Wer schon einmal ein Fußballspiel in einem größeren Stadion erlebt hat, kennt die Stimmung, die vor allem von den Tribünen ausgeht, auf denen die echten Fans ihre Mannschaften anfeuern. Hans Ulrich Gumbrecht - Anhänger von Borussia Dortmund und einer der großen Literaturwissenschaftler unserer Zeit - geht dieser Stimmung in besonderer Weise nach. In seinem Essay "Crowds" verbindet er die Innensicht des Fans mit einschlägigen Theorien des 20. Jahrhunderts. Und während "die Masse" in Politik und Kultur einen eher zweifelhaften Ruf genießt - da für leicht steuerbar gehalten -, erkennt Gumbrecht in den Fans der Dortmunder "Süd", einer der weltweit größten Stehplatztribünen, ein Potential zu ihrem Lob."Ein neurotisch-wilder, unterhaltsamer Gedankenritt von Maradona zu Nietzsche, von der russischen Revolution zur Bostoner Tea Party, von Jesus zu Karl Marx. [...] Der Essay ist auch als 150 Seiten kurze Gegenschrift zu verstehen. Gegen die Verachtung der Massen in Literatur und Hochkultur."Neue Zürcher Zeitung"Auf den 160 Seiten seines Essays versucht [der Autor] aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln eine Erklärung für die monumentale und lebensverändernde Kraft des Stadionfußballs zu finden. [Er schlägt] in einem intellektuellen Husarenritt einen Bogen vom mystischen Körper Christi über den Sturm auf die Bastille bis hin zum Konflikt zwischen Ultras und DFL."11 Freunde"Der Literaturwissenschaftlicher Hans Ulrich Gumbrecht hat die Corona-Auszeit zum Anlass genommen, die Intensität des Massenerlebnisses im Moment von dessen Ausbleiben unter die Lupe zu nehmen. [...] Gumbrechts kurzer Essay, geschrieben in der Corona-Spielpause, ist ein erhellendes Stück Literatur über das Bedürfnis nach Massenerlebnissen in einer Zeit, in der die Repräsentationsform Masse immer stärker an Bedeutung verliert."Berliner Zeitung"Gumbrecht deutet das Stadion als "Ritual von Intensität" und legt nicht weniger als eine Apologie der Masse vor. Zahlreiche Exkursionen in die Stadien von Südamerika, die Dortmunder "Süd" sowie Exkurse in die Psychologie der Massen durchziehen seinen glänzend geschriebenen Essay."Glanz und ElendAnyone who has ever experienced a football match in a large stadium knows the atmosphere that emanates especially from the grandstands where the real fans are, cheering on their teams. Hans Ulrich Gumbrecht - an avid supporter of Borussia Dortmund and one of the most renowned literary scholars of our time - explores this mood in a special way. In his essay "Crowds" he combines the interior view of the fan with relevant theories of the 20th century. And while "the masses" enjoy a rather dubious reputation in politics and culture (as they are considered to be easily controllable), Gumbrecht discovers a potential for their praise in the fans of Dortmund's "South", one of the world's largest standing room grandstands.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2020Wo das Leben kondensiert
Zeit zu lesen: Die Masse im Stadion, sie ist wie Jekyll und Hyde. Jetzt hat die Pandemie sie aus dem Spiel genommen - was für ein Verlust.
Von Christoph Becker
Es lässt sich vieles finden in einem leeren Stadion. Meistertitel und Pokalsiege. Die nötigen Werbeflächen für die aktuellen Verträge, jede einzelne ein Treueversprechen auf bessere Zeiten, irgendwann, nach der Pandemie. Jede einzelne zahlt ein auf die Hoffnung, dass das Geld reichen möge bis dahin. Aber die Liebe? Die Liebe eher nicht. Die Liebe findet sich nicht im leeren Stadion, und vielleicht ist das schon die ganze Geschichte.
