Seine grundlegende Idee, daß der Mensch sich fürchtet vor dem Unbekannten und Unheimlichen aus den unermeßlichen Tiefen des Universums, verwendete Lovecraft erfolgreich bei der Schöpfung seiner Cthulhu-Mythologie, die in den Erzählungen des vorliegenden Bandes Cthulhu das Kernstück bildet. Der Cthulhu-Mythos ist eine Wiederbelebung alter Sagen und Dämonengeschichten im kosmischen Rahmen und stellt eine Verbindung zwischen Weird- und Science-Fiction her.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.1997Verwandeltes Weltall
Wie H. P. Lovecraft seine Leser erschreckt · Von Joachim Kalka
Wir lassen uns gelegentlich gerne erschrecken. Hinter dieser Neigung liegt ein Geheimnis - warum ist das Unangenehme so angenehm? Die vorsichtige Antwort der Psychologie lautet, daß wir es genießen, unter kontrollierten Bedingungen etwas streng stilisiert zu erleben, das uns unverstellt überwältigen würde: eine Homöopathie des Tabuisierten.
Hier können wir es uns demnach im Labor gewisser Gefühle behaglich machen, und die Literatur des Schreckens ist "ein schmaler, wenn auch wesentlicher Zweig der menschlichen Ausdrucksformen", wie es mit charakteristischer Bescheidenheit ein Mann formuliert hat, der wußte, wovon er schrieb: Howard Phillips Lovecraft (1890 bis 1937). Der Suhrkamp Verlag hat nun eine Folge von acht Taschenbüchern, Nachauflagen früherer Veröffentlichungen, mit Texten Lovecrafts neu herausgebracht, teilweise in den schönen Übersetzungen von Michael Walter, durchweg angemessen verdeutscht. Es fehlt in dieser Staffel zwar der allererste Band "Cthulhu", den H. C. Artmann 1968 übersetzt hat, doch ist dieser an anderer Stelle des Verlagsprogramms noch greifbar.
Das Werk, das hier in reicher Auffächerung vorliegt, ist durchaus uneinheitlich und wurzelt sehr entschieden in dem, was schlichtere Zeiten umstandslos "Schmutz und Schund" nannten. Lovecraft hat vor allem in "Weird Tales" publiziert, einem Anfang 1923 für den sich rapid ausdifferenzierenden amerikanischen Markt der unterhaltenden "pulp magazines" gegründeten Periodikum. In diesem Magazin mit seinem Auftrieb von Vampiren, Marsianern und wahnsinnigen Wissenschaftlern, wo der Friedhof stets ein Ort der Geselligkeit ist und Amerika sich auch ohne verfallene Schlösser und Basalte in einen großen Jahrmarkt der Albträume verwandelt, wird Lovecraft rasch zum Leser-Idol.
Er selbst riß immer die schwülstig-erotische Titelseite des Magazins ab, um sich auf der Straße nicht damit sehen lassen zu müssen. Trotzdem stehen seine Phantasien mit der naiven Laszivität dieser Titelbilder in enger Verbindung - durch eine heftig inszenierte Körperlichkeit der Schreckenserfahrung, in seinen Geschichten und seinen privaten Phantasien, die genußvoll ausgekostet wird, am schönsten im Traum. Mit diesen Träumen flieht er bereits aus einer klassisch unglücklich-heimlichen Kindheit - und auch später hat er Grund genug, der Wirklichkeit den Rücken zu kehren; er lebt zurückgezogen, scheu, oft ärmlich. Sein Verhältnis zum Sexus läßt ihn geradezu als tragikomischen Schulfall eines Neurotikers erscheinen. Das geht in den Texten um, in manchmal kruder, gelegentlich verblüffender Maskierung.
