Dreimal ist Helmut Böttiger während der letzten dreißig Jahre nach Czernowitz gereist, in die Stadt am östlichen Rand der alten Habsburgermonarchie, heute eine Stadt im Westen der Ukraine - und längst ein mythischer Ort. Immer lagen gut zehn Jahre zwischen diesen Reisen, und jedes Mal hatte sich die Stadt verändert: von einem aus sowjetischem Tiefschlaferwachten Vielvölker-Labor brutaler Umsiedlungspolitik zum Schauplatz der Orangenen Revolution. Und schließlich zu einer Stadt in der neuen, sich ihrer Eigenständigkeit und eigenen Sprache bewussten Ukraine, die sich gegen den mörderischenZugriff der alten Besatzer verteidigen muss. Nicht nur ihre jüdischen Wurzeln hat die Stadt neu entdeckt. Helmut Böttiger ist auch den Spuren der Literatur gefolgt. Von Paul Celan bis zu den Autorinnen und Autoren der modernen Ukraine, die sehnsüchtig nach Westen blickt und vom Osten nicht loskommt.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Eine Lebensgeschichte osteuropäischer Urbanität" nennt Rezensent Paul Jandl Helmut Böttigers autobiografisch geprägte Essay-Sammlung über die Stadt Czernowitz, und deren bewegte Vergangenheit und Gegenwart. Über dreißig Jahre hat Jandl die Entwicklung dieser ehemals habsburgischen, dann rumänischen, anschließend sowjetischen und schließlich ukrainischen Stadt verfolgt und literarisch begleitet, weiß Jandl - ein Auge stets auf die Straßen gerichtet, das andere auf die Literatur - die von Paul Celan insbesondere. Dabei erweist sich Böttiger immer wieder als feinsinniger Beobachter mit einem besonderen Sinn für Architektur, sowie als aufgeschlossener und kundiger Leser. So gelingt es ihm einerseits, den besonderen Flair zu beschreiben, der dieser multikulturellen Stadt immer schon zu eigen war, und gleichzeitig ihren kulturellen Wandel greifbar zu machen. Dass dieser Wandel gegenwärtig auch eine akute Bedrohung miteinschließt, verschweigt Böttiger nicht. Dies macht sein Buch zu einem politischen Buch, schließt der Rezensent.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2023Drei Zeitenwenden
Czernowitz in der Bukowina ist ein Mythos. Dichter wie Paul Celan und Rose Ausländer stammten von dort, die kulturelle Vielfalt der Stadt, in der bis zum Zweiten Weltkrieg Juden, Deutsche, Rumänen, Ukrainer, Polen, Roma, Huzulen, Lipowaner und andere Ethnien und Religionsgruppen lebten, ist legendär. Aber wie hat sie sich nach dem Ausbluten in Vernichtungskrieg und Holocaust, nach mehr als vierzig Jahren sowjetischer Besatzung entwickelt? Drei Reisen hat der Schriftsteller und Literaturhistoriker Helmut Böttiger ins ihn seit Schülertagen magisch anziehende Czernowitz unternommen und darüber ein Buch mit drei kleinen Erzählungen geschrieben: "Czernowitz - Stadt der Zeitenwenden" (Berenberg, 88 Seiten, 22 Euro). Seine Wahrnehmungen sind von scheinbar bloß lokaler Bedeutung, zugleich weisen sie weit über Czernowitz hinaus und zeigen Grundlegendes der Transformationsprozesse auf, die sich nach 1989/90 in den westlichen Randzonen des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs vollzogen. Auf seiner ersten Reise 1993 stößt Böttiger in der Stadt - ihrer Vergangenheit durch den Abbruch von Tradition und Erinnerung beraubt - vor allem auf Leerstellen. 2005, kurz nach der erfolgreichen Orange Revolution, ist Czernowitz wie verwandelt. Nicht nur hat man sich des heruntergewirtschafteten Zentrums angenommen und die Vorkriegsvergangenheiten entdeckt. Dem Westen zugewandt, hat auch eine intensive Suche nach einer neuen
ukrainischen Identität begonnen, wobei die eigene Sprache und Literatur eine bedeutende Rolle spielen. Im Herbst 2022 dann bereist Böttiger eine Stadt im Krieg. Die Kultur hat nun die primäre Aufgabe, zu bewahren, zu dokumentieren, eine "Ressource der Standhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung" zu bieten. Der Krieg stellt ungekannte Anforderungen - an alle, auch an den Besucher aus Deutschland, der mit "weitaus mehr Fragen aus Czernowitz" zurückkehrt, als er hinreiste. beha
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Czernowitz in der Bukowina ist ein Mythos. Dichter wie Paul Celan und Rose Ausländer stammten von dort, die kulturelle Vielfalt der Stadt, in der bis zum Zweiten Weltkrieg Juden, Deutsche, Rumänen, Ukrainer, Polen, Roma, Huzulen, Lipowaner und andere Ethnien und Religionsgruppen lebten, ist legendär. Aber wie hat sie sich nach dem Ausbluten in Vernichtungskrieg und Holocaust, nach mehr als vierzig Jahren sowjetischer Besatzung entwickelt? Drei Reisen hat der Schriftsteller und Literaturhistoriker Helmut Böttiger ins ihn seit Schülertagen magisch anziehende Czernowitz unternommen und darüber ein Buch mit drei kleinen Erzählungen geschrieben: "Czernowitz - Stadt der Zeitenwenden" (Berenberg, 88 Seiten, 22 Euro). Seine Wahrnehmungen sind von scheinbar bloß lokaler Bedeutung, zugleich weisen sie weit über Czernowitz hinaus und zeigen Grundlegendes der Transformationsprozesse auf, die sich nach 1989/90 in den westlichen Randzonen des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs vollzogen. Auf seiner ersten Reise 1993 stößt Böttiger in der Stadt - ihrer Vergangenheit durch den Abbruch von Tradition und Erinnerung beraubt - vor allem auf Leerstellen. 2005, kurz nach der erfolgreichen Orange Revolution, ist Czernowitz wie verwandelt. Nicht nur hat man sich des heruntergewirtschafteten Zentrums angenommen und die Vorkriegsvergangenheiten entdeckt. Dem Westen zugewandt, hat auch eine intensive Suche nach einer neuen
ukrainischen Identität begonnen, wobei die eigene Sprache und Literatur eine bedeutende Rolle spielen. Im Herbst 2022 dann bereist Böttiger eine Stadt im Krieg. Die Kultur hat nun die primäre Aufgabe, zu bewahren, zu dokumentieren, eine "Ressource der Standhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung" zu bieten. Der Krieg stellt ungekannte Anforderungen - an alle, auch an den Besucher aus Deutschland, der mit "weitaus mehr Fragen aus Czernowitz" zurückkehrt, als er hinreiste. beha
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