Hans Ulrich Gumbrecht, emeritierter Stanford-Professor und Sportfan, lässt zum Beweis Adriano Celentano ins alte San Siro treten. San Siro, das Mailänder Stadion, das offiziell seit 1980 Stadio Giuseppe Meazza heißt, wo Rijkaard 1990 Völler anspuckt und Heribert Faßbender Juan Carlos Loustau in die Pampa schicken will. Wo Rummenigge und dann Matthäus, Brehme, Klinsmann bei Inter spielen, Gullitt, Rijkaard und Van Basten aber bei Milan, wo sie mit Arrigo Sacchi den Fußball generalüberholen. Das Mailänder Stadion, ein Monument.
Dass sie in Mailand dieses Stadion nun abreißen dürfen, gibt diesem zertrümmerten Fußballjahr ein baubehördliches Siegel der Kulturlosigkeit. Gumbrecht aber, dessen Denkschrift "Crowds", Massen, zu keinem besseren Zeitpunkt hätte erscheinen können als in der Corona-Saison, lässt gegen Ende seines Buches also den jungen Adriano Celentano ins alte San Siro treten.
Es ist das Jahr 1965. San Siro, das sind zwei Ränge, kein Dach. Der junge Celentano, Mitte zwanzig, bestes Ultra-Alter, wird schier verrückt in seinem Schlager "Eravamo in centomila":
"O bella mora, schöne Brünette, se non sbaglio lei ha visto l'Inter Milan con me. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie mit mir Inter gegen Milan gesehen. Ma come fa lei a non ricordar? Noi eravamo in centomila allo stadio quel di' io dell' I . . ., lei del Mi . . . Wieso erinnern Sie sich nicht? Wir waren im Stadion unter hunderttausend an dem Tag. Ich für Inter. Sie für Milan."
Keine Chance. Nach dem Spiel nimmt sie die Straßenbahn mit einem anderen.
Es gibt ein Video zu dem nun 55 Jahre alten Lied, da verrenkt sich Celentano auf dem Oberrang des San Siro. Auf der Gegentribüne sitzt eine junge Frau und langweilt sich sehr. Sonst ist da niemand. Es könnte das 21. Jahrhundert sein. So wird das nichts. Keine Liebe in San Siro.
Teil von Geschichten werden
Vielleicht war der Fußball noch nie so einsam wie im Frühsommer 2020. Vielleicht erklärt sich die Begeisterung der Massen am Spiel tatsächlich erst im Moment der Leere. Gumbrecht jedenfalls erinnert nicht nur an den jungen Celentano, sondern findet den Ansatz zu seinen Erwägungen über eine Nacht in der Bombonera, dem Stadion der Boca Juniors in Buenos Aires, vor dreißig Jahren. Die Lichter gingen aus, die letzte Führung durch einen der Sehnsuchtsorte des Fußballs verließ das Stadion, Gumbrecht blieb. "Ich richtete mich zum Sitzen und engen Liegen auf halber Höhe ein (. . .) und ließ die kindlichsten Wünsche und ihre Bilder durch meinen Kopf ziehen: Steilpässe für Diego Maradona; mit Tausenden von Boca-Fans singen . . ." Das Stadion lässt ihn für eine Nacht "zum Teil von Geschichten werden, deren Namen und Daten ich nicht kannte".
Welch ein Unterschied zum Corona-Fußball im Hier und Heute, in dem die Massen zwar die Namen und Daten kennen, aber nicht Teil der Geschichten werden können. Zum Fußball, der seinem Publikum den Hall der Gegenwart nicht zumuten möchte, der den Fernsehzuschauern, wie beim Sender NBC in den Vereinigten Staaten bei den Spielen der britischen Premier League, als Audio-Grundeinstellung den von der Computerspielefirma EA Sports eingespielten digitalen Stadionsound vorsetzt. Es mag noch funktionieren, dem Gottesdienst im Fernsehen zu folgen, wenn der Weg in die Kirche zu weit ist oder zu mühselig. Der Gläubige richtet die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits. Das Stadion aber ist Gumbrecht Bühne des Diesseits, das Spiel und die Teilhabe der Fans daran die "kondensierte Form des Lebens". Ohne Masse aber fehlen Druck und Wärme, das Spiel verflüchtigt sich, ohne Spuren zu hinterlassen.