Lovecraft hat gegenüber der zeitgenössischen modernen Literatur - das heißt vor allem: gegenüber dem realistischen bis naturalistischen Roman - eine Attitüde der Herablassung kultiviert. In einem typischen Brief (an "Weird Tales") schreibt er 1924: "Man hatte lange auf mich eingeredet, ich solle doch etwas von den bilderstürmerischen modernen Autoren lesen, diesen Jungs, die hinter die Fassaden schauen und schlimme verborgene Motive und geheime Verfehlungen aufdecken. Und ich war über dem zahmen Hintertreppenklatsch von Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio' fast eingeschlafen - . . . " als es mir einfiel, ich selbst könnte wahrscheinlich in meinem bizarren Medium ein Geheimnis um die Herkunft eines Mannes konstruieren, das die schlimmste der Andersonschen Enthüllungen wie den Jahresbericht einer Sonntagsschule erscheinen ließe . . .". Wenn Lovecraft hier in eine Konkurrenz eintreten will, so ist das natürlich ein Mißverständnis. Das "Gewagte" des Naturalismus war aber in der Tat sein Thema, selbst wenn er sich ihm auf dem Umweg der Verdrängung und mit den outrierten Mitteln der "Fantasy" näherte.
Lovecraft ist einsam, schüchtern, unbeholfen, ein manischer Briefschreiber, der ungern sein Refugium verläßt und die großen Städte haßt - das Erlebnis der Straßen von New York führt zu einem förmlichen Paroxysmus rassistischen Ekels (siehe "Grauen in Red Hook"). Er sitzt zu Hause und hängt Tag- und Nachtträumen nach, schreibt epigonale Gedichte mit einzelnen überraschenden Zeilen und stückt in den Magazingeschichten seinen Cthulhu-Mythos zusammen: Unvorstellbar monströse uralte Gottwesen wollen auf die Erde zurückkehren und nicht nur uns, sondern unser gesamtes Weltall verwandeln und vernichten.
Die Cthulhu-Geschichten sind Chroniken einer schleichenden Verderbnis, die aus der Tiefe des Alls, aus dem Inneren der Erde und unter dem Meeresspiegel hervor, aus dem Blut der Menschen und aus ihren Träumen herandringt. Sie konzentriert sich an gewissen uralten Örtlichkeiten des Planeten, in gewissen Büchern moderner Bibliotheken, in halben Andeutungen von Familienchroniken. "Wenn ein Reisender im Norden von Zentral-Massachusetts an der Gabelung der Aylesbury-Landstraße gleich hinter Dean's Corners die falsche Straße nimmt, kommt er in eine öde und eigenartige Gegend."
In Lovecrafts entlegenen Provinzen gibt es Landstriche, zu denen die Behörden alle Wegweiser entfernt haben. (Aber die Neugier findet noch die winzigsten Spuren.) Das Monströse ist ansteckend, dynamisch, es hat assimilierende Kraft. Lovecraft betreibt ein Studium der Genese von Monstren (Wechselbälge, Urenkel, Eingeweihte, Infizierte). Er inszeniert Explosionen feindseliger Fremdheit, die noch in Gigers Ikonographie des "Alien" nachvibrieren. Diese Bilder wirkten auf H. C. Artmann so ungeheuerlich, daß er sich (in "das suchen nach dem gestrigen tag") fragte, ob Lovecraft nicht ein Drogen konsumierender "Narkomane" sein müsse, "denn nüchtern scheint es mir, kann man nicht so schreiben . . . Dieser Herr Lovecraft muß ein recht märchenhafter Mann gewesen sein." Wohl schon, wenn man im Märchenbuch den Blaubart aufschlägt. Dann glaubt man gerne, daß jede Familie ein Zimmer hat, das eigentlich nicht geöffnet werden soll.
"Weil eine alte Tradition meiner Väter mich zu seltsamem Festmahl geladen hatte, war ich entschlossen, merkwürdige Dinge zu erwarten." Der Ekel ist ein Mysterium. Man lasse etwas Speichel aus dem Mund in einen Löffel fließen und löffle ihn sofort wieder in den Mund zurück: Ein Schauer des Widerwillens entsteht. Was ist in dieser einen Sekunde der Entäußerung mit dem Körpersekret geschehen? Das wissen wir nicht so recht. Unwissenheit ist bei Lovecraft immer eine Gnade, eine "selige Immunität" vor dem kosmischen Entsetzen. Hinter solchen Beteuerungen steht Neugier auf das, was so "unsagbar" - das ist Lovecrafts Lieblingswort - fürchterlich ist. Das, was unsagbar ist, muß immer wieder gesagt werden. Aber wie?
Lovecraft hat auf einem Feld gearbeitet, wo er ein völlig ausgeleiertes Material vorfand. Die Chiffren des Phantastischen, die in der Romantik halbverborgen und verwirrend widersprüchlich blieben, waren in der trivialen Phantastik schon längst zum bekannten Nummernkino geworden, sie wurden sofort wiedererkannt und insofern nicht mehr "gelesen": als ob ein Code nicht mehr versteckt, sondern fortlaufend kursiv gedruckt wäre. Lovecraft gelang es, die Topik des Horrors hie und da noch einmal zu verwirren und zu verwischen, im alten Trödelfundus der Monstrositäten ein paar neue (alte) Widersprüche zu verbergen.
Warum sollte man diesen Autor lesen? Weil er oft ein hervorragender, spannender Erzähler ist (wenn auch häufig ein schlechter Stilist). Weil er von gewissen Themen viel versteht, von der Familie zum Beispiel und der Liebe zur Heimat. Vor allem aber vielleicht, weil er in solchen Zusammenhängen eine verräterische Mythologie des Fremden entwirft. Er will den Ekel metaphysisch nehmen und gelangt zu einer Konstruktion des absolut Fremden "von jenseits der Sterne", das sich aber an entscheidenden Stellen als das Vertraute und Ersehnte entlarvt. Neugier ist bei ihm immer unwiderstehlich und verhängnisvoll. Lovecraft ist am eigenartigsten dort, wo er eine Welt des Schreckens auftürmt, um gegen Ende beiläufig die Gewichte zu verschieben: Wenn die Uralten unser gesamtes Universum "rauben" wollen und in "unsägliche" Abgründe entführen, dann ist dies - wie wir plötzlich nebenbei erfahren - nur eine restitutio ad integrum. In jenes Jenseits hat unsere Welt früher einmal hineingehört, wir sind die Usurpatoren, und die entsetzlichen Agenten des kosmischen Wahnsinns beten zu ihren unerhörten Göttern sozusagen mit der Schillerschen Wendung: "Stellen Sie der Menschheit / Verlornen Adel wieder her." Wird so das Menschenbild plötzlich zur Kippfigur, wird unsere Weltsicht am Maßstab der uns entsetzlich erscheinenden Geheimnisse des Universums zur Belanglosigkeit relativiert, dann werden all die so verzweifelt beschworenen "humanen" Prinzipien beliebig - sie verfallen einer schleichenden heimtückischen Auflösung, deren Geheimnis der "Flüsterer im Dunkeln" unverhohlen ausplaudert: Wir "wollen" hinunter. Der Abgrund ist herrlich..
Die Wege, die Lovecraft tief hinab graben wollte, enden gelegentlich nur in leicht peinlichen Geisterbahnkulissen. Man weiß aber nie genau, ob die sich öffnenden Türen in seinen Geschichten den Anblick auf unfreiwillige Komik freigeben werden oder auf etwas seltsam Verwirrendes. Zuweilen führen diese Wege auch in Kavernen voll seltsamer Luftzüge, und der Leser hat den unheimlichen Eindruck jenes unterirdischen Treppengangs im Fels in "Die Ratten in den Mauern", von dem es heißt, daß er "der Richtung der Meißelhiebe zufolge von unten ausgehauen worden sein mußte".
H. P. Lovecraft: "Der Flüsterer im Dunkeln". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. 128 S., 10,80 DM.
"Berge des Wahnsinns". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. 192 S., 12,80 DM.
"Die Katzen von Ulthar". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter. 224 S., 14,80 DM.
"In der Gruft". Makabre Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter. 224 S., 14,80 DM.
"Stadt ohne Namen". Horrorgeschichten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Charlotte Gräfin von Klinckowstroem. Mit einem Nachwort von Dirk W. Mosig. 300 S., 16,80 DM.
"Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath". Erzählung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter. 128 S., 10,80 DM.
"Azathoth". Erzählungen und Schriften. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Franz Rottensteiner. 320 S., 18,80 DM.
"Der Schatten aus der Zeit". Erzählung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. 128 S., 10,80 DM.
Alle broschiert, alle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie H. P. Lovecraft seine Leser erschreckt · Von Joachim Kalka
Wir lassen uns gelegentlich gerne erschrecken. Hinter dieser Neigung liegt ein Geheimnis - warum ist das Unangenehme so angenehm? Die vorsichtige Antwort der Psychologie lautet, daß wir es genießen, unter kontrollierten Bedingungen etwas streng stilisiert zu erleben, das uns unverstellt überwältigen würde: eine Homöopathie des Tabuisierten.
Hier können wir es uns demnach im Labor gewisser Gefühle behaglich machen, und die Literatur des Schreckens ist "ein schmaler, wenn auch wesentlicher Zweig der menschlichen Ausdrucksformen", wie es mit charakteristischer Bescheidenheit ein Mann formuliert hat, der wußte, wovon er schrieb: Howard Phillips Lovecraft (1890 bis 1937). Der Suhrkamp Verlag hat nun eine Folge von acht Taschenbüchern, Nachauflagen früherer Veröffentlichungen, mit Texten Lovecrafts neu herausgebracht, teilweise in den schönen Übersetzungen von Michael Walter, durchweg angemessen verdeutscht. Es fehlt in dieser Staffel zwar der allererste Band "Cthulhu", den H. C. Artmann 1968 übersetzt hat, doch ist dieser an anderer Stelle des Verlagsprogramms noch greifbar.
Das Werk, das hier in reicher Auffächerung vorliegt, ist durchaus uneinheitlich und wurzelt sehr entschieden in dem, was schlichtere Zeiten umstandslos "Schmutz und Schund" nannten. Lovecraft hat vor allem in "Weird Tales" publiziert, einem Anfang 1923 für den sich rapid ausdifferenzierenden amerikanischen Markt der unterhaltenden "pulp magazines" gegründeten Periodikum. In diesem Magazin mit seinem Auftrieb von Vampiren, Marsianern und wahnsinnigen Wissenschaftlern, wo der Friedhof stets ein Ort der Geselligkeit ist und Amerika sich auch ohne verfallene Schlösser und Basalte in einen großen Jahrmarkt der Albträume verwandelt, wird Lovecraft rasch zum Leser-Idol.
Er selbst riß immer die schwülstig-erotische Titelseite des Magazins ab, um sich auf der Straße nicht damit sehen lassen zu müssen. Trotzdem stehen seine Phantasien mit der naiven Laszivität dieser Titelbilder in enger Verbindung - durch eine heftig inszenierte Körperlichkeit der Schreckenserfahrung, in seinen Geschichten und seinen privaten Phantasien, die genußvoll ausgekostet wird, am schönsten im Traum. Mit diesen Träumen flieht er bereits aus einer klassisch unglücklich-heimlichen Kindheit - und auch später hat er Grund genug, der Wirklichkeit den Rücken zu kehren; er lebt zurückgezogen, scheu, oft ärmlich. Sein Verhältnis zum Sexus läßt ihn geradezu als tragikomischen Schulfall eines Neurotikers erscheinen. Das geht in den Texten um, in manchmal kruder, gelegentlich verblüffender Maskierung.
Lovecraft hat gegenüber der zeitgenössischen modernen Literatur - das heißt vor allem: gegenüber dem realistischen bis naturalistischen Roman - eine Attitüde der Herablassung kultiviert. In einem typischen Brief (an "Weird Tales") schreibt er 1924: "Man hatte lange auf mich eingeredet, ich solle doch etwas von den bilderstürmerischen modernen Autoren lesen, diesen Jungs, die hinter die Fassaden schauen und schlimme verborgene Motive und geheime Verfehlungen aufdecken. Und ich war über dem zahmen Hintertreppenklatsch von Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio' fast eingeschlafen - . . . " als es mir einfiel, ich selbst könnte wahrscheinlich in meinem bizarren Medium ein Geheimnis um die Herkunft eines Mannes konstruieren, das die schlimmste der Andersonschen Enthüllungen wie den Jahresbericht einer Sonntagsschule erscheinen ließe . . .". Wenn Lovecraft hier in eine Konkurrenz eintreten will, so ist das natürlich ein Mißverständnis. Das "Gewagte" des Naturalismus war aber in der Tat sein Thema, selbst wenn er sich ihm auf dem Umweg der Verdrängung und mit den outrierten Mitteln der "Fantasy" näherte.
Lovecraft ist einsam, schüchtern, unbeholfen, ein manischer Briefschreiber, der ungern sein Refugium verläßt und die großen Städte haßt - das Erlebnis der Straßen von New York führt zu einem förmlichen Paroxysmus rassistischen Ekels (siehe "Grauen in Red Hook"). Er sitzt zu Hause und hängt Tag- und Nachtträumen nach, schreibt epigonale Gedichte mit einzelnen überraschenden Zeilen und stückt in den Magazingeschichten seinen Cthulhu-Mythos zusammen: Unvorstellbar monströse uralte Gottwesen wollen auf die Erde zurückkehren und nicht nur uns, sondern unser gesamtes Weltall verwandeln und vernichten.
Die Cthulhu-Geschichten sind Chroniken einer schleichenden Verderbnis, die aus der Tiefe des Alls, aus dem Inneren der Erde und unter dem Meeresspiegel hervor, aus dem Blut der Menschen und aus ihren Träumen herandringt. Sie konzentriert sich an gewissen uralten Örtlichkeiten des Planeten, in gewissen Büchern moderner Bibliotheken, in halben Andeutungen von Familienchroniken. "Wenn ein Reisender im Norden von Zentral-Massachusetts an der Gabelung der Aylesbury-Landstraße gleich hinter Dean's Corners die falsche Straße nimmt, kommt er in eine öde und eigenartige Gegend."
In Lovecrafts entlegenen Provinzen gibt es Landstriche, zu denen die Behörden alle Wegweiser entfernt haben. (Aber die Neugier findet noch die winzigsten Spuren.) Das Monströse ist ansteckend, dynamisch, es hat assimilierende Kraft. Lovecraft betreibt ein Studium der Genese von Monstren (Wechselbälge, Urenkel, Eingeweihte, Infizierte). Er inszeniert Explosionen feindseliger Fremdheit, die noch in Gigers Ikonographie des "Alien" nachvibrieren. Diese Bilder wirkten auf H. C. Artmann so ungeheuerlich, daß er sich (in "das suchen nach dem gestrigen tag") fragte, ob Lovecraft nicht ein Drogen konsumierender "Narkomane" sein müsse, "denn nüchtern scheint es mir, kann man nicht so schreiben . . . Dieser Herr Lovecraft muß ein recht märchenhafter Mann gewesen sein." Wohl schon, wenn man im Märchenbuch den Blaubart aufschlägt. Dann glaubt man gerne, daß jede Familie ein Zimmer hat, das eigentlich nicht geöffnet werden soll.
"Weil eine alte Tradition meiner Väter mich zu seltsamem Festmahl geladen hatte, war ich entschlossen, merkwürdige Dinge zu erwarten." Der Ekel ist ein Mysterium. Man lasse etwas Speichel aus dem Mund in einen Löffel fließen und löffle ihn sofort wieder in den Mund zurück: Ein Schauer des Widerwillens entsteht. Was ist in dieser einen Sekunde der Entäußerung mit dem Körpersekret geschehen? Das wissen wir nicht so recht. Unwissenheit ist bei Lovecraft immer eine Gnade, eine "selige Immunität" vor dem kosmischen Entsetzen. Hinter solchen Beteuerungen steht Neugier auf das, was so "unsagbar" - das ist Lovecrafts Lieblingswort - fürchterlich ist. Das, was unsagbar ist, muß immer wieder gesagt werden. Aber wie?
Lovecraft hat auf einem Feld gearbeitet, wo er ein völlig ausgeleiertes Material vorfand. Die Chiffren des Phantastischen, die in der Romantik halbverborgen und verwirrend widersprüchlich blieben, waren in der trivialen Phantastik schon längst zum bekannten Nummernkino geworden, sie wurden sofort wiedererkannt und insofern nicht mehr "gelesen": als ob ein Code nicht mehr versteckt, sondern fortlaufend kursiv gedruckt wäre. Lovecraft gelang es, die Topik des Horrors hie und da noch einmal zu verwirren und zu verwischen, im alten Trödelfundus der Monstrositäten ein paar neue (alte) Widersprüche zu verbergen.
Warum sollte man diesen Autor lesen? Weil er oft ein hervorragender, spannender Erzähler ist (wenn auch häufig ein schlechter Stilist). Weil er von gewissen Themen viel versteht, von der Familie zum Beispiel und der Liebe zur Heimat. Vor allem aber vielleicht, weil er in solchen Zusammenhängen eine verräterische Mythologie des Fremden entwirft. Er will den Ekel metaphysisch nehmen und gelangt zu einer Konstruktion des absolut Fremden "von jenseits der Sterne", das sich aber an entscheidenden Stellen als das Vertraute und Ersehnte entlarvt. Neugier ist bei ihm immer unwiderstehlich und verhängnisvoll. Lovecraft ist am eigenartigsten dort, wo er eine Welt des Schreckens auftürmt, um gegen Ende beiläufig die Gewichte zu verschieben: Wenn die Uralten unser gesamtes Universum "rauben" wollen und in "unsägliche" Abgründe entführen, dann ist dies - wie wir plötzlich nebenbei erfahren - nur eine restitutio ad integrum. In jenes Jenseits hat unsere Welt früher einmal hineingehört, wir sind die Usurpatoren, und die entsetzlichen Agenten des kosmischen Wahnsinns beten zu ihren unerhörten Göttern sozusagen mit der Schillerschen Wendung: "Stellen Sie der Menschheit / Verlornen Adel wieder her." Wird so das Menschenbild plötzlich zur Kippfigur, wird unsere Weltsicht am Maßstab der uns entsetzlich erscheinenden Geheimnisse des Universums zur Belanglosigkeit relativiert, dann werden all die so verzweifelt beschworenen "humanen" Prinzipien beliebig - sie verfallen einer schleichenden heimtückischen Auflösung, deren Geheimnis der "Flüsterer im Dunkeln" unverhohlen ausplaudert: Wir "wollen" hinunter. Der Abgrund ist herrlich..
Die Wege, die Lovecraft tief hinab graben wollte, enden gelegentlich nur in leicht peinlichen Geisterbahnkulissen. Man weiß aber nie genau, ob die sich öffnenden Türen in seinen Geschichten den Anblick auf unfreiwillige Komik freigeben werden oder auf etwas seltsam Verwirrendes. Zuweilen führen diese Wege auch in Kavernen voll seltsamer Luftzüge, und der Leser hat den unheimlichen Eindruck jenes unterirdischen Treppengangs im Fels in "Die Ratten in den Mauern", von dem es heißt, daß er "der Richtung der Meißelhiebe zufolge von unten ausgehauen worden sein mußte".
H. P. Lovecraft: "Der Flüsterer im Dunkeln". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. 128 S., 10,80 DM.
"Berge des Wahnsinns". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. 192 S., 12,80 DM.
"Die Katzen von Ulthar". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter. 224 S., 14,80 DM.
"In der Gruft". Makabre Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter. 224 S., 14,80 DM.
"Stadt ohne Namen". Horrorgeschichten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Charlotte Gräfin von Klinckowstroem. Mit einem Nachwort von Dirk W. Mosig. 300 S., 16,80 DM.
"Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath". Erzählung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Walter. 128 S., 10,80 DM.
"Azathoth". Erzählungen und Schriften. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Franz Rottensteiner. 320 S., 18,80 DM.
"Der Schatten aus der Zeit". Erzählung. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Hermstein. 128 S., 10,80 DM.
Alle broschiert, alle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main