinen Zweifel: Kapitän Alfred Dreyfus ist der Autor jener Zeilen, die belegen, daß er militärische Geheimnisse an den deutschen Geheimdienst verraten hat. Die Vergrößerung mit Hilfe der Fotografie und der Vergleich mit anderen Schriftstücken des Offiziers belegen es. Der Abteilungsdirektor der "Service d'identification" im Pariser Justizpalast ist sich da ganz sicher. Und das Militärgericht folgt ihm. Der "Verräter Dreyfus" wird 1894 in die Strafkolonie auf die Teufelsinsel bei Cayenne verbannt.
Schon 1882 - nachdem Bertillon drei Jahre als einfacher Schreibgehilfe im Dienst der "Préfecture de Police" in Paris gestanden hatte - hatte er seinen ersten großen Erfolg verbucht: Mit Hilfe der von ihm selbst angelegten Kartei identifizierte er 49 Wiederholungstäter unter 589 Verdächtigen. Der Polizeipräsident Camescasse ist beeindruckt. Bertillon bekommt zwei Assistenten und beginnt nach den Messungen bestimmter, nach Ansicht der Wissenschaft unveränderbarer Körpermerkmale, die Verdächtigen zu fotografieren.
Sehr bald nimmt er ebenfalls die Opfer an den entsprechenden Tatorten auf. Diese "Spurensuche" erfaßt nicht nur die Lage der Getöteten, sondern vor allem die Art und Weise, wie das Verbrechen geschah. Ein spezielles Weitwinkelobjektiv und ein Magnesiumblitz gehören zur Ausrüstung. Bertillon listet genau die Umstände des Verbrechens auf: Dies hilft ihm, die "Handschrift" des Mörders zu entschlüsseln.
Die Erfolge des damals berühmt-berüchtigten Hauptkommissars Armand Cochefert scheinen ohne Bertillons Hilfe kaum möglich zu sein: Der eine läßt sich von der Intuition leiten, der andere kennt nur die Wissenschaft. Die "Bertillonage", die auf der Auswertung und dem genauen Vergleich statistischer und anthropometrischer Daten basierte, avancierte sehr bald zum offiziellen Begriff einer Fahndungsmethode. Sie wurde zur Grundlage der modernen Kriminalistik, obgleich sie in der linken Presse eher abschätzig als Teil des Repressionssystems abqualifiziert wurde. Erst der genetische Fingerabdruck ersetzte sie restlos.
Das Karteisystem von Bertillon umfaßte also neben den anthropometrischen Daten auch Aufnahmen der Beschuldigten en face und im Profil, und zwar so, daß die Kameraentfernung immer konstant blieb. Diese Fotos und Dokumente durften das "Département de l'anthropométrie" nicht verlassen. Bertillon verstand es jedoch, sich hervorragend der Boulevardpresse zu bedienen. Nur "gefilterte" Informationen und ausgewählte Fotos - meist Porträts der Toten - wurden der Presse zugespielt, vor allem, wenn es darum ging, Kriminalfälle mit Hilfe der Bevölkerung aufzuklären.
Im Jahr 1971 erfuhr die amerikanische Fotohistorikerin Eugenia Parry, daß ein Pariser Sammler ein Album besaß, das einige der aufsehenerregenden Kriminalfälle zwischen 1886 und 1902 dokumentierte. Heimlich hatte jemand eine Privatdokumentation angelegt. Für Parry war die Entdeckung dieser Fotografien Anlaß, eine Art "criminologie romancée" zu entwerfen, um aus verschiedenen Blickwinkeln das tatsächlich Geschehene neu zu erzählen.
So läßt sie beispielsweise einen Gehilfen am Anatomischen Institut der Pariser Medizinfakultät zu Wort kommen, der bei dem Fall des Mörders Henri-Jacques-Ernest Pranzini seine Stelle verliert. Pranzini, der nicht nur die Kurtisane Marie Regnault, sondern auch deren Dienstmädchen Annette Gremeret sowie deren elfjährige Tochter umgebracht hatte, wurde im August 1887 durch die Guillotine hingerichtet. Der dreifache brutale Mord im März 1887 bewegte mehrere Monate lang die Pariser Halbwelt und die Boulevardpresse. Nachdem Pranzini gefaßt wurde, fotografierte Bertillon ihn. Das Album zeigt zudem die Aufnahmen der beiden Frauen mit ihren schrecklichen Todeswunden.
Der junge Gehilfe erzählt in der Ich-Form das Geschehen am Institut, wo ein makabrer Handel mit Körperteilen betrieben wird. Dort sieht man den guillotinierten Pranzini als erstklassige Ware an. Der Detektiv Rossignol nimmt während der Autopsie des Mörders den jungen Mann beiseite und bittet ihn um ein "Souvenir" für seinen Chef Goron. Da es keine persönlichen Gegenstände gibt, schneidet man einfach ein bißchen Brusthaut ab. Rossignol bestellt zwei Kästchen, in denen die bearbeitete "Haut" als Geschenk an Goron sowie an dessen Vorgesetzten Taylor gehen soll. Rossignol kann jedoch seinen Mund nicht halten und erzählt dem Schreiner, welche Kostbarkeiten er da hat - ein Fehler. Ein Journalist des "Figaro" berichtet in mehreren Artikeln über die dubiosen Praktiken der Polizei. Taylor verliert seinen Job. Die anderen Handelspraktiken am Anatomischen Institut werden nicht mehr erwähnt, Rossignol hält dicht. Der junge Gehilfe jedoch wird entlassen.
Eine andere Geschichte erzählt den Fall des siebenjährigen Mädchens Angèle Chèze aus der Sicht des bekannten Schweizer Illustrators Théophile Alexandre Steinlen. Die kleine Angèle mochte Steinlen, vor allem wegen seiner Katzenliebe. Und Steinlen war von ihrer Intelligenz begeistert. Zusammen mit dem Kater, den er ihr schenkte, zeichnet er sie. Zwei Tage später sitzt Steinlen mit einigen Künstlerfreunden in einem Bistro in der Rue de Saules, als er vom Sohn eines Polizisten gebeten wird, ihm in das Haus Nummer 29 zu folgen. Da liegt die Kleine, erwürgt. Steinlen trägt sie in die Bar nach unten, ihr Körper ist warm, sie scheint noch zu atmen. Bertillon kommt mit seiner fotografischen Ausrüstung; Armand Cochefert übernimmt die Ermittlungen. Das Mädchen hat möglicherweise kurz vor seinem Tod Tee getrunken und wurde dann mit Äther betäubt. Die Obduktion stellt keine andere Gewalteinwirkung fest. Der Mörder Henri-Guillaume-Hector Ducocq wird in Brüssel verhaftet. Das eigentliche Motiv bleibt unklar. Angèle schien auch in ihrem Todeskampf zu lächeln. Sie kannte den Mörder; er lebte in der Nähe ihres Elternhauses.
Eugenia Parry ist eine ausgewiesene Kennerin der Fotografiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts: Ihre Essays über die französische Kalotypie, über die Fotografen Henri LeSecq, Gustave Le Gray und unlängst über Edgar Degas als Fotograf sind erstklassige Beiträge zur Fotografiegeschichte. In vierundzwanzig "Crime Stories" versucht sie, ein "Paris antique" zum Leben zu erwecken. Sämtliche Kriminalfälle, auf die das Album hinweist, hat sie genau recherchiert. Hinzu kommt ihre ausgezeichnete Kenntnis der Geographie und der Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts - Voraussetzungen dafür, um ein spannendes Tableau des Gesellschaftslebens in Paris um die Jahrhundertwende zu entwerfen.
Dennoch entsteht keine Spannung, wie man sie aus anderen "crime stories" kennt. Die Treue zu Bertillons Fotografie zwingt Parry, die Kriminalfälle "von hinten aufzurollen". Die Täter sind bekannt, die Opfer auch. Das Problem der Identifikation haben Bertillon und Cochefert meistens bereits mit Bravour geleistet. Die metaphysische Dimension, die fast jedes Kapitalverbrechen begleitet, fehlt. Auch muß die Autorin auf die "Täterpsychologie" verzichten - denn das Album enthält, wie die zeitgenössischen Zeitungsberichte, nur Fakten.
Kurz vor Bertillons Tod am 13. Februar 1914 wurde er gefragt, ob er eingesehen hätte, daß er sich in seinem Gutachten zur Dreyfusaffäre geirrt hätte und ob er seine Beschuldigung zurücknehme, da die Unschuld des Kapitäns inzwischen erwiesen ist. Der einundsechzigjährige, blinde und schwerkranke Mann lehnte ab. So gelten Bertillons kriminalistische Anthropometrie und seine fotografische Praxis noch immer als Ausdruck eines recht konservativen Beamten. Geflissentlich hat man übersehen, daß in der Rubrik "Religion" in seiner Geburtsurkunde stand: Keine. Es hätte dort stehen können - Wissenschaft und Wahrheit. In Bertillons Augen war die erste Conditio sine qua non für die zweite.
MILAN CHLUMSKY
Eugenia Parry: "Crime Album Stories". Paris 1886-1902. Scalo Publishers, Zürich 2000. 320 S., 60 Abb., geb., £ 19,95.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main