März 1933. Heinrich Bürgers zieht in den Künstlerort Dachau, um dort wie sein Onkel ein erfolgreicher Maler zu werden. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten interessiert ihn kaum. Unterdessen kann Bäckermeister Teufelhart, ein stolzer Nazi, sein Glück kaum fassen. Bürgermeister Seufert wechselt eilig die Partei, um im Amt zu bleiben. Pfarrer Pfanzelt hält Gottesdienste in Uniform. Der für seine kritischen Werke bekannte Künstler Kallert malt nur noch Landschaftsbilder. Wenige Wochen nach der Machtübernahme feiern der Pfarrer und Dachauer Bürger gemeinsam mit SA und SS einen Gottesdienst und marschieren durch die Straßen. Auch die Dachauer Künstler marschieren mit. "Das einst rote Dachau, es hat sich gehäutet", stellt Heinrichs Onkel entsetzt fest. Die Folgen der Häutung bekommt vor allem die junge, talentierte Künstlerin Nelly zu spüren.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2023Dachauer
Abgrundjahre
Florian Göttler baut in seinem neuen Roman
Satz um Satz das Porträt einer
Kleinstadt und ihrer Einwohner,
die sich dem Nationalsozialismus hingeben
VON THOMAS RADLMAIER
Wird Wahrheit weniger wahr, wenn man sie mithilfe der Fiktion inszeniert? Im Journalismus ist dies unbedingt zu bejahen, siehe den Skandal um den Spiegel-Reporter Claas Relotius, der sich für seine Reportagen den dort verbotenen Waffen der Fantasie bediente. In der Literatur dagegen ist die Vermischung von Fiktion und Fakten erlaubt. Sie kann sogar fruchtbar sein. Und sie kann den Leser nachhaltig erschüttern, so wie in Florian Göttlers neuem Roman „Dachau 1933 – 1945“.
Man liest darin diese Szene: Im Mai 1935 laufen die Kommunalpolitiker Robert Teufelhart und Hans Zauner – beide sind reale Personen der Zeitgeschichte – den Hügel zum Dachauer Rathaus hinauf, wo der Stadtrat tagt. Es schüttet wie aus Eimern. Sie kommen an einer Tafel aus Sperrholz vorbei. „Juden sind hier unerwünscht“, steht darauf mit im Regen zerrinnender Farbe. Zauner, der in der Realität nach dem Krieg noch Bürgermeister werden wird, empört sich über die Tafeln, die überall in Dachau zu finden sind. Später in der Stadtratssitzung bringt er das Thema zur Sprache. Der NSDAP-Bürgermeister Lambert Friedrichs verspricht, selbstverständlich werde man die Tafeln entfernen. „Die Stadt wird Sorge tragen, dass an ihrer Stelle entsprechend saubere Aufschriften treten.“
Ausgedacht hat sich Göttler, dass Zauner und Teufelhart zusammen den Berg hochgehen. Der Rest ist, nun ja, nichts als die Wahrheit. Göttler belegt dies mit einer Quelle: Der Amperbote berichtete in seiner Ausgabe vom 21. Mai 1935 über die Sitzung, in der die Stadträte die Tafeln thematisierten. Die Stadt ließ 1935 aus Sorge um den Ruf Dachaus provisorisch aufgehängte Tafeln mit antisemitischen Parolen aufhübschen.
Es gibt Dinge, die will man sich nicht mal ausdenken, dabei sind sie geschehen. Es ist eine respektable Leistung dieses Buches und seines Autors, ein unbequemes und lange verschwiegenes Kapitel der Dachauer Stadtgeschichte derart in Szene zu setzen.
Im März 1933, vor genau 90 Jahren ließen die Nationalsozialisten auf dem ehemaligen Gelände einer Pulverfabrik am Dachauer Stadtrand eines der ersten Konzentrationslager errichten. Bis 1945 starben darin mehr als 41 500 Häftlinge. Heute weiß man, dass sich in Dachau das Tor zur Hölle von Auschwitz öffnete.
Weniger bekannt ist der Stoff, den Göttler in seinem Roman verarbeitet. Der gebürtige Dachauer zeigt, wie das Virus des nationalsozialistischen Hasses nur wenige Wochen nach der sogenannten „Machtergreifung“ die Stadtgesellschaft in unmittelbarer Nachbarschaft zum Lager befällt und über zwölf Jahre hinweg in den moralischen Abgrund stürzt. Man liest, wie ein Bürgermeister schnell zur NSDAP wechselt, um die Karrierechancen zu verbessern. Wie ein Pfarrer Gottesdienst in Uniform hält. Oder wie sich führende Mitglieder der Künstlervereinigung Dachau (KVD) den neuen Machthabern anbiedern, um Bilder zu vermarkten. Und wie gleichgültig es den allermeisten Dachauern ist, dass die Nazis am Stadtrand unschuldige Menschen einsperren und sämtliche Grundrechte außer Kraft setzen. So entsteht Satz um Satz ein auf wahren Begebenheiten basierendes Porträt einer Kleinstadt und ihrer Einwohner, die sich dem Nationalsozialismus hingeben.
Florian Göttler kennt man in Dachau. Der 45-Jährige ist bei der Stadt angestellt und dort für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Nebenbei schrieb er bisher satirische Romane oder trashige Kurzgeschichten. „Dachau 1933 – 1945“ ist sein fünfter und bisher ernstester Roman. Zwei Jahre hat er daran gearbeitet und recherchiert. Er las etwa 3500 Ausgaben des Amperboten, die zwischen 1933 und 1945 erschienen. Das Lokalblatt, das heute noch existiert, war ab März 1933 gleichgeschaltet. Die Artikel wendeten sich an die bürgerliche Mitte der NS-Gesellschaft. Zu lesen gab es Berichte aus dem Stadtrat oder über Aufmärsche, Faschingsbälle, das Volksfest sowie Besprechungen von Kunstausstellungen.
Auch über das Konzentrationslager wurde bis Mitte der 30er-Jahre regelmäßig berichtet, die menschenunwürdigen Verhältnisse und die Situation der Häftlinge beschönigt. Man kann bei Göttler nachlesen, wie das Lager bei den Dachauern nach und nach zur Gewohnheit wurde und sogar Eingang in den stocksteifen bürgerlichen Humor fand. An einer Stelle lässt er sich von einer Zeitungsmeldung inspirieren, der zufolge ein Bauer einen kritischen Kollegen ermahnt haben soll: „Hör auf mit dei’m Kritisieren, sonst kommst ins Kongregationslager nach Dachau.“
Solche grotesken Stellen, in denen Fakten im Umfeld der Fiktion aufblitzen, finden sich immer wieder im Roman. Göttler belegt sie mit Hunderten Verweisen auf entsprechende Artikel des Amperboten. Diese Quellen finden sich im Schnitt auf jeder dritten Seite. Göttler konstruiert immer wieder Szenen, wie zum Beispiel die Sache mit den antisemitischen Tafeln, von denen man heute denkt, das kann doch nicht wahr sein. Bis man am Ende des Absatzes die Quelle findet, eine datierte Ausgabe des Amperboten, der dies genauso berichtete. Als wolle Göttler dem Leser sagen: Du magst es nicht glauben? Hier hast du den Beweis. Auch das Entlanghangeln an Zeitungsberichten zeichnet diesen Roman aus.
Göttler imitiert phasenweise die Sprache des Lokaljournalismus der 30er-Jahre, dann liest sich sein Roman wie ein Tatsachenbericht, der aber natürlich größtenteils erfunden ist. Der aus heutiger Sicht eigentümliche Schreibstil strotzt vor Biederkeit und Borniertheit. Allein 800 Seiten des Amperboten habe er gelesen, „um in die Sprache zu kommen“, sagt Göttler. Er wollte einen authentischen Roman schreiben, „aus dem Blickwinkel der damaligen Zeit und nicht mit dem Wissen von heute“.
„Dachau 1933 – 1945“ ist auch ein Kunstroman. Fast alle Charaktere, die auftreten, sind Personen der Zeitgeschichte. Nur die beiden Hauptprotagonisten im ersten Teil seines zweibändigen Werkes hat Göttler erfunden: Heinrich Bürgers, der schnöselige Neffe des Dachauer Landschaftsmalers Felix Bürgers, und dessen jüdische Verlobte Nelly, die Wunderschöne, das „menschgewordene Meisterwerk“.
Sie sind junge talentierte Maler und versuchen, in der Künstlervereinigung Dachau Fuß zu fassen und mit dem Verkauf ihrer Bilder Geld zu verdienen. Man begleitet sie zu Ausstellungen im Schloss, Kinoabenden oder Faschingsbällen, welche die KVD dekoriert. Doch je mehr der Antisemitismus alle Bereiche der Gesellschaft erfasst, desto mehr wird Nelly ausgegrenzt. Das Standesamt verbietet ihr, Heinrich zu heiraten. Der Vorstand lehnt ihre Mitgliedschaft in der KVD partout ab. Als Leser mit dem Wissen von heute ahnt man, dass es für Nelly nur in der Katastrophe enden kann. Diese aber flüchtet sich in die Hoffnung, dass ihre Freunde ihr bestimmt helfen werden. Schließlich sagt sie: „Sogar einem wie dem Kneißl haben die Leute geholfen.“ Eine vergebliche Hoffnung, wie sie viele Juden in Deutschland während der NS-Zeit hegten.
Ihre Bilder, welche als „entartet“ gelten würden, müssen Nelly und Heinrich zuhause verstecken, während die anderen KVD-Maler die Kunstfreiheit den neuen Begebenheiten opfern und hauptsächlich „landschaften“, also das Dachauer Moos in allen möglichen Ausführungen und Farben auf Leinwände pinseln. Heinrich sagt zu seinem Freund und damaligen KVD-Vorsitzenden August Kallert: „Ich muss heute malen, was ich malen muss, egal ob ich es jemals zeigen oder verkaufen kann.“ Kallert erwidert: „Deswegen landschafte ich jetzt. Um durch diese Zeit zu kommen.“ Die zwei Freunde spiegeln unterschiedliche Ansichten, wie man sich in der NS-Zeit verhalten sollte. Es ist bezeichnend, dass Heinrich Bürgers eine fiktive Person und August Kallert eine Person der Zeitgeschichte ist. In Deutschland, dem Land der Täter, gab es während der NS-Zeit hauptsächlich August Kallerts, die sich lieber anpassten als Widerstand zu leisten. So berührt der Roman beim Leser auch die große deutsche Identitätsfrage: Wie hätte man sich im Nationalsozialismus selbst verhalten? Anklagen wolle er mit seinem Buch niemanden, sagt Göttler. Er schildere die Zeit in Dachau so, „wie ich sie mir vorstelle“.
Führende Mitglieder der KVD hatten keine Probleme, sich den neuen Machthabern schnell anzubiedern. Im August 1933 jubilierte der Amperbote, wie der damalige KVD-Vorsitzende Walter von Ruckteschell „mit großer Ehre“ Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß zu einer Kunstausstellung im Schloss begrüßte. Und im Mai 1935 bestimmte Ruckteschell wieder die Schlagzeilen in Dachau. Dieses Mal hatte er den „Führer“ selbst getroffen.
Göttler zeigt mit seinem Roman auch, wie viele Menschen im Nationalsozialismus zu Mitläufern wurden, um Karriere zu machen. Deutlich wird dies bei Mitgliedern des Stadtrates, vor allem bei Hans Zauner, der seit 1935 zweiter und ab 1940 erster Beigeordneter des Bürgermeisters war. 1952 wählten ihn dann die Dachauer zum Bürgermeister. Zauner erregte international Empörung, als er 1960 zu einem britischen Journalisten sagte, dass im Konzentrationslager Verbrecher inhaftiert gewesen seien, die gegen die legitime Regierung opponiert hätten. In Göttlers Roman kommen aber freilich auch die stolzen Nationalsozialisten vor, wie der Dachauer NSDAP-Vorsitzende Robert Teufelhart, der sogenannte „Nazibäck“. Der Bäckermeister und seine Stammtischbrüder berauschen sich im Unterbräu an den neuen Machtverhältnissen, die ab 1933 in Dachau gelten, leben den „wahr gewordenen Traum“, schreibt Göttler. Bei einem dieser SA-Treffen referiert Teufelhart, dem Göttler äußerlich etwas „Schweinzbratenartiges“ zuschreibt, wie die Nazis mit ihrer Politik die Arbeitslosigkeit in Dachau beendet hätten. Die Arbeitsscheuen hätten etwas Besseres gefunden, so Teufelhart. Und die Unbelehrbaren seien im Lager. „Das war freilich Spekulation“, heißt es im Roman, „aber Teufelhart sagte es, als wüsste er es ganz genau. Es stand ja immer wieder in der Zeitung“.
Wieder führt Göttler hier als Quelle einen Bericht im Amperboten vom 19. April 1935 an, wonach „drei arbeitsscheue Männer“ aus Nürnberg ins Lager geschafft wurden. Reine Propagandapresse. Doch diese gleichgeschalteten Berichte sind ein Beleg für etwas, was viele nach dem Krieg verdrängten: Vom Lager gewusst haben alle in Dachau. Es stand ja in der Zeitung. Vielleicht ist dies die entscheidende Botschaft des neuen Romans von Florian Göttler.
Florian Göttler: Dachau 1933 – 1945. Teil I. BoD – Books on Demand, Norderstedt. 320 Seiten, 15 Euro. Teil II erscheint voraussichtlich Ende des Jahres.
„Ich wollte einen Roman aus dem Blickwinkel
der damaligen Zeit
schreiben“:
Florian Göttler an
seinem Arbeitstisch.
Foto: Niels P. Jørgensen
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Abgrundjahre
Florian Göttler baut in seinem neuen Roman
Satz um Satz das Porträt einer
Kleinstadt und ihrer Einwohner,
die sich dem Nationalsozialismus hingeben
VON THOMAS RADLMAIER
Wird Wahrheit weniger wahr, wenn man sie mithilfe der Fiktion inszeniert? Im Journalismus ist dies unbedingt zu bejahen, siehe den Skandal um den Spiegel-Reporter Claas Relotius, der sich für seine Reportagen den dort verbotenen Waffen der Fantasie bediente. In der Literatur dagegen ist die Vermischung von Fiktion und Fakten erlaubt. Sie kann sogar fruchtbar sein. Und sie kann den Leser nachhaltig erschüttern, so wie in Florian Göttlers neuem Roman „Dachau 1933 – 1945“.
Man liest darin diese Szene: Im Mai 1935 laufen die Kommunalpolitiker Robert Teufelhart und Hans Zauner – beide sind reale Personen der Zeitgeschichte – den Hügel zum Dachauer Rathaus hinauf, wo der Stadtrat tagt. Es schüttet wie aus Eimern. Sie kommen an einer Tafel aus Sperrholz vorbei. „Juden sind hier unerwünscht“, steht darauf mit im Regen zerrinnender Farbe. Zauner, der in der Realität nach dem Krieg noch Bürgermeister werden wird, empört sich über die Tafeln, die überall in Dachau zu finden sind. Später in der Stadtratssitzung bringt er das Thema zur Sprache. Der NSDAP-Bürgermeister Lambert Friedrichs verspricht, selbstverständlich werde man die Tafeln entfernen. „Die Stadt wird Sorge tragen, dass an ihrer Stelle entsprechend saubere Aufschriften treten.“
Ausgedacht hat sich Göttler, dass Zauner und Teufelhart zusammen den Berg hochgehen. Der Rest ist, nun ja, nichts als die Wahrheit. Göttler belegt dies mit einer Quelle: Der Amperbote berichtete in seiner Ausgabe vom 21. Mai 1935 über die Sitzung, in der die Stadträte die Tafeln thematisierten. Die Stadt ließ 1935 aus Sorge um den Ruf Dachaus provisorisch aufgehängte Tafeln mit antisemitischen Parolen aufhübschen.
Es gibt Dinge, die will man sich nicht mal ausdenken, dabei sind sie geschehen. Es ist eine respektable Leistung dieses Buches und seines Autors, ein unbequemes und lange verschwiegenes Kapitel der Dachauer Stadtgeschichte derart in Szene zu setzen.
Im März 1933, vor genau 90 Jahren ließen die Nationalsozialisten auf dem ehemaligen Gelände einer Pulverfabrik am Dachauer Stadtrand eines der ersten Konzentrationslager errichten. Bis 1945 starben darin mehr als 41 500 Häftlinge. Heute weiß man, dass sich in Dachau das Tor zur Hölle von Auschwitz öffnete.
Weniger bekannt ist der Stoff, den Göttler in seinem Roman verarbeitet. Der gebürtige Dachauer zeigt, wie das Virus des nationalsozialistischen Hasses nur wenige Wochen nach der sogenannten „Machtergreifung“ die Stadtgesellschaft in unmittelbarer Nachbarschaft zum Lager befällt und über zwölf Jahre hinweg in den moralischen Abgrund stürzt. Man liest, wie ein Bürgