Produktdetails
- Collection Folio
- Verlag: Import / Mercure de France, P.
- Seitenzahl: 343
- Erscheinungstermin: Juni 2000
- Französisch
- Abmessung: 181mm x 109mm x 17mm
- Gewicht: 180g
- ISBN-13: 9782070411672
- ISBN-10: 2070411672
- Artikelnr.: 36091275
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
- Herstellerkennzeichnung
- Libri GmbH
- Europaallee 1
- 36244 Bad Hersfeld
- gpsr@libri.de
Andreï Makine häkelt am Inzestdeckchen / Von Ralph Dutli
Der Friedhofswärter kratzt an den Grabsteinen herum und erzählt von den abenteuerlichen Existenzen der Verblichenen. Da eine Selbstmörderin, dort ein Tänzer, den das neue Virus dahingerafft hat. Es ist ein Friedhof mit russisch-orthodoxen Kreuzen. Wer die Pilgerorte der russischen Emigranten um Paris kennt, darf Sainte-Geneviève-des-Bois im Süden der Hauptstadt vermuten, wo auch Iwan Bunin ruht, der erste russische Literatur-Nobelpreisträger von 1933. Er ist nur eines der Vorbilder, denen der sibirische Wahl-Pariser Andreï Makine nachtutet. Westlich von Paris, in Bougival, liegt die Datscha, eher ein niedliches Chalet, wo Iwan Turgenjew in der Nähe von Pauline Viardot einst so glücklich war.
Makine, von dem man auf Deutsch 1997 "Das französische Testament" und ein Jahr später "Die Liebe vom Fluss Amur" zu lesen bekam, wetteifert immer eifriger mit Romangrößen des neunzehnten Jahrhunderts. Stimmungsvolle Naturimpressionen werden artig verwoben, da "hüllt der Dunst das Weidengestrüpp in milchiges, mattes Licht", dort "verfliegt der letzte rosafarbene Schimmer". Ist weder das Rosige noch das Matte angesagt, kann dieser Romandekorateur auch mal einen russischen Schneesturm auf die Pariser Gegend loslassen. Die beiden Denksprüche des neuen Romans stammen von Dostojewski und von Proust.
Auch die Rahmenhandlung ist jämmerlich konventionell: Besagter Friedhofswärter erzählt seine lebensvollen Geschichten den Alltagsflüchtlingen, die irgendwelchen faden Familien den Gang zum russischen Friedhof vorgezogen haben. Unter den Zuhörern ist auch "der junge Mann im Studentensakko, der zu jenen unsichtbaren Exilrussen gehört, die in der Abgeschiedenheit einer mit Büchern vollgestopften Dachkammer dem Hirngespinst des Schreibens nachjagen". Man darf hier getrost den Autor selber vermuten, der seiner Legende nach jahrelang in einer Dachkammer Romane schrieb, bevor ihn der Prix Goncourt und der Prix Médicis für "Das französische Testament" wie Donnerschläge trafen.
Diesem mit seinem einsamen Exilantentum kokettierenden Romancier will der Friedhofswärter die schauerliche Geschichte von Olga Arbelina erzählen. Exklusivität ist garantiert: "Sie sind der Erste, dem ich von ihr erzähle!" Doch zum Edelkitsch gehört auch der Ruch eines Verbrechens. Die russische Emigrantin wurde 1947 im Kleinstädtchen Villiers-la-Forêt halb entblößt und verstört am Flussufer gefunden, neben ihr ein alter Arzt mit eingeschlagenem Schädel. War sie eine Mörderin oder war sie es nicht? Da tauchen wir hinab in den Schlund dieses Emigrantenschicksals, wo uns fast nichts erspart bleiben wird.
Das exotische Milieu der russischen Emigranten in Paris ist als literarisches Thema ein alter Hut. Nina Berberova (1901 bis 1993) hat damit im Frankreich der achtziger Jahre späte Triumphe feiern dürfen. Nur kannte sie das Milieu der "weißen" Russen ungleich besser als der 1957 geborene sibirische Newcomer Makine. Der lebt seit 1987 in Paris und beliefert fleißig die französische Russlandsehnsucht. Ob Großmütterchens Testament, Amur-Liebe oder Friedhofswärter-Prosa: Makine wedelt arg mit dem Weihwasser einer wechselseitigen französisch-russischen Nostalgie.
Olga Arbelina ist eine russische Fürstin, die 1922 infolge des bolschewistischen Oktoberumsturzes am Ufer der Seine strandete. Sie hat einen Sohn, der an der Bluterkrankheit leidet, was einen Hauch vom schrecklichen Schicksal des letzten Zarewitschs aus der Dynastie der Romanows ins Buch wehen soll. Makine möchte vom derzeit modischen Inzestthema profitieren: Der vierzehnjährige Jugendliche streut der leidgeprüften Fürstin fast jeden Abend ein Pulver in den Tee, um mit der betäubten Mama zu schlafen, die darauf von einem "vom Blut angeschwollenen Reptil" träumt. Solche plumpe Metaphorik glaubt Makine dem Leser zumuten zu dürfen. Mama macht dann doch gerne mit. Bald muss die russische Fürstin eine Abtreibung durchstehen, und der Leser ahnt den Vater mit Grauen.
Sonst aber wird der hämophile Jugendliche sehr blass bleiben, Makine interessiert sich in dem betulich erzählten Melodram nur für die Schmerzensmutter. Der Pariser Sibirier schafft es, auf den Naturkitsch seitenweise Sexualkitsch zu propfen: "Nein, in der lauen und weichen Substanz des Lebens gab es nur diese Klage der Lust, dieses Fleisch, das auf Vereinigung lauerte." Die inzestuöse Liebe ist aber nur eine der von Makine gehäkelten Maschen. Die schwüle Mutter-Sohn-Schnulze wäre doch zu mager für dreihundert abgeschmackte Romanseiten. Die Rückschau auf Kindheit und Jugend der russischen Fürstin bietet einige Maskenbälle auf dem Erbgut Ostrow. Auch hier sollte man sich lieber an das Original halten und zu Nabokovs Autobiographie "Erinnerung, sprich" greifen.
Die ungeheuerlichen Ereignisse des russischen Bürgerkrieges von 1918 bis 1921 bilden den Hintergrund für Makines Inzest-Melo. Die Fürstin wird vergewaltigt und emigriert wie viele Russen über die Krim und Konstantinopel nach Paris, wo die Maskenbälle wieder anfangen. Nach gescheiterter Ehe lebt sie mit dem Bluterkind allein und arbeitet als Bibliothekarin im kleinstädtischen Altenheim der Russen. Der betagte russische Arzt, der dem hämophilen Jungen manchmal Erleichterung verschaffen kann (ein Rasputin-Motiv, und wieder Kolportage), macht sich an die Mutter heran. Der Betrunkene lädt sie im Sommer zur Flussfahrt ein, kippt aus dem Kahn und haut sich den Schädel ein. Die Mater dolorosa aber, die "Frau, die voller seltsamer Winternächte und schrecklicher Abgründe war", wird unter dem Ansturm der Erinnerungen und Schuldgefühle jammervoll um den Verstand gebracht. Auch dem Leser könnte das blühen.
Da Kunstgewerbe gern zum traditionell bewährten Ringschluss greift, kehren wir am Ende kurz zum Kabäuschen des Friedhofswärters zurück. Über dem nachtlangen überflüssigen Erzählen ist der Morgen angebrochen, und hinter uns kracht das süße Turgenjewsche Chalet, an dem auch Bunin, Berberova und Nabokov als bedauernswerte Zwangsarbeiter ungefragt haben mitbasteln müssen, wie das Kartenhaus eines maßlos überschätzten Schriftstellers zusammen.
Andreï Makine: "Das Verbrechen der Olga Arbelina". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000. 320 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main