Was ist da los? Die Amerikaner verlassen den Mond, überlassen Nachzüglern den scheintoten Begleiter der Erde. Zeit zum Rekapitulieren: An einem Sonntagnachmittag in Berlin, auf dem Flugfeld des stillgelegten Aeroports Tempelhof, macht der Dichter Durs Grünbein eine folgenreiche Beobachtung. Was, wenn die Menschheit immer nur zurückkehren wollte von ihren Abenteuern der Raumerkundung? Gestern der Mond, morgen der Mars und übermorgen...? Da begegnet ihm Cyrano de Bergerac, der spöttische Reisende durch die Planetenreiche der Imagination, ein Zeitgenosse des René Descartes. Er ruft ihm über die Jahrhunderte hinweg zu: Es gibt nur eine Sensation - die der Heimkehr, alles andere sind Phantastereien! Und plötzlich öffnen sich alle Schleusen in Raum und Zeit, die Feier des Hierseins beginnt. Dort draußen die Unwirtlichkeit und die Krater (benannt nach den Helden der Wissenschaftsgeschichte, den Pionieren der Raumfahrt) - und hier unten die fragilen Elegien einer Spezies, die allmählich begreift, dass sie mutterseelenallein ist im All.Durs Grünbein hat einen neuen Gedichtzyklus geschrieben, der von der Sehnsucht ausgeht, von den verlorenen Erkenntnismühen einer im Kern romantisch gebliebenen Aufklärungskultur, die nichts anderes will, als zurückfinden zu sich, den Mond betrachten, als sei er immer noch da.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auf große Gedichte über den Mond von Durs Grünbein wartet der Rezensent vorerst noch. Was Grünbein hier vorlegt, ist für Lothar Müller eher Essayistik, die den Mond, die tolle Scheibe, das Objekt poetischer Empfindsameit, unter Wissenschaft, lateinischen Namen und lexikalischen Sprachspieleien begräbt. Schade, meint Müller. Blass erscheint ihm das Himmelsgestirn hier. Das Wissen über den Mond freilich, von Galileo Galilei, Pierre Gassendi, René Descartes, bis nach der Mondlandung auch, traut Müller dem Autor zu, keine Frage.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2014Die Großmacht verschrottet ihre Weltraumfähren
Einmal ins All und zurück? Dafür haben wir jetzt Durs Grünbeins neuen Lyrikzyklus "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond": 84 Gedichte über den Blick auf den wandelbaren Trabanten.
Durs Grünbeins neues Buch kommt aus einer älteren Zeit. Und das nicht bloß mit seinem Titel "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond". Solche Doppeltitel, die das "oder" eher verbindet als trennt, waren einst Mode. Die Aufklärung liebte ihre Ambivalenz. So schrieb Rousseau "Émile ou De l'éducation" und Lessing seine "Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück". Auch Grünbein hat der fast verschollenen Mode schon einmal geopfert: in seinem Langgedicht "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland" (2003). Da sollte der Name des Philosophen die Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Schnees beglaubigen. Und siehe, der lyrische Zauber gelang.
Auch "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond" operiert mit der Dialektik seines Doppeltitels. Der Text beschwört einen Zeitgenossen von Descartes, nämlich Cyrano de Bergerac, einen aufklärerischen Freigeist, der phantastisch-utopische Romane über seine Reisen zu den Bewohnern von Mond und Sonne verfasste. Durch Edmond Rostands Versdrama und zahllose nachfolgende Bearbeitungen des Stoffes durch Film, Musical und Oper ist Cyrano als Figur bis heute populär.
Doch Grünbein hat weder Medienkunst noch Oper im Sinn, sondern das Genre eines Gedichtkreises. Der umfasst 84 Gedichte in acht Teilen und ist in freien Terzinen geschrieben; man darf an Dante denken. Wie Cyrano hat Grünbein den Mond im Sinn; aber nicht als Thema von Science-Fiction, sondern quasi szientifisch. In die Welt des Mondes und der Selenographie begibt er sich nicht als Fabulierer, sondern als poetischer Lexikograph. In einem Personallexikon lässt er bekannte wie höchst entlegene "Mondsüchtige" Revue passieren. Die Lemmata reichen von Abeneza, Avicenna, Avogadro und Armstrong bis zu Tycho, Ulugh Beg, Wargentin und Zeno.
Grünbein gibt, einschüchternd belesen, den Polyhistor. Doch er lässt den Leser nicht allein. Er kommt ihm mit einem ausführlichen Nachwort zu Hilfe. Man tut gut daran, damit anzufangen. Da spricht der Dichter vom Tag seiner Inspiration fast im Ton der Schöpfungsgeschichte: "Am Anfang stand ein Tag in Berlin." Grünbein mischt sich unter das Sonntagspublikum auf dem Rollfeld des stillgelegten Flughafens Tempelhof. Er plaudert über alles Mögliche, was Mond und Raumfahrt betrifft. In der Nacht nach seinem Sonntagsspaziergang hat der Autor starke Träume. Er wundert sich, dass ihm, dem notorisch Vielgereisten, der Mond, ob in Oslo, Osaka oder auf der Südhalbkugel, immer nur die Identität mit sich selbst gezeigt habe. "Der Mond" - so paraphrasiert er Gertrude Steins Diktum über die Rose - "war der Mond war der Mond." In Wahrheit aber zeige er eine lunare Libration, eine wenn auch scheinbare Schwankung der Mondscheibe infolge der elliptischen Form der Mondbahn.
Was uns der wissenschaftliche Terminus soll? Vor allem eins: Der Dichter kann ihn ins Poetische wenden. Wie es die Mondscheibe tut, so oszillieren, je nach Neigungswinkel des Lesers, auch die Wörter und ihre Bedeutungen. Und wenn somit das Gedichtlesen "dem Blick aufwärts zum Mond" gleicht, tut dies das Schreiben auch. Poesie machen ist wie zum Mond blicken. Anregend wie einst für Schiller der Geruch fauler Äpfel.
Im Nachwort erfahren wir auch Genaueres über Cyranos Leben und Werk; aber eben nur in Prosa. Zwar wird Cyrano auch im Lyrikteil etliche Male erwähnt, aber die neun Zeilen des ihm gewidmeten Gedichts kommen übers Anekdotische nicht hinaus: "Und dann kam er mit Neuigkeiten vom Mond, / Clown, den jeder gern zum Freund gehabt hätte. / Denn sein Unsinn war unbedingt - lustbetont." Cyrano also eher Dandy denn Freigeist? Kann eine solche Figur einen ambitionierten Gedichtkreis tragen? Kaum. Man sucht also nach einem Ordnungsprinzip des Ganzen.
Etwas davon mag in den vier Figuren der ersten Gedichtgruppe stecken. Da ist Euklid, der antike Mathematiker, der in den "Elementen" das mathematische Wissen seiner Zeit systematisierte. Bei den Folgenden mag man etwa in ein Gelehrtenlexikon schauen. "Riccioli", nämlich Giovanni Battista Riccioli, entwickelte mit seiner Mondkarte die noch heute gebräuchlichen Begriffe der Selenographie. "Tesauro", nämlich Emanuele Tesauro, lieferte eine erste Theorie der Metapher. "Cassini" schließlich, der Astronom Giovanni Domenico Cassini, bestimmte die schon erwähnte Libration des Mondes.
Freilich wird der Leser des frisch erworbenen Wissens nicht recht froh. Die Figuren bleiben blass. Grünbein hat sich zu Kurzgedichten von allenfalls achtzehn Zeilen entschlossen, die Miniaturen, Snapshots oder Epigramme nahelegen. Leider sind sie nicht von jenem Zugriff, der sonst Grünbeins Stärke ist. Von der Metapher heißt es etwas schlicht: "Wer kann durchs Fernrohr der Metapher sehen, / In dem das Ferne nah - das Nächste fern erscheint, / Kausalitäten sich verknoten und Ereignisse?"
Mancher Name bleibt ohne erkennbare Verbindung mit dem ihm zugedachten Gedicht. Die Kryptik verblüfft, überzeugt aber nicht ästhetisch. So werden unter dem Stichwort "Fermi" die alten Wörter für Monat (mensis - mani, mén und mon) mit der ägyptischen Zeitrechnung zusammengebracht; zuletzt folgt ein krasser Reim auf "Mond": "So trocken / War keine Frau, daß sie nicht kreißte wie gewohnt." Was das mit dem Atomforscher Enrico Fermi zu tun hat, erschließt sich nicht. Immerhin hat Fermi die bedenkenswerte Frage gestellt: "Sind wir Menschen die einzige fortschrittliche Zivilisation im Universum?" Eine Frage auch für Dichter.
Grünbein jedoch präzisiert lieber seine Wissenschafts- und Geschichtsskepsis am Beispiel von Mond- und Raumfahrt. Die Schlussgedichte sprechen vom möglichen Ende der Welterkundung. "Amerika verschrottet seine Weltraumfähren", heißt es, und ein anderes Gedicht bilanziert: "Der Ehrgeiz ist erloschen. Um die leeren Hallen, / Die feuerfesten Rampen wird das Unkraut wachsen." Prophetie oder Wunschdenken?
Das Buch ist, wie es nun einmal ist: zwiespältig. Und der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Doppeltitel "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond" genau die Problematik des Ganzen bezeichnet. Er zerfiel schon beim Lesen in seine Teile. Das "oder" im Titel versöhnt nicht poetisch das Getrennte, es trennt vielmehr das Heterogene: eine rudimentäre Cyrano-Phantasie und einen redundanten Zettelkasten. Dabei konnte die Poesie nur verlieren. Der Mond steht noch immer über dem Tempelhofer Feld. Doch Cyrano ist uns nicht erschienen.
HARALD HARTUNG
Durs Grünbein: "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 152 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einmal ins All und zurück? Dafür haben wir jetzt Durs Grünbeins neuen Lyrikzyklus "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond": 84 Gedichte über den Blick auf den wandelbaren Trabanten.
Durs Grünbeins neues Buch kommt aus einer älteren Zeit. Und das nicht bloß mit seinem Titel "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond". Solche Doppeltitel, die das "oder" eher verbindet als trennt, waren einst Mode. Die Aufklärung liebte ihre Ambivalenz. So schrieb Rousseau "Émile ou De l'éducation" und Lessing seine "Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück". Auch Grünbein hat der fast verschollenen Mode schon einmal geopfert: in seinem Langgedicht "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland" (2003). Da sollte der Name des Philosophen die Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Schnees beglaubigen. Und siehe, der lyrische Zauber gelang.
Auch "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond" operiert mit der Dialektik seines Doppeltitels. Der Text beschwört einen Zeitgenossen von Descartes, nämlich Cyrano de Bergerac, einen aufklärerischen Freigeist, der phantastisch-utopische Romane über seine Reisen zu den Bewohnern von Mond und Sonne verfasste. Durch Edmond Rostands Versdrama und zahllose nachfolgende Bearbeitungen des Stoffes durch Film, Musical und Oper ist Cyrano als Figur bis heute populär.
Doch Grünbein hat weder Medienkunst noch Oper im Sinn, sondern das Genre eines Gedichtkreises. Der umfasst 84 Gedichte in acht Teilen und ist in freien Terzinen geschrieben; man darf an Dante denken. Wie Cyrano hat Grünbein den Mond im Sinn; aber nicht als Thema von Science-Fiction, sondern quasi szientifisch. In die Welt des Mondes und der Selenographie begibt er sich nicht als Fabulierer, sondern als poetischer Lexikograph. In einem Personallexikon lässt er bekannte wie höchst entlegene "Mondsüchtige" Revue passieren. Die Lemmata reichen von Abeneza, Avicenna, Avogadro und Armstrong bis zu Tycho, Ulugh Beg, Wargentin und Zeno.
Grünbein gibt, einschüchternd belesen, den Polyhistor. Doch er lässt den Leser nicht allein. Er kommt ihm mit einem ausführlichen Nachwort zu Hilfe. Man tut gut daran, damit anzufangen. Da spricht der Dichter vom Tag seiner Inspiration fast im Ton der Schöpfungsgeschichte: "Am Anfang stand ein Tag in Berlin." Grünbein mischt sich unter das Sonntagspublikum auf dem Rollfeld des stillgelegten Flughafens Tempelhof. Er plaudert über alles Mögliche, was Mond und Raumfahrt betrifft. In der Nacht nach seinem Sonntagsspaziergang hat der Autor starke Träume. Er wundert sich, dass ihm, dem notorisch Vielgereisten, der Mond, ob in Oslo, Osaka oder auf der Südhalbkugel, immer nur die Identität mit sich selbst gezeigt habe. "Der Mond" - so paraphrasiert er Gertrude Steins Diktum über die Rose - "war der Mond war der Mond." In Wahrheit aber zeige er eine lunare Libration, eine wenn auch scheinbare Schwankung der Mondscheibe infolge der elliptischen Form der Mondbahn.
Was uns der wissenschaftliche Terminus soll? Vor allem eins: Der Dichter kann ihn ins Poetische wenden. Wie es die Mondscheibe tut, so oszillieren, je nach Neigungswinkel des Lesers, auch die Wörter und ihre Bedeutungen. Und wenn somit das Gedichtlesen "dem Blick aufwärts zum Mond" gleicht, tut dies das Schreiben auch. Poesie machen ist wie zum Mond blicken. Anregend wie einst für Schiller der Geruch fauler Äpfel.
Im Nachwort erfahren wir auch Genaueres über Cyranos Leben und Werk; aber eben nur in Prosa. Zwar wird Cyrano auch im Lyrikteil etliche Male erwähnt, aber die neun Zeilen des ihm gewidmeten Gedichts kommen übers Anekdotische nicht hinaus: "Und dann kam er mit Neuigkeiten vom Mond, / Clown, den jeder gern zum Freund gehabt hätte. / Denn sein Unsinn war unbedingt - lustbetont." Cyrano also eher Dandy denn Freigeist? Kann eine solche Figur einen ambitionierten Gedichtkreis tragen? Kaum. Man sucht also nach einem Ordnungsprinzip des Ganzen.
Etwas davon mag in den vier Figuren der ersten Gedichtgruppe stecken. Da ist Euklid, der antike Mathematiker, der in den "Elementen" das mathematische Wissen seiner Zeit systematisierte. Bei den Folgenden mag man etwa in ein Gelehrtenlexikon schauen. "Riccioli", nämlich Giovanni Battista Riccioli, entwickelte mit seiner Mondkarte die noch heute gebräuchlichen Begriffe der Selenographie. "Tesauro", nämlich Emanuele Tesauro, lieferte eine erste Theorie der Metapher. "Cassini" schließlich, der Astronom Giovanni Domenico Cassini, bestimmte die schon erwähnte Libration des Mondes.
Freilich wird der Leser des frisch erworbenen Wissens nicht recht froh. Die Figuren bleiben blass. Grünbein hat sich zu Kurzgedichten von allenfalls achtzehn Zeilen entschlossen, die Miniaturen, Snapshots oder Epigramme nahelegen. Leider sind sie nicht von jenem Zugriff, der sonst Grünbeins Stärke ist. Von der Metapher heißt es etwas schlicht: "Wer kann durchs Fernrohr der Metapher sehen, / In dem das Ferne nah - das Nächste fern erscheint, / Kausalitäten sich verknoten und Ereignisse?"
Mancher Name bleibt ohne erkennbare Verbindung mit dem ihm zugedachten Gedicht. Die Kryptik verblüfft, überzeugt aber nicht ästhetisch. So werden unter dem Stichwort "Fermi" die alten Wörter für Monat (mensis - mani, mén und mon) mit der ägyptischen Zeitrechnung zusammengebracht; zuletzt folgt ein krasser Reim auf "Mond": "So trocken / War keine Frau, daß sie nicht kreißte wie gewohnt." Was das mit dem Atomforscher Enrico Fermi zu tun hat, erschließt sich nicht. Immerhin hat Fermi die bedenkenswerte Frage gestellt: "Sind wir Menschen die einzige fortschrittliche Zivilisation im Universum?" Eine Frage auch für Dichter.
Grünbein jedoch präzisiert lieber seine Wissenschafts- und Geschichtsskepsis am Beispiel von Mond- und Raumfahrt. Die Schlussgedichte sprechen vom möglichen Ende der Welterkundung. "Amerika verschrottet seine Weltraumfähren", heißt es, und ein anderes Gedicht bilanziert: "Der Ehrgeiz ist erloschen. Um die leeren Hallen, / Die feuerfesten Rampen wird das Unkraut wachsen." Prophetie oder Wunschdenken?
Das Buch ist, wie es nun einmal ist: zwiespältig. Und der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Doppeltitel "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond" genau die Problematik des Ganzen bezeichnet. Er zerfiel schon beim Lesen in seine Teile. Das "oder" im Titel versöhnt nicht poetisch das Getrennte, es trennt vielmehr das Heterogene: eine rudimentäre Cyrano-Phantasie und einen redundanten Zettelkasten. Dabei konnte die Poesie nur verlieren. Der Mond steht noch immer über dem Tempelhofer Feld. Doch Cyrano ist uns nicht erschienen.
HARALD HARTUNG
Durs Grünbein: "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 152 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der ... Lyriker und Essayist Durs Grünbein gilt als Poeta doctus schlechthin. In seinem neuen Gedichtband beweist er seinen Rang aufs Neue.« Manfred Papst NZZ am Sonntag 20140427