Gumbrechts Dortmunder Borussia, deren Südtribüne das Massenerlebnis schlechthin im deutschen Fußball bietet, holte in den Corona-Spielen neun Punkte weniger als der FC Bayern München. Im Zürcher "Tages-Anzeiger" sagte Gumbrecht dieser Tage: Dass die Bundesliga zum Laufen gebracht wurde, "weil sie als Unternehmen TV-Einkünfte braucht zum Überleben", finde er völlig berechtigt. Gumbrechts Massen hätte man die Spiele auch vollends digital vorsetzen können, die Meisterschaft an der Konsole oder von einem Algorithmus ausspielen lassen können.
Die Pandemie hat die Massen aus dem Spiel genommen, das Ereignis gestrichen, das Gumbrecht "das Bestehen der Masse auf dem Recht ihrer Existenz" nennt, mit guten Gründen. So ist es seit alters her, als im Circus Maximus die Massen den Wagenlenkern zuschauten, deren berühmteste Sieger noch üppiger versorgt wurden als Neymar junior, Messi und Cristiano Ronaldo.
Allzu oft bedarf es keiner Pandemie, es reicht die Sorge der Mächtigen vor einer wie auch immer gearteten Gefahr, der Masse ihre Existenz zu versagen, ob es die Frauen in Iran trifft, die als Teil der Stadionmasse plötzlich weiter gehende Freiheiten ergreifen könnten, oder Ultras, die im Wege einer Kollektivstrafe ausgeschlossen werden. "Ohne ein Risiko von Gewalt gibt es die Energie der Masse nicht": Gumbrechts Plädoyer für das Massenerlebnis leugnet weder den immanenten Gewaltimpuls noch eine Grundsympathie für den Ansatz der Ultras: Nichts wirkt nebensächlich oder entspannt im Stadion.
Hier liegt die logische Schnittstelle zum bislang nur auf Englisch erschienenen Buch "1312 - Among the Ultras" des britischen Reporters James Piotr Montague, dessen Schilderungen der Ultra-Szenen ebenfalls sehr schnell in Südamerika landen, in der Bombonera, bei den Fans der Boca Juniors.
Masse, Gewalt und Politik
Sie, und nicht nur sie, gehen der Politik seit Jahrzehnten zur Hand, gegen Geld und Privilegien im Handel mit Tickets und Drogen, zum Beispiel. Montagues Schilderungen aus Buenos Aires und von der anderen Seite des Río de la Plata, aus Montevideo, seine Reisen auf dem Balkan und unter italienischen Ultras, insbesondere der offen faschistischen Szene von Lazio Rom, erschüttern bisweilen.
Bei Montague wird die Masse, die sich im Stadion sammelt, zur politischen Einheit, lässt sich, schlimmer noch, teils terroristisch inspirieren. Der Lazio-Capo, den Montague spricht, erklärt, es sei zunächst darum gegangen, die Gewalt der "bleiernen Jahre", des politischen Terrors im Italien der siebziger und frühen achtziger Jahre ins Stadion zu tragen. Und nicht nur bei Zeljko Raznatovic, genannt Arkan, Anfang der neunziger Jahre Anführer der serbisch-nationalistisch gesinnten "Delije" bei Crvena Zvezda, Roter Stern Belgrad, und alsbald Kriegsverbrecher, greifen sie zu Waffen. Raznatovic lässt die Delije gegen Bosnier und Kroaten antreten und morden. Die Balkanisierung in all ihrer Grausamkeit und all ihren bisweilen absurden, aber nie irrelevanten Petitessen ist auch eine Geschichte der Fußballfans. Und vor gerade einmal sechs Jahren waren 65 Prozent der Freiwilligen, die im ukrainischen, teils offen rechtsextremen Freiwilligen-Bataillon Asow im Osten des Landes gegen russische Soldaten und prorussische Milizen kämpften, Fußballfans: Ultras aus Kiew, Lemberg, Dnipro und Charkiw.
Auch in Deutschland blickt Montague auf die politischen Auseinandersetzungen, die seit den frühen neunziger Jahren die Ultra-Szenen bewegen, mit beachtlicher Aktualität bis in den Spätsommer 2019. Und natürlich kommt auch er an der Dortmunder Südtribüne nicht vorbei. Hier kreuzen sich die Wege der Autoren noch einmal, wie in der Bombonera in La Boca, Buenos Aires, hier kreuzen sich auch die Gedanken zum inneren und äußeren Ausdruck der Massen. Wo das Leben kondensiert, stehen Jekyll und Hyde. Gumbrecht hat Zweifel, ob das Stadionerlebnis, wie er es liebt, Corona überlebt. Eravamo in centomila alla stadio, wir waren im Stadion unter hunderttausend. Lange her. Im Moment kondensiert nichts.
Hans Ulrich Gumbrecht: Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität. Verlag Vittorio Klostermann, 154 Seiten, 14,80 Euro.
James Montague: 1312: Among the Ultras: A journey with the world's most extreme fans. Ebury Press, 400 Seiten, 20 britische Pfund.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeit zu lesen: Die Masse im Stadion, sie ist wie Jekyll und Hyde. Jetzt hat die Pandemie sie aus dem Spiel genommen - was für ein Verlust.
Von Christoph Becker
Es lässt sich vieles finden in einem leeren Stadion. Meistertitel und Pokalsiege. Die nötigen Werbeflächen für die aktuellen Verträge, jede einzelne ein Treueversprechen auf bessere Zeiten, irgendwann, nach der Pandemie. Jede einzelne zahlt ein auf die Hoffnung, dass das Geld reichen möge bis dahin. Aber die Liebe? Die Liebe eher nicht. Die Liebe findet sich nicht im leeren Stadion, und vielleicht ist das schon die ganze Geschichte.
Hans Ulrich Gumbrecht, emeritierter Stanford-Professor und Sportfan, lässt zum Beweis Adriano Celentano ins alte San Siro treten. San Siro, das Mailänder Stadion, das offiziell seit 1980 Stadio Giuseppe Meazza heißt, wo Rijkaard 1990 Völler anspuckt und Heribert Faßbender Juan Carlos Loustau in die Pampa schicken will. Wo Rummenigge und dann Matthäus, Brehme, Klinsmann bei Inter spielen, Gullitt, Rijkaard und Van Basten aber bei Milan, wo sie mit Arrigo Sacchi den Fußball generalüberholen. Das Mailänder Stadion, ein Monument.
Dass sie in Mailand dieses Stadion nun abreißen dürfen, gibt diesem zertrümmerten Fußballjahr ein baubehördliches Siegel der Kulturlosigkeit. Gumbrecht aber, dessen Denkschrift "Crowds", Massen, zu keinem besseren Zeitpunkt hätte erscheinen können als in der Corona-Saison, lässt gegen Ende seines Buches also den jungen Adriano Celentano ins alte San Siro treten.
Es ist das Jahr 1965. San Siro, das sind zwei Ränge, kein Dach. Der junge Celentano, Mitte zwanzig, bestes Ultra-Alter, wird schier verrückt in seinem Schlager "Eravamo in centomila":
"O bella mora, schöne Brünette, se non sbaglio lei ha visto l'Inter Milan con me. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie mit mir Inter gegen Milan gesehen. Ma come fa lei a non ricordar? Noi eravamo in centomila allo stadio quel di' io dell' I . . ., lei del Mi . . . Wieso erinnern Sie sich nicht? Wir waren im Stadion unter hunderttausend an dem Tag. Ich für Inter. Sie für Milan."
Keine Chance. Nach dem Spiel nimmt sie die Straßenbahn mit einem anderen.
Es gibt ein Video zu dem nun 55 Jahre alten Lied, da verrenkt sich Celentano auf dem Oberrang des San Siro. Auf der Gegentribüne sitzt eine junge Frau und langweilt sich sehr. Sonst ist da niemand. Es könnte das 21. Jahrhundert sein. So wird das nichts. Keine Liebe in San Siro.
Teil von Geschichten werden
Vielleicht war der Fußball noch nie so einsam wie im Frühsommer 2020. Vielleicht erklärt sich die Begeisterung der Massen am Spiel tatsächlich erst im Moment der Leere. Gumbrecht jedenfalls erinnert nicht nur an den jungen Celentano, sondern findet den Ansatz zu seinen Erwägungen über eine Nacht in der Bombonera, dem Stadion der Boca Juniors in Buenos Aires, vor dreißig Jahren. Die Lichter gingen aus, die letzte Führung durch einen der Sehnsuchtsorte des Fußballs verließ das Stadion, Gumbrecht blieb. "Ich richtete mich zum Sitzen und engen Liegen auf halber Höhe ein (. . .) und ließ die kindlichsten Wünsche und ihre Bilder durch meinen Kopf ziehen: Steilpässe für Diego Maradona; mit Tausenden von Boca-Fans singen . . ." Das Stadion lässt ihn für eine Nacht "zum Teil von Geschichten werden, deren Namen und Daten ich nicht kannte".
Welch ein Unterschied zum Corona-Fußball im Hier und Heute, in dem die Massen zwar die Namen und Daten kennen, aber nicht Teil der Geschichten werden können. Zum Fußball, der seinem Publikum den Hall der Gegenwart nicht zumuten möchte, der den Fernsehzuschauern, wie beim Sender NBC in den Vereinigten Staaten bei den Spielen der britischen Premier League, als Audio-Grundeinstellung den von der Computerspielefirma EA Sports eingespielten digitalen Stadionsound vorsetzt. Es mag noch funktionieren, dem Gottesdienst im Fernsehen zu folgen, wenn der Weg in die Kirche zu weit ist oder zu mühselig. Der Gläubige richtet die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits. Das Stadion aber ist Gumbrecht Bühne des Diesseits, das Spiel und die Teilhabe der Fans daran die "kondensierte Form des Lebens". Ohne Masse aber fehlen Druck und Wärme, das Spiel verflüchtigt sich, ohne Spuren zu hinterlassen.
Gumbrechts Dortmunder Borussia, deren Südtribüne das Massenerlebnis schlechthin im deutschen Fußball bietet, holte in den Corona-Spielen neun Punkte weniger als der FC Bayern München. Im Zürcher "Tages-Anzeiger" sagte Gumbrecht dieser Tage: Dass die Bundesliga zum Laufen gebracht wurde, "weil sie als Unternehmen TV-Einkünfte braucht zum Überleben", finde er völlig berechtigt. Gumbrechts Massen hätte man die Spiele auch vollends digital vorsetzen können, die Meisterschaft an der Konsole oder von einem Algorithmus ausspielen lassen können.
Die Pandemie hat die Massen aus dem Spiel genommen, das Ereignis gestrichen, das Gumbrecht "das Bestehen der Masse auf dem Recht ihrer Existenz" nennt, mit guten Gründen. So ist es seit alters her, als im Circus Maximus die Massen den Wagenlenkern zuschauten, deren berühmteste Sieger noch üppiger versorgt wurden als Neymar junior, Messi und Cristiano Ronaldo.
Allzu oft bedarf es keiner Pandemie, es reicht die Sorge der Mächtigen vor einer wie auch immer gearteten Gefahr, der Masse ihre Existenz zu versagen, ob es die Frauen in Iran trifft, die als Teil der Stadionmasse plötzlich weiter gehende Freiheiten ergreifen könnten, oder Ultras, die im Wege einer Kollektivstrafe ausgeschlossen werden. "Ohne ein Risiko von Gewalt gibt es die Energie der Masse nicht": Gumbrechts Plädoyer für das Massenerlebnis leugnet weder den immanenten Gewaltimpuls noch eine Grundsympathie für den Ansatz der Ultras: Nichts wirkt nebensächlich oder entspannt im Stadion.
Hier liegt die logische Schnittstelle zum bislang nur auf Englisch erschienenen Buch "1312 - Among the Ultras" des britischen Reporters James Piotr Montague, dessen Schilderungen der Ultra-Szenen ebenfalls sehr schnell in Südamerika landen, in der Bombonera, bei den Fans der Boca Juniors.
Masse, Gewalt und Politik
Sie, und nicht nur sie, gehen der Politik seit Jahrzehnten zur Hand, gegen Geld und Privilegien im Handel mit Tickets und Drogen, zum Beispiel. Montagues Schilderungen aus Buenos Aires und von der anderen Seite des Río de la Plata, aus Montevideo, seine Reisen auf dem Balkan und unter italienischen Ultras, insbesondere der offen faschistischen Szene von Lazio Rom, erschüttern bisweilen.
Bei Montague wird die Masse, die sich im Stadion sammelt, zur politischen Einheit, lässt sich, schlimmer noch, teils terroristisch inspirieren. Der Lazio-Capo, den Montague spricht, erklärt, es sei zunächst darum gegangen, die Gewalt der "bleiernen Jahre", des politischen Terrors im Italien der siebziger und frühen achtziger Jahre ins Stadion zu tragen. Und nicht nur bei Zeljko Raznatovic, genannt Arkan, Anfang der neunziger Jahre Anführer der serbisch-nationalistisch gesinnten "Delije" bei Crvena Zvezda, Roter Stern Belgrad, und alsbald Kriegsverbrecher, greifen sie zu Waffen. Raznatovic lässt die Delije gegen Bosnier und Kroaten antreten und morden. Die Balkanisierung in all ihrer Grausamkeit und all ihren bisweilen absurden, aber nie irrelevanten Petitessen ist auch eine Geschichte der Fußballfans. Und vor gerade einmal sechs Jahren waren 65 Prozent der Freiwilligen, die im ukrainischen, teils offen rechtsextremen Freiwilligen-Bataillon Asow im Osten des Landes gegen russische Soldaten und prorussische Milizen kämpften, Fußballfans: Ultras aus Kiew, Lemberg, Dnipro und Charkiw.
Auch in Deutschland blickt Montague auf die politischen Auseinandersetzungen, die seit den frühen neunziger Jahren die Ultra-Szenen bewegen, mit beachtlicher Aktualität bis in den Spätsommer 2019. Und natürlich kommt auch er an der Dortmunder Südtribüne nicht vorbei. Hier kreuzen sich die Wege der Autoren noch einmal, wie in der Bombonera in La Boca, Buenos Aires, hier kreuzen sich auch die Gedanken zum inneren und äußeren Ausdruck der Massen. Wo das Leben kondensiert, stehen Jekyll und Hyde. Gumbrecht hat Zweifel, ob das Stadionerlebnis, wie er es liebt, Corona überlebt. Eravamo in centomila alla stadio, wir waren im Stadion unter hunderttausend. Lange her. Im Moment kondensiert nichts.
Hans Ulrich Gumbrecht: Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität. Verlag Vittorio Klostermann, 154 Seiten, 14,80 Euro.
James Montague: 1312: Among the Ultras: A journey with the world's most extreme fans. Ebury Press, 400 Seiten, 20 britische Pfund.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kai Spanke liest Hans Ulrich Gumbrechts Essay mit gemischten Gefühlen. Die Faszination von Massen kann ihm der emeritierte Literaturwissenschaftler primär am Beispiel von Fußballstadien sinnlich und "atmosphärisch" vermitteln, auch das Desiderat eines Diskurses über die Masse anerkennt der Kritiker. Mit Sprüngen zu "Maradona und Nietzsche", "Freud und den Tiller Girls", "Moses und Hitler" und Schwarmverhalten und Primatenforschung gerät ihm der Text aber dann doch zu wenig stringent. Und Gumbrechts forsche Thesen reichen in dem Fall auch nicht für eine sorgsame Analyse, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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