Der Autor als Sisyphus – Walter Kempowskis Tagebuchnotizen zum "Echolot".
Grandios, spektakulär, einzigartig: Welcher gewaltigen Lebensleistung das gefeierte Geschichtswerk "Das Echolot" zu verdanken ist, enthüllt Walter Kempowski in seinen Werknotizen. Diese werden ergänzt durch Kommentare seiner damaligen Mitarbeiterin Simone Neteler. In einem Nachwort beschreibt Walter Kempowskis langjähriger Lektor Karl Heinz Bittel das Entstehen des Projekts aus seiner Sicht.
Walter Kempowskis 1993 erschienener erster Teil vom "Echolot" wurde zu einem der spektakulärsten Bucherfolge der 90er Jahre. Kaum lässt sich beim Betrachten der vier gewichtigen Bände erahnen, welches gewaltige Ausmaß des Sammelns, des Archivierens und des Ringens um die richtige Form bis zum Erscheinen des Werks zu bewältigen waren. Walter Kempowski hat den Prozess der Entstehung von der ersten Idee an über vielerlei Anfechtungen und Krisen hinweg bis zur Publikation in seinen Tagebüchern genau protokolliert. Seine Aufzeichnungen gestatten einen intimen Einblick in die Werkstatt des Schriftstellers. "Culpa" verzeichnet jede einzelne Phase der sich wandelnden Konzeption, bis die endgültige Form der Komposition feststand. Ungeschönt und subjektiv berichtet das Buch von dem nicht immer reibungsfreien Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Verlag, der die ökonomische Seite des Projekts nicht aus den Augen verlieren durfte.
Grandios, spektakulär, einzigartig: Welcher gewaltigen Lebensleistung das gefeierte Geschichtswerk "Das Echolot" zu verdanken ist, enthüllt Walter Kempowski in seinen Werknotizen. Diese werden ergänzt durch Kommentare seiner damaligen Mitarbeiterin Simone Neteler. In einem Nachwort beschreibt Walter Kempowskis langjähriger Lektor Karl Heinz Bittel das Entstehen des Projekts aus seiner Sicht.
Walter Kempowskis 1993 erschienener erster Teil vom "Echolot" wurde zu einem der spektakulärsten Bucherfolge der 90er Jahre. Kaum lässt sich beim Betrachten der vier gewichtigen Bände erahnen, welches gewaltige Ausmaß des Sammelns, des Archivierens und des Ringens um die richtige Form bis zum Erscheinen des Werks zu bewältigen waren. Walter Kempowski hat den Prozess der Entstehung von der ersten Idee an über vielerlei Anfechtungen und Krisen hinweg bis zur Publikation in seinen Tagebüchern genau protokolliert. Seine Aufzeichnungen gestatten einen intimen Einblick in die Werkstatt des Schriftstellers. "Culpa" verzeichnet jede einzelne Phase der sich wandelnden Konzeption, bis die endgültige Form der Komposition feststand. Ungeschönt und subjektiv berichtet das Buch von dem nicht immer reibungsfreien Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Verlag, der die ökonomische Seite des Projekts nicht aus den Augen verlieren durfte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005Die Archive des Grauens
Schlußchor: Walter Kempowski beendet sein "Echolot" im Mai 1945 / Von Hannes Hintermeier
Die Frage ist: Warum stecke ich soviel Energie in das ,Echolot' und dessen Verwandte? Es ist ein Gefühl für Gerechtigkeit. Ich habe den Eindruck, daß man der Generation, die in diese Zeit hineingeboren ist, nicht gerecht geworden ist."
Als sich Walter Kempowski diese Frage im Oktober 1992 stellt, steht das Projekt eines kollektiven Tagebuchs schon in seinem fünfzehnten Jahr - und nur noch ein Jahr vor Veröffentlichung der ersten, hymnisch begrüßten Lieferung. Nun, zwölf Jahre und zehn Bände später, liegt mit dem "Abgesang '45" der Schlußstein der monumentalen Collage vor. Man kann das durchaus als Aufforderung nehmen; selbst Leser, die mit dem "Echolot" nicht vertraut sind, kämen mit diesem Band sofort zurecht. Denn hier, so scheint es, hat der Konzentrationsgrad seine höchste Verdichtung erfahren. Kempowski beschränkt sich in vier Kapiteln auf fünf Tage, die das Ende des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkrieges markieren: der 20., 25. und 30. April, sowie die Tage des Kriegsendes, 8. und 9. Mai.
Das Montageverfahren aus bekannten und unbekannten Quellen, aus Tagebüchern, Dokumenten, Briefen, Memoiren ist gleichgeblieben, sein Effekt hat sich jedoch nicht abgenutzt. Man hat gegen ein solche Aufbereitung des Materials eingewendet, sie erkläre zu wenig, ordne und strukturiere nicht genug. Dahinter steht die falsche Annahme, Kempowski wolle irgend etwas beweisen. Er will aber nur zeigen, und dieses "nur" hat es in sich. Es ist die eigentliche Auswahlleistung des Sammlers, der als Schriftsteller agiert, der Textfunde so montiert, als seien sie unverrückbare Bausteines eines Bildes, dessen Komposition nur der Künstler kennt. Wir folgen keinem Historiker, sondern einem von der Sprache Besessenen, der die Stimmen der Toten hört und ihnen Raum gibt.
Kempowskis Suchscheinwerfer leuchtet zu Beginn den letzten Geburtstag des "Führers" aus: Hitler im Bunker zu Berlin, langsam, aber sicher in Agonie versinkend. Seiner Sekretärin erklärt er, er brauche sie gesund, weil er eine Widerstandsbewegung gründen wolle. Während Goebbels in seiner Geburtstagsrede noch ein letztes Mal den ganzen Irrsinn seiner Phraseologie vorführt - "Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war - unser Hitler!" - spielt jener mit einem Welpen namens "Wolf", während Reichsmarschall Göring ziemlich durchsichtig an seinem Abgang arbeitet.
Die Russen stehen vor der Tür, sie dringen mit jeder Stunde weiter auf Berlin vor. Im Hotel Adlon wird derweil noch Betrieb gespielt; der belgische Kommandeur der Waffen-SS Léon Degrelle, der nach dem Krieg als Geschäftsmann in Spanien lebte, notiert ungerührt über ein spätes Abendessen im Adlon: "Es war wirklich schön. Die Haltung der Deutschen, ihre Selbstbeherrschung und das Gefühl für Disziplin bis in die sonderlichsten Einzelheiten hinein und bis zum letzten Augenblick werden für alle, die das Ende des Dritten Reichs erlebt haben, eine großartige menschliche Erinnerung bleiben."
Mit der Selbstbeherrschung ist es aber in der Bevölkerung nicht mehr allzuweit her. Aus Angst vor der Roten Armee wählen Tausende den Freitod. Der einundzwanzigjährigen Friederike Grensemann sagt der Vater: "Es ist aus, mein Kind, verspreche mir, daß Du Dich erschießt, wenn die Russen kommen, sonst habe ich keine ruhige Minute mehr." Andere versuchen mit letzter Kraft, den Lebensfaden nicht abreißen zu lassen. Die Todesmärsche sind in vollem Gange, die Konzentrationslager werden befreit und das Grauen, das sich den Soldaten dort bietet, ist, wie der britische Lieutenant Michael Gow notiert, "der entsetzlichste Anblick, den ich je gesehen habe oder je sehen werde."
In Mailand schwadroniert zur gleichen Stunde Mussolini in einem Interview, daß ein "unbeirrbarer Junger" kommen und die Mission des Faschismus erfüllen werde - ganz ähnlich im Wortlaut wie Hitler, der wenige Tage später in seinem politischen Testament angeben wird, er habe wohl dem deutschen Volk zuviel zugemutet; es sei noch nicht reif gewesen.
Am 25. April treffen Amerikaner und Russen bei Torgau an der Elbe aufeinander. Wie ein zarter roter Faden zieht sich jetzt in vielen Aufzeichnungen der Anbruch des Frühlings durch, die Welt erneuert sich, während sie gleichzeitig untergeht. Der Obersalzberg zerstiebt im Bombenhagel, Thomas Mann notiert dazu reichlich onduliert im fernen Kalifornien: "Schwerstes Luft-Bombardement von Hitlers Siedelung bei Berchtesgaden, die zerstört wurde. War er dort, mag er tot sein."
An die Zustände im Kriegsgefangenenlager Bad Kreuznach, wo Tausende von deutschen Soldaten in einem Drahtkäfig ungeschützt Regen, Kälte und Ruhr ausgesetzt sind, erinnert sich der Theologe Gerhard von Rad, den man 1944 eingezogen hatte: "Es gehörte für mich zu den wichtigsten Erlebnissen der Lagerzeit, diese äußersten und letzten Möglichkeiten auf dem Wege des Menschen, von denen die Bibel zwar offen redet, die wir Theologen aber doch immer etwas umgangen haben, so als nackte Wirklichkeit bestätigt zu sehen." Im Führerbunker überreicht Hitler mit dem Ausduck des Bedauerns seiner Sekretärin Traudl Junge eine Kapsel Zyankali.
Alles immer zur gleichen Zeit und neben- und übereinander, und erst diese Gleichzeitigkeit von Untergang und Neuanfang, die Atempausen inmitten des Infernos, ergeben das Bild, von dem man sich kaum lösen kann. Schuld? Kollektivschuld? Grete Paquin in Geismar bei Göttingen beschreibt die politischen Metamorphosen, die in diesen Tagen nicht nur Nazi-Bonzen und hochrangige Offiziere durchlaufen, sondern auch der normale Volksdeutsche: "Ein dicker Bäckermeister, der mit lautem ,Heil Hitler!' anwortete, wenn ich ,Guten Morgen' sagte, erklärte neulich seiner Kundschaft: ,Endlich kann ich aufatmen. jahrelang stand die Gestapo mit dem Revolver hinter mir.'" Erich Kästner notiert im österreichischen Mayrhofen: "Die Unschuld grassiert wie die Pest."
Am 30. April verstößt Hitler Göring und Himmler aus der Partei und aus allen Ämtern. Er heiratet Eva Braun und begeht mit ihr am gleichen Tag Selbstmord. Seinem Kammerdiener Heinz Linge sagt er: "Linge, ich werde mich jetzt erschießen. Sie wissen, was Sie zu tun haben . . ." Linge wußte es, und der Oberwachtmeister Hermann Karnau beschreibt die Folgen - "da liegt Adolf Hitler jetzt. Er brennt. Ich habe diese Stelle verlassen (...) und traf an der Treppe den Sturmbannführer Stedle, der mir bestätigte, daß der Chef hinter dem Haus im Garten der Reichskanzlei brennt."
Es gibt neben diesen Momenten unfreiwilliger Komik auch Passagen, die ein Durchatmen ermöglichen. Bei den Siegesfeiern in London lobt etwa der Dichter John Masefield gegenüber Churchills Leibarzt Lord Moran die Ansprache des Premiers mit der Bemerkung: "Lloyd George wäre bestimmt pathetisch geworden." Und eine unbekannte Miss Fisher notiert zu den Siegesfeiern in Whitehall: "Ein außerordentlich schöner Abend, der nicht vergessen werden wird." Aber im Zentrum stehen die Flüchtlinge aus dem Osten, die Fremdarbeiter, die in den Osten zurückdrängen, die Kriegsgefangenen, die demoralisierten Armeen, die zerbombten Städte. Marodierende Russen, deren wichtigstes Beutegut Frauen, Schnaps und Uhren sind.
Ausführlich protokolliert Kempowski am Ende die Kapitulation: Generalfeldmarschall Wilhelm Keitels Auftritt gegenüber dem sowjetischen General Georgij Shukow wird aus allen verfügbaren Blickwinkeln geschildert. Ein gespenstisches letztes Aufflackern. Am 9. Mai um 0.43 Uhr ist die bedingungslose Kapitulation in Berlin unterschrieben. Für das "aus zahllosen Wunden blutende Vaterland", wie es im letzten Wehrmachtsbericht heißt, beginnt eine neue Geschichte.
Auch für Walter Kempowski ist mit der Vollendung des "Echolot" eine Geschichte zu Ende gegangen. Daß erst dieses Mammutunternehmen ihm jene Anerkennung brachte, die man ihm lange Jahre aus zweifelhaften ideologischen Unterströmungen heraus versagt hatte, mag ihn nur teilweise entschädigen. Seine "Culpa"-Notizen zeigen ihn als konsequenten Verwirklicher seines großen Werkplans. Gewohnt gewitzt dokumentiert er hier die Schinderei der Archiv- und Sammelarbeit; die Querelen mit dem Verlag, die Selbstzweifel. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich dies weniger vergnüglich liest als die Tagebücher "Sirius" (1990) und "Alkor" (2001). Lob gebührt auch der Beharrlichkeit des Verlages, der half, das "Echolot" zu einem guten Ende zu bringen. Wie schwierig das beizeiten war, deutet das Nachwort des langjährigen Kempowski-Lektors Karl Heinz Bittel an. Daß sich die Mühe gelohnt hat, steht außer Frage.
Walter Kempowski: "Das Echolot". Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 485 S., geb., 49,90 [Euro];
Ders.: "Culpa". Notizen zum Echolot. Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 384 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlußchor: Walter Kempowski beendet sein "Echolot" im Mai 1945 / Von Hannes Hintermeier
Die Frage ist: Warum stecke ich soviel Energie in das ,Echolot' und dessen Verwandte? Es ist ein Gefühl für Gerechtigkeit. Ich habe den Eindruck, daß man der Generation, die in diese Zeit hineingeboren ist, nicht gerecht geworden ist."
Als sich Walter Kempowski diese Frage im Oktober 1992 stellt, steht das Projekt eines kollektiven Tagebuchs schon in seinem fünfzehnten Jahr - und nur noch ein Jahr vor Veröffentlichung der ersten, hymnisch begrüßten Lieferung. Nun, zwölf Jahre und zehn Bände später, liegt mit dem "Abgesang '45" der Schlußstein der monumentalen Collage vor. Man kann das durchaus als Aufforderung nehmen; selbst Leser, die mit dem "Echolot" nicht vertraut sind, kämen mit diesem Band sofort zurecht. Denn hier, so scheint es, hat der Konzentrationsgrad seine höchste Verdichtung erfahren. Kempowski beschränkt sich in vier Kapiteln auf fünf Tage, die das Ende des "Dritten Reiches" und des Zweiten Weltkrieges markieren: der 20., 25. und 30. April, sowie die Tage des Kriegsendes, 8. und 9. Mai.
Das Montageverfahren aus bekannten und unbekannten Quellen, aus Tagebüchern, Dokumenten, Briefen, Memoiren ist gleichgeblieben, sein Effekt hat sich jedoch nicht abgenutzt. Man hat gegen ein solche Aufbereitung des Materials eingewendet, sie erkläre zu wenig, ordne und strukturiere nicht genug. Dahinter steht die falsche Annahme, Kempowski wolle irgend etwas beweisen. Er will aber nur zeigen, und dieses "nur" hat es in sich. Es ist die eigentliche Auswahlleistung des Sammlers, der als Schriftsteller agiert, der Textfunde so montiert, als seien sie unverrückbare Bausteines eines Bildes, dessen Komposition nur der Künstler kennt. Wir folgen keinem Historiker, sondern einem von der Sprache Besessenen, der die Stimmen der Toten hört und ihnen Raum gibt.
Kempowskis Suchscheinwerfer leuchtet zu Beginn den letzten Geburtstag des "Führers" aus: Hitler im Bunker zu Berlin, langsam, aber sicher in Agonie versinkend. Seiner Sekretärin erklärt er, er brauche sie gesund, weil er eine Widerstandsbewegung gründen wolle. Während Goebbels in seiner Geburtstagsrede noch ein letztes Mal den ganzen Irrsinn seiner Phraseologie vorführt - "Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war - unser Hitler!" - spielt jener mit einem Welpen namens "Wolf", während Reichsmarschall Göring ziemlich durchsichtig an seinem Abgang arbeitet.
Die Russen stehen vor der Tür, sie dringen mit jeder Stunde weiter auf Berlin vor. Im Hotel Adlon wird derweil noch Betrieb gespielt; der belgische Kommandeur der Waffen-SS Léon Degrelle, der nach dem Krieg als Geschäftsmann in Spanien lebte, notiert ungerührt über ein spätes Abendessen im Adlon: "Es war wirklich schön. Die Haltung der Deutschen, ihre Selbstbeherrschung und das Gefühl für Disziplin bis in die sonderlichsten Einzelheiten hinein und bis zum letzten Augenblick werden für alle, die das Ende des Dritten Reichs erlebt haben, eine großartige menschliche Erinnerung bleiben."
Mit der Selbstbeherrschung ist es aber in der Bevölkerung nicht mehr allzuweit her. Aus Angst vor der Roten Armee wählen Tausende den Freitod. Der einundzwanzigjährigen Friederike Grensemann sagt der Vater: "Es ist aus, mein Kind, verspreche mir, daß Du Dich erschießt, wenn die Russen kommen, sonst habe ich keine ruhige Minute mehr." Andere versuchen mit letzter Kraft, den Lebensfaden nicht abreißen zu lassen. Die Todesmärsche sind in vollem Gange, die Konzentrationslager werden befreit und das Grauen, das sich den Soldaten dort bietet, ist, wie der britische Lieutenant Michael Gow notiert, "der entsetzlichste Anblick, den ich je gesehen habe oder je sehen werde."
In Mailand schwadroniert zur gleichen Stunde Mussolini in einem Interview, daß ein "unbeirrbarer Junger" kommen und die Mission des Faschismus erfüllen werde - ganz ähnlich im Wortlaut wie Hitler, der wenige Tage später in seinem politischen Testament angeben wird, er habe wohl dem deutschen Volk zuviel zugemutet; es sei noch nicht reif gewesen.
Am 25. April treffen Amerikaner und Russen bei Torgau an der Elbe aufeinander. Wie ein zarter roter Faden zieht sich jetzt in vielen Aufzeichnungen der Anbruch des Frühlings durch, die Welt erneuert sich, während sie gleichzeitig untergeht. Der Obersalzberg zerstiebt im Bombenhagel, Thomas Mann notiert dazu reichlich onduliert im fernen Kalifornien: "Schwerstes Luft-Bombardement von Hitlers Siedelung bei Berchtesgaden, die zerstört wurde. War er dort, mag er tot sein."
An die Zustände im Kriegsgefangenenlager Bad Kreuznach, wo Tausende von deutschen Soldaten in einem Drahtkäfig ungeschützt Regen, Kälte und Ruhr ausgesetzt sind, erinnert sich der Theologe Gerhard von Rad, den man 1944 eingezogen hatte: "Es gehörte für mich zu den wichtigsten Erlebnissen der Lagerzeit, diese äußersten und letzten Möglichkeiten auf dem Wege des Menschen, von denen die Bibel zwar offen redet, die wir Theologen aber doch immer etwas umgangen haben, so als nackte Wirklichkeit bestätigt zu sehen." Im Führerbunker überreicht Hitler mit dem Ausduck des Bedauerns seiner Sekretärin Traudl Junge eine Kapsel Zyankali.
Alles immer zur gleichen Zeit und neben- und übereinander, und erst diese Gleichzeitigkeit von Untergang und Neuanfang, die Atempausen inmitten des Infernos, ergeben das Bild, von dem man sich kaum lösen kann. Schuld? Kollektivschuld? Grete Paquin in Geismar bei Göttingen beschreibt die politischen Metamorphosen, die in diesen Tagen nicht nur Nazi-Bonzen und hochrangige Offiziere durchlaufen, sondern auch der normale Volksdeutsche: "Ein dicker Bäckermeister, der mit lautem ,Heil Hitler!' anwortete, wenn ich ,Guten Morgen' sagte, erklärte neulich seiner Kundschaft: ,Endlich kann ich aufatmen. jahrelang stand die Gestapo mit dem Revolver hinter mir.'" Erich Kästner notiert im österreichischen Mayrhofen: "Die Unschuld grassiert wie die Pest."
Am 30. April verstößt Hitler Göring und Himmler aus der Partei und aus allen Ämtern. Er heiratet Eva Braun und begeht mit ihr am gleichen Tag Selbstmord. Seinem Kammerdiener Heinz Linge sagt er: "Linge, ich werde mich jetzt erschießen. Sie wissen, was Sie zu tun haben . . ." Linge wußte es, und der Oberwachtmeister Hermann Karnau beschreibt die Folgen - "da liegt Adolf Hitler jetzt. Er brennt. Ich habe diese Stelle verlassen (...) und traf an der Treppe den Sturmbannführer Stedle, der mir bestätigte, daß der Chef hinter dem Haus im Garten der Reichskanzlei brennt."
Es gibt neben diesen Momenten unfreiwilliger Komik auch Passagen, die ein Durchatmen ermöglichen. Bei den Siegesfeiern in London lobt etwa der Dichter John Masefield gegenüber Churchills Leibarzt Lord Moran die Ansprache des Premiers mit der Bemerkung: "Lloyd George wäre bestimmt pathetisch geworden." Und eine unbekannte Miss Fisher notiert zu den Siegesfeiern in Whitehall: "Ein außerordentlich schöner Abend, der nicht vergessen werden wird." Aber im Zentrum stehen die Flüchtlinge aus dem Osten, die Fremdarbeiter, die in den Osten zurückdrängen, die Kriegsgefangenen, die demoralisierten Armeen, die zerbombten Städte. Marodierende Russen, deren wichtigstes Beutegut Frauen, Schnaps und Uhren sind.
Ausführlich protokolliert Kempowski am Ende die Kapitulation: Generalfeldmarschall Wilhelm Keitels Auftritt gegenüber dem sowjetischen General Georgij Shukow wird aus allen verfügbaren Blickwinkeln geschildert. Ein gespenstisches letztes Aufflackern. Am 9. Mai um 0.43 Uhr ist die bedingungslose Kapitulation in Berlin unterschrieben. Für das "aus zahllosen Wunden blutende Vaterland", wie es im letzten Wehrmachtsbericht heißt, beginnt eine neue Geschichte.
Auch für Walter Kempowski ist mit der Vollendung des "Echolot" eine Geschichte zu Ende gegangen. Daß erst dieses Mammutunternehmen ihm jene Anerkennung brachte, die man ihm lange Jahre aus zweifelhaften ideologischen Unterströmungen heraus versagt hatte, mag ihn nur teilweise entschädigen. Seine "Culpa"-Notizen zeigen ihn als konsequenten Verwirklicher seines großen Werkplans. Gewohnt gewitzt dokumentiert er hier die Schinderei der Archiv- und Sammelarbeit; die Querelen mit dem Verlag, die Selbstzweifel. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich dies weniger vergnüglich liest als die Tagebücher "Sirius" (1990) und "Alkor" (2001). Lob gebührt auch der Beharrlichkeit des Verlages, der half, das "Echolot" zu einem guten Ende zu bringen. Wie schwierig das beizeiten war, deutet das Nachwort des langjährigen Kempowski-Lektors Karl Heinz Bittel an. Daß sich die Mühe gelohnt hat, steht außer Frage.
Walter Kempowski: "Das Echolot". Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 485 S., geb., 49,90 [Euro];
Ders.: "Culpa". Notizen zum Echolot. Albrecht Knaus Verlag, München 2005. 384 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Kempowski-Tagebücher "Sirius" (1990) und "Alkor" (2001) vergnüglicher lesen als "Culpa", sinniert Hannes Hintermeier, ohne nun genauer darzulegen, worin denn nun dieses Vergnügen bestanden hat. "Culpa" sei jedenfalls ein Arbeitstagebuch, das seinen Verfasser als umtriebigen Verfolger eines großen Werkplans bestätige. Mit all den dazugehörigen Querelen (zum Beispiel mit dem Verlag), so Hintermeier, mit all der dazugehörigen Plackerei und Mühsal, die trockene Archiv- und Sammelarbeit mit sich bringt. Aber auch Kempowskis Selbstzweifel tauchten darin auf, denn schließlich wurde der Mann jahrelang auch aus dubiosen ideologischen Unterströmungen heraus, so Hintermeier, belächelt oder gar angefeindet. Erst jetzt erhalte Kempowski die verdiente Anerkennung und insofern verdiene unbedingt auch sein Verlag ein Lob, der schließlich über lange Jahre seinem Autor die Treue gehalten habe. Dass dieses Treuebündnis auch auf die Probe gestellt wurde, entnimmt Hintermeier dem Nachwort von Kempwoskis langjährigem Lektor Karl Heinz Bittel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Walter Kempowski ist ein Bibliothekar der Erinnerung." Süddeutsche Zeitung
"Wenn die Welt noch Augen hat zu sehen, wird sie im 'Echolot' eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken." Frankfurter Allgemeine Zeitung