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Der Autor verfolgt die Entstehung der Stadtkultur von Czernowitz als mitteleuropäische Enklave in einem von archaischer Ordnung beherrschten Gebiet und zeichnet den Prozess einer sozio-kulturellen Modernisierung nach, wo soziale, ethnische, sprachliche, religiöse und territoriale Gegensätze unvermittelt aufeinander prallten. Das Buch behandelt Meilensteine einer Geschichte, die mit dem 1775 erfolgten Anschluss des nord-moldauischen, am Wiener Hof Bukowina benannten Territoriums an Österreich begann und bis heute - nicht zuletzt aufgrund des prägenden "jüdischen" Einflusses am Entstehen und…mehr

Produktbeschreibung
Der Autor verfolgt die Entstehung der Stadtkultur von Czernowitz als mitteleuropäische Enklave in einem von archaischer Ordnung beherrschten Gebiet und zeichnet den Prozess einer sozio-kulturellen Modernisierung nach, wo soziale, ethnische, sprachliche, religiöse und territoriale Gegensätze unvermittelt aufeinander prallten. Das Buch behandelt Meilensteine einer Geschichte, die mit dem 1775 erfolgten Anschluss des nord-moldauischen, am Wiener Hof Bukowina benannten Territoriums an Österreich begann und bis heute - nicht zuletzt aufgrund des prägenden "jüdischen" Einflusses am Entstehen und Bestehen jener für immer versunkenen bürgerlich-deutschsprachigen Czernowitzer "Welt" - als "Gedächtnisort" in der kollektiven Erinnerung Mittel- und Osteuropas präsent blieb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.1999

Der Zauber des Zaddik wirkt nicht mehr
Aber im Dichterwort lebt Czernowitz weiter: Andrei Corbea-Hoisies Anthologie zu einem jüdischen Stadtbild

Die Czernowitz-Legende weiß von einer stark jüdisch geprägten osteuropäischen Stadt vorwiegend deutscher Kultur, in der sich feilich die verschiedensten weiteren Elemente in pittoresker Weise mischten. Das Pittoreske wurde gelegentlich so stark empfunden, daß es mit herablassendem Amüsement registriert wurde, zuletzt allerdings überlagert durch die Scham angesichts der Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg durch das nationalsozialistische Deutschland und seinen rumänischen Verbündeten. Andrei Corbea-Hoisies Anthologie differenziert diese Legende, rückt sie teilweise zurecht und bestätigt sie großenteils. Czernowitz und seine Geschichte könnten dadurch aus dem Reich der Legende in das der Kenntnis treten.

Die Einleitung durch den Herausgeber skizziert die Geschichte der Stadt, vornehmlich ihres jüdischen Bevölkerungsanteils. 1775 fiel der Nordteil des späteren Fürstentums Moldau, die Bukowina (das Buchenland), zusammen mit Galizien um die Hauptstadt Lemberg herum an Österreich. Czernowitz war eine winzige Landstadt, die allerdings durch die alsbald in großer Zahl einwandernden Juden schnell wuchs. 1848 wurde die Bukowina eigenständiges österreichisches Kronland, Czernowitz wurde dessen Hauptstadt, der Aufschwung nahm weiter zu, insbesondere als 1867 die Juden rechtlich gleichgestellt wurden und auch Grund und Boden erwerben konnten. 1848 machten sie 6,5 Prozent der Bevölkerung aus, 1857 schon 12,8, 1910 dann mehr als dreißig Prozent. Dieser jüdische Bevölkerungsteil orientierte sich an der deutschen Kultur, Wien war das große Vorbild, an der 1875 gegründeten Franz-Josephs-Universität stellten die jüdischen Studenten im Jahre 1904 vierzig Prozent. Ihre Beteiligung an Politik, Verwaltung, Gerichts- und Bildungswesen und sogar an der Armee war selbstverständlich.

Freilich war die jüdische Bevölkerung alles andere als einheitlich. Schon die aufklärerische Politik Kaiser Josephs II. wirkte gegen die chassidisch geprägte Orthodoxie, aber erst recht führten staatsbürgerliche Gleichstellung und bürgerlicher Wohlstand zu einer breiten Assimilierungsbewegung. Der um 1890 einsetzende Nationalismus im deutschen, rumänischen und ruthenischen (oder ukrainischen) Bevölkerungsteil bewirkte mit seinem Korrelat, dem Antisemitismus, eine weitere Ausdifferenzierung auf jüdischer Seite, es bildeten sich die zionistische und die sozialistisch-kommunistische Bewegung im Judentum. 1918 fiel die Bukowina an das zentralistisch regierte Rumänien, aus der deutschen Universität wurde eine rumänische, die antisemitische Atmosphäre nahm zu; gleichwohl blühte das jüdische kulturelle Leben in deutscher und jiddischer Sprache. Im Sommer 1940 fiel Czernowitz an die Sowjetunion, Deportationen und Erschießungen waren die Folge, nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, als die Bukowina wieder rumänisch wurde, nahmen die Morde und Deportationen zu - von den hundertzwanzigtausend Juden der Bukowina überlebten vierzigtausend.

Die chronologisch angeordneten Prosatexte und Gedichte, die in dem Buch gesammelt sind, beginnen mit historischen und landeskundlichen Schilderungen von Anfang des neunzehnten Jahrhunderts und enden mit einem Gedicht Paul Celans; jedem Text ist eine Kurzbiographie des Autors oder der Autorin vorangestellt. Vieles ist vom kritiklosen Verherrlichen weit entfernt. Durchaus ambivalent wird etwa die charismatische Gestalt des Zaddik geschildert, jenes chassidischen Wundermannes, der frommen Juden guten Rat in allen Lebenslagen spendete und selber ein oft üppiges Leben führte; der erste war Israel Friedmann, der 1841 aus der Ukraine geflüchtet war und im Städtchen Sadagora bei Czernowitz hofhielt. Was in diesem Zusammenhang nicht nur von antisemitischer Seite berichtet wird, relativiert einigermaßen die gängige Schtetl-Romantik und läßt den Wunsch des Großteils der Juden verständlich erscheinen, sich aus dieser Welt zu befreien und in den mitteleuropäischen Kulturkreis einzutreten.

Die vielfältigen Erscheinungsformen dieser Emanzipation sind der Gegenstand des zweiten Hauptteils des Buches, zusammen mit den dazugehörigen Konflikten. Ist es eine anachronistische Empfindlichkeit angesichts dessen, was später folgte, wenn beim heutigen Leser keine rechte Heiterkeit darüber aufkommen kann, daß derartige Konflikte bisweilen in humoristischer Weise dargestellt werden? Aber sonst ist es atemberaubend zu lesen, mit welcher Intensität "der Judenscharfsinn Funken sprühte", um aus einem Gedicht von Klara Blum zu zitieren. Sie selber ist dann ein Beispiel dafür, welchen Illusionen sich gerade ein Großteil der jüdischen intellektuellen Jugend später hingab, als er sich dem Kommunismus zuwandte. Höchst eindrucksvoll ist eines ihrer Gedichte, in welchem sie "die Installierung der Sowjetmacht in Czernowitz 1940 bejubelte", so der Herausgeber: eine Mischung aus expressionistischem Aufgewühltsein, klassizistischer Glätte und naivster Propaganda, also etwa das Amalgam, das auch bei Johannes R. Becher zu finden ist.

Die Wirklichkeit nach dem Anschluß an die Sowjetunion sah so aus, daß "die ersten Gebäude, die einen Umbau erfuhren, die Gefängnisse waren. Sie wurden erweitert, mit hohen Mauern umgeben und mit Wachttürmen versehen". Das NKWD-Regime installierte sich mit Judenverfolgungen, die sich als Klassenkampf ausgaben - "unschuldige Menschen wurden gewaltsam aus ihren Wohnungen geholt, in Viehwaggons verladen und nach dem fernen Sibirien verschickt, wo sie vor Hunger und Kälte umkamen", wie Manfred Reiter berichtet. Dem wurde durch den Überfall auf die Sowjetunion ein Ende gesetzt, dafür begann anderes, das Isak Weißglas schildert: "Schon mit dem Einzug der rumänischen Truppen in die Stadt, am 5. Juli 1941, hatte der Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Gemeinde begonnen. Plünderungen und Erschießungen waren im ganzen Stadtgebiet an der Tagesordnung. So wurden vom rumänischen Militär zusammen mit der deutschen SS-Abteilung der Tempel niedergebrannt und der Seelsorger der Gemeinde, Oberrabbiner Dr. Mark, mit anderen jüdischen Notabeln erschossen. Ein Massengrab am Pruth deckt die Gebeine der ersten jüdischen Märtyrer der Stadt." Es folgten, unter rumänischer Organisation, die Chaos und Hilfsbereitschaft gelegentlich modifizierten, Massendeportationen nach Transnistrien mit überwiegend tödlichem Ausgang. Man muß die Schilderungen lesen und bewundern, wie die Überlebenden ihre Erfahrungen in der Hölle sprachlich gestalten.

Die deutsche Sprache ist durch das Czernowitzer Judentum um weitere Dimensionen bereichert worden, vor und nach der versuchten Ausrottung. Paul Celan und Rose Ausländer sind die bekanntesten Dichter, Immanuel Weißglas, Selma Meerbaum-Eisinger, Alfred Margul-Sperber und, doch, auch Klara Blum kämen hinzu. Von Edith Silbermann und Rose Ausländer lesen wir plastische Schilderungen des am deutschen Sprachraum orientierten geistigen Lebens der Czernowitzer jüdischen Jugend in der Zwischenkriegszeit: "Die Jugend jubelte Kraus zu, las die Expressionisten, las George, Rilke, Kafka, Brecht. Knapp vor dem Krieg wurde von einzelnen Gottfried Benn entdeckt." Dieses Leben wurde endgültig getötet, durch nationalistischen, rassistischen und kommunistischen Fanatismus. Es ist unwiederbringlich dahin. Heute ist Czernowitz eine Provinzstadt in der Ukraine, und wie sie in der Endphase der Sowjetherrschaft aussah und jetzt aussieht, zeigen schöne Schwarzweißfotos, womöglich allzu stimmungsvoll. Aber das in der Vergangenheit gedichtete Wort bleibt, zeugt von früherem Leben und weist darüber hinaus.

WOLFGANG SCHULLER

Andrei Corbea-Hoisie (Hrsg.): "Czernowitz". Jüdisches Städtebild. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 320 S., Abb., geb., 48,- DM.

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