Die gegenwärtigen Kulturwissenschaften bilden eine ausgeprägte Theorie- und Forschungslandschaft. Ihre Dynamik entspringt vor allem dem Spannungsfeld wechselnder «cultural turns» quer durch die Disziplinen:- interpretive turn- performative turn,- reflexive turn/literary turn,- postcolonial turn,- translational turn,- spatial turn,- iconic turn.Der Band stellt diese «Wenden» in ihren systematischen Fragestellungen, Erkenntnisumbrüchen sowie Wechselbeziehungen vor und zeigt ihre Anwendung in konkreten Forschungsfeldern. Damit wird eine «Kartierung» der neueren Kulturwissenschaften geleistet und zugleich ein umfassender Überblick über ihre Entwicklungen und Ausrichtungen geboten - mit einer Fülle verarbeiteter internationaler Forschungsliteratur.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2006Keine Wende ohne Migrationshintergrund
Immer die Identität behalten: Doris Bachmann-Medicks empfehlenswerte Einführung in die Theorien der Kulturwissenschaften
In den Vereinigten Staaten gilt die klassische Ethnologie als Bevormundung anderer Kulturen durch die Weißen. Mit den "Cultural Studies" kam die Wende. Wo aber stehen die Kulturwissenschaften hierzulande?
In einigen unserer Universitäten wird heute ein Fach gelehrt, das sich als Kulturwissenschaft bezeichnet und sich an den in den Vereinigten Staaten in den letzten beiden Jahrzehnten populär gewordenen "Cultural Studies" orientiert. Mit dem, was man bei uns unter Kulturwissenschaften versteht, haben die amerikanischen "Cultural Studies" nicht viel zu tun. Ihr Erfolg läßt sich nur vor der ethnischen Heterogenität der amerikanischen Gesellschaft verstehen.
Aus der Distanz betrachtet, stellen die "Cultural Studies" eine Integrationswissenschaft dar, die den Angehörigen der Minderheiten die Möglichkeit gibt, ihre Interessen zu artikulieren und sich mit den Kulturen ihrer Herkunftsländer zu beschäftigen. Die klassische "Cultural Anthropology" oder Ethnologie ist hierüber in den Vereinigten Staaten ins Hintertreffen geraten. Ihr Anspruch, der weißen Mehrheitsbevölkerung die Lebensformen nichtwestlicher Kulturen näherzubringen, wird von den intellektuellen Wortführern dieser Kulturen heute als ein Akt der Bevormundung angesehen.
Ausgelöst worden war diese Debatte durch Edward Saids Orientalismus-Studie, das Manifest des Postkolonialismus, die ihren in Palästina geborenen und in den Vereinigten Staaten aufgewachsenen Autor zu einem der Gründungsväter der "Cultural Studies" werden ließ. Seine Angriffe führten zu einer Wende in der Ethnologie, die als Repräsentationskrise in die neuere Geschichte des Faches Eingang fand.
Saids Vorwürfe wären nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, hätte es nicht in den siebziger Jahren in der Ethnologie eine Abkehr von den naturwissenschaftlich inspirierten Modellen funktionalistischer, neoevolutionistischer und kulturmaterialistischer Prägung gegeben. Diese wissenschaftliche Kehre war wesentlich mit den Namen von Clifford Geertz und Victor Turner verbunden.
Geertz' Metapher von "Kultur als Text" und sein Konzept der "dichten Beschreibung" versprachen neue Sichtweisen. Dankbar wurden sie von den Nachbarwissenschaften, insbesondere der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft, aufgegriffen, welche die entstehenden "Cultural Studies" beeinflußten. Der britische Ethnologe Victor Turner, der seit 1963 in den Vereinigten Staaten lehrte, nahm Anregungen aus der zeitgenössischen Aktions- und Happeningkunst auf, die er auf seine Ritualtheorie und auf philosophische Handlungstheorien bezog, um mit den Begriffen Performanz und Performativität kulturwissenschaftliche Konzepte aus der Taufe zu heben. Von der Theaterwissenschaft gefeiert, blieb Turners performative Wende im eigenen Fach von geringerer Resonanz.
Geertz' Ansatz wurde von zahlreichen jüngeren Ethnologen aufgegriffen, die sich aber bald wieder von ihm abwandten. Unter dem Eindruck von Saids radikalerer Position versuchten sie, die politischen Verhältnisse zu analysieren, die der Konstitution ethnographischer Texte zugrunde liegen, und deren Strategien und rhetorische Mittel aufzudecken. Im Licht der Writing-Culture-Debatte der achtziger Jahre erschien Geertz nur als eine jener klassischen ethnographischen Autoritäten, die den Dialog mit den Untersuchten verweigerten.
Durch diese Kritik bereiteten George Marcus, James Clifford, Steven Tylor und Vincent Crapanzano dem Aufstieg der Cultural Studies erst das Feld. Es kam zum "postcolonial turn". Die Literaturwissenschaft löste die Ethnologie als Leitwissenschaft ab. Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak wurden zum "Dreigestirn" der postkolonialen Bewegung. Sie erhoben einen politischen Anspruch, den sie durch ihre Herkunft aus nichtwestlichen Kulturen legitimierten. An die Stelle der Repräsentation durch andere tritt die Repräsentation der marginalisierten Gruppen durch ihre eigenen Wortführer. Ethnizität, Rasse und Geschlecht werden zu den bevorzugten Forschungsfeldern, Identität, Hybridität und "Dritter Raum" zu den zentralen Begriffen.
Doris Bachmann-Medicks Buch gibt eine hervorragende Einführung in die kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten dreißig Jahre. Sie zeigt insbesondere, wie die "cultural turns" die Entwicklung vorantrieben. Diese "wissenschaftlichen Wenden" dürfe man nicht mit Paradigmen im Sinn der Kuhnschen Wissenschaftstheorie verwechseln. Sie bezeichneten weniger grundsätzliche Kehren als vielmehr einen Wechsel der Blickrichtung, der zu erheblichen Konsequenzen führte und neue Perspektiven auch in den benachbarten Fächern öffnete. Falsch wäre es, hinter den wechselnden Fokussierungen auf neue Forschungsfelder ein Fortschreiten der Kulturwissenschaften erkennen zu wollen. Vielmehr hätten sich die einzelnen "turns" oft gleichzeitig entwickelt und überlappten sich bis heute auch gegenseitig.
Wenn es sich bei den beschriebenen Vorgängen also weder um die Ersetzung von älteren Paradigmen noch um wirkliche Kehren handelt, stellt sich die Frage, ob wir es mit wissenschaftlichen Moden zu tun haben. Ganz kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren, wenn man verfolgt, in welcher Windeseile auch nach der großen postkolonialen Wende immer wieder neue "cultural turns" propagiert worden sind. "Turn" - dieser von der Verfasserin verwendete und etwas befremdliche Anglizismus wäre insofern angemessen.
Da ist etwa der "translational turn", der sich mit den Transfer- und Austauschprozessen zwischen den Kulturen befaßt und Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" ein Gegenkonzept entgegenzustellen versucht. Eine Abkehr von der den wissenschaftlichen Diskurs lange beherrschenden Kategorie der Zeit leitete der "spatial turn" ein, der den Raum und räumliche Übertragungsprozesse als zentrale Kategorien entdeckt. Die jüngste Wende ist der "iconic turn", der sich der Macht der Bilder widmet. Aus der Kunstgeschichte hervorgegangen, erstreckt er sich heute nicht nur auf die modernen medialen Vermittlungsformen, sondern auf den Bereich visueller Wahrnehmungen. Weitere "turns" ständen uns bevor, droht die Verfasserin im Schlußwort an, ein "mnemonic", ein "medial", ein "ethical", ein "historic" und ein "social turn".
Liest man die Fußnoten und Literaturverweise zu den Kapiteln, dann fällt auf, daß sich die Aufsätze deutscher Kulturwissenschaftler zu den einzelnen "Wenden" vor allem auf deren Darstellung und Rezeption beziehen. Zwar gibt es Ausnahmen. Zu ihnen zählen zum Beispiel der Historiker Karl Schlögel mit seinen Studien zu historischen Räumen oder die Kunsthistoriker Gottfried Böhm, Hans Belting und Horst Bredekamp, die zur ikonographischen Wende Wesentliches beigetragen haben. Ansonsten aber ist die Ausrichtung eher einseitig. Man liest bei uns, was aus den Vereinigten Staaten kommt, versucht, es auf die eigene Disziplin anzuwenden, und richtet ein eigenes Fach Kulturwissenschaft ein.
Gegen den Begriff Kulturwissenschaften im Plural als Sammelbezeichnung für die sich an einem gemeinsamen Konzept von Kultur ausrichtenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen wäre nichts einzuwenden. Eine sich am Vorbild der angelsächsischen "Cultural Studies" orientierende Kulturwissenschaft kann dagegen nur ein modischer Abklatsch sein.
Seine Daseinsberechtigung bezieht dieses Fach in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und England aus dem tiefgreifenden sozialen Wandel, der sich in diesen Ländern aus dem Zustrom von Migrantengruppen aus nichtwestlichen Kulturen ergeben hat. In der Buntscheckigkeit und Vielfältigkeit ihrer Ansätze erlauben die "Cultural Studies" ihren intellektuellen Wortführern, sich an den Debatten einer angelsächsisch geprägten akademischen Kultur zu beteiligen, ohne dafür ihre eigene kulturelle Identität aufgeben zu müssen.
In Deutschland sehen die Verhältnisse anders aus. Der Integrationswillen ist auf beiden Seiten geringer. Eine einflußreiche Schicht von Intellektuellen mit Migrationshintergrund hat sich nicht herausgebildet. Solange dies nicht der Fall ist, wird bei uns an den "Cultural Studies" angelsächsischer Prägung kein Bedarf bestehen. Die von ihnen ausgehenden Anregungen sind in den bestehenden Kulturwissenschaften bestens aufgehoben. Auch das zeigt Bachmann-Medick durch ihre überzeugende Studie.
KARL-HEINZ KOHL
Doris Bachmann-Medick: "Cultural Turns". Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Rowohlts Enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 410 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer die Identität behalten: Doris Bachmann-Medicks empfehlenswerte Einführung in die Theorien der Kulturwissenschaften
In den Vereinigten Staaten gilt die klassische Ethnologie als Bevormundung anderer Kulturen durch die Weißen. Mit den "Cultural Studies" kam die Wende. Wo aber stehen die Kulturwissenschaften hierzulande?
In einigen unserer Universitäten wird heute ein Fach gelehrt, das sich als Kulturwissenschaft bezeichnet und sich an den in den Vereinigten Staaten in den letzten beiden Jahrzehnten populär gewordenen "Cultural Studies" orientiert. Mit dem, was man bei uns unter Kulturwissenschaften versteht, haben die amerikanischen "Cultural Studies" nicht viel zu tun. Ihr Erfolg läßt sich nur vor der ethnischen Heterogenität der amerikanischen Gesellschaft verstehen.
Aus der Distanz betrachtet, stellen die "Cultural Studies" eine Integrationswissenschaft dar, die den Angehörigen der Minderheiten die Möglichkeit gibt, ihre Interessen zu artikulieren und sich mit den Kulturen ihrer Herkunftsländer zu beschäftigen. Die klassische "Cultural Anthropology" oder Ethnologie ist hierüber in den Vereinigten Staaten ins Hintertreffen geraten. Ihr Anspruch, der weißen Mehrheitsbevölkerung die Lebensformen nichtwestlicher Kulturen näherzubringen, wird von den intellektuellen Wortführern dieser Kulturen heute als ein Akt der Bevormundung angesehen.
Ausgelöst worden war diese Debatte durch Edward Saids Orientalismus-Studie, das Manifest des Postkolonialismus, die ihren in Palästina geborenen und in den Vereinigten Staaten aufgewachsenen Autor zu einem der Gründungsväter der "Cultural Studies" werden ließ. Seine Angriffe führten zu einer Wende in der Ethnologie, die als Repräsentationskrise in die neuere Geschichte des Faches Eingang fand.
Saids Vorwürfe wären nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, hätte es nicht in den siebziger Jahren in der Ethnologie eine Abkehr von den naturwissenschaftlich inspirierten Modellen funktionalistischer, neoevolutionistischer und kulturmaterialistischer Prägung gegeben. Diese wissenschaftliche Kehre war wesentlich mit den Namen von Clifford Geertz und Victor Turner verbunden.
Geertz' Metapher von "Kultur als Text" und sein Konzept der "dichten Beschreibung" versprachen neue Sichtweisen. Dankbar wurden sie von den Nachbarwissenschaften, insbesondere der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft, aufgegriffen, welche die entstehenden "Cultural Studies" beeinflußten. Der britische Ethnologe Victor Turner, der seit 1963 in den Vereinigten Staaten lehrte, nahm Anregungen aus der zeitgenössischen Aktions- und Happeningkunst auf, die er auf seine Ritualtheorie und auf philosophische Handlungstheorien bezog, um mit den Begriffen Performanz und Performativität kulturwissenschaftliche Konzepte aus der Taufe zu heben. Von der Theaterwissenschaft gefeiert, blieb Turners performative Wende im eigenen Fach von geringerer Resonanz.
Geertz' Ansatz wurde von zahlreichen jüngeren Ethnologen aufgegriffen, die sich aber bald wieder von ihm abwandten. Unter dem Eindruck von Saids radikalerer Position versuchten sie, die politischen Verhältnisse zu analysieren, die der Konstitution ethnographischer Texte zugrunde liegen, und deren Strategien und rhetorische Mittel aufzudecken. Im Licht der Writing-Culture-Debatte der achtziger Jahre erschien Geertz nur als eine jener klassischen ethnographischen Autoritäten, die den Dialog mit den Untersuchten verweigerten.
Durch diese Kritik bereiteten George Marcus, James Clifford, Steven Tylor und Vincent Crapanzano dem Aufstieg der Cultural Studies erst das Feld. Es kam zum "postcolonial turn". Die Literaturwissenschaft löste die Ethnologie als Leitwissenschaft ab. Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak wurden zum "Dreigestirn" der postkolonialen Bewegung. Sie erhoben einen politischen Anspruch, den sie durch ihre Herkunft aus nichtwestlichen Kulturen legitimierten. An die Stelle der Repräsentation durch andere tritt die Repräsentation der marginalisierten Gruppen durch ihre eigenen Wortführer. Ethnizität, Rasse und Geschlecht werden zu den bevorzugten Forschungsfeldern, Identität, Hybridität und "Dritter Raum" zu den zentralen Begriffen.
Doris Bachmann-Medicks Buch gibt eine hervorragende Einführung in die kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten dreißig Jahre. Sie zeigt insbesondere, wie die "cultural turns" die Entwicklung vorantrieben. Diese "wissenschaftlichen Wenden" dürfe man nicht mit Paradigmen im Sinn der Kuhnschen Wissenschaftstheorie verwechseln. Sie bezeichneten weniger grundsätzliche Kehren als vielmehr einen Wechsel der Blickrichtung, der zu erheblichen Konsequenzen führte und neue Perspektiven auch in den benachbarten Fächern öffnete. Falsch wäre es, hinter den wechselnden Fokussierungen auf neue Forschungsfelder ein Fortschreiten der Kulturwissenschaften erkennen zu wollen. Vielmehr hätten sich die einzelnen "turns" oft gleichzeitig entwickelt und überlappten sich bis heute auch gegenseitig.
Wenn es sich bei den beschriebenen Vorgängen also weder um die Ersetzung von älteren Paradigmen noch um wirkliche Kehren handelt, stellt sich die Frage, ob wir es mit wissenschaftlichen Moden zu tun haben. Ganz kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren, wenn man verfolgt, in welcher Windeseile auch nach der großen postkolonialen Wende immer wieder neue "cultural turns" propagiert worden sind. "Turn" - dieser von der Verfasserin verwendete und etwas befremdliche Anglizismus wäre insofern angemessen.
Da ist etwa der "translational turn", der sich mit den Transfer- und Austauschprozessen zwischen den Kulturen befaßt und Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" ein Gegenkonzept entgegenzustellen versucht. Eine Abkehr von der den wissenschaftlichen Diskurs lange beherrschenden Kategorie der Zeit leitete der "spatial turn" ein, der den Raum und räumliche Übertragungsprozesse als zentrale Kategorien entdeckt. Die jüngste Wende ist der "iconic turn", der sich der Macht der Bilder widmet. Aus der Kunstgeschichte hervorgegangen, erstreckt er sich heute nicht nur auf die modernen medialen Vermittlungsformen, sondern auf den Bereich visueller Wahrnehmungen. Weitere "turns" ständen uns bevor, droht die Verfasserin im Schlußwort an, ein "mnemonic", ein "medial", ein "ethical", ein "historic" und ein "social turn".
Liest man die Fußnoten und Literaturverweise zu den Kapiteln, dann fällt auf, daß sich die Aufsätze deutscher Kulturwissenschaftler zu den einzelnen "Wenden" vor allem auf deren Darstellung und Rezeption beziehen. Zwar gibt es Ausnahmen. Zu ihnen zählen zum Beispiel der Historiker Karl Schlögel mit seinen Studien zu historischen Räumen oder die Kunsthistoriker Gottfried Böhm, Hans Belting und Horst Bredekamp, die zur ikonographischen Wende Wesentliches beigetragen haben. Ansonsten aber ist die Ausrichtung eher einseitig. Man liest bei uns, was aus den Vereinigten Staaten kommt, versucht, es auf die eigene Disziplin anzuwenden, und richtet ein eigenes Fach Kulturwissenschaft ein.
Gegen den Begriff Kulturwissenschaften im Plural als Sammelbezeichnung für die sich an einem gemeinsamen Konzept von Kultur ausrichtenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen wäre nichts einzuwenden. Eine sich am Vorbild der angelsächsischen "Cultural Studies" orientierende Kulturwissenschaft kann dagegen nur ein modischer Abklatsch sein.
Seine Daseinsberechtigung bezieht dieses Fach in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und England aus dem tiefgreifenden sozialen Wandel, der sich in diesen Ländern aus dem Zustrom von Migrantengruppen aus nichtwestlichen Kulturen ergeben hat. In der Buntscheckigkeit und Vielfältigkeit ihrer Ansätze erlauben die "Cultural Studies" ihren intellektuellen Wortführern, sich an den Debatten einer angelsächsisch geprägten akademischen Kultur zu beteiligen, ohne dafür ihre eigene kulturelle Identität aufgeben zu müssen.
In Deutschland sehen die Verhältnisse anders aus. Der Integrationswillen ist auf beiden Seiten geringer. Eine einflußreiche Schicht von Intellektuellen mit Migrationshintergrund hat sich nicht herausgebildet. Solange dies nicht der Fall ist, wird bei uns an den "Cultural Studies" angelsächsischer Prägung kein Bedarf bestehen. Die von ihnen ausgehenden Anregungen sind in den bestehenden Kulturwissenschaften bestens aufgehoben. Auch das zeigt Bachmann-Medick durch ihre überzeugende Studie.
KARL-HEINZ KOHL
Doris Bachmann-Medick: "Cultural Turns". Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Rowohlts Enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 410 S., br., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Inhaltlich findet Peter Geimer Doris Bachmann-Medicks Darstellung von sieben wichtigen "Turns" in den Kulturwissenschaften "gut informiert" und "informativ", und so könne man dieses Buch durchaus als eine Einführung in zentrale Ansätze der Kulturwissenschaften lesen. Doch zum Leidwesen des Rezensenten konzentriert sich die Autorin auf die "Dynamik des Theoriewandels" und schafft damit bei Geimer nur Verwirrung. Bachmann-Medicks Definition für einen "turn" befriedigt ihn nicht, er hätte manche "turns hinzugefügt, andere hingegen weggelassen. Besonders den von der Autorin postulierten "reflexive turn" der achtziger und neunziger Jahre findet er "wenig überzeugend". Ganz aus dem Tritt kommt er in dieser Hinsicht am Schluss, wenn die Autorin noch ein "weiteres Dutzend" potenzieller "turns" in Aussicht stellt. Grund für dieses Buch und seine "angestrengte Rhetorik" war wohl, spekuliert der Rezensent, die Lebendigkeit der von Kürzungen bedrohten Kulturwissenschaften zu betonen. Doch Geimer vernimmt statt Vitalität nur den "drögen Sound der Drittmittelprosa".
© Perlentaucher Medien GmbH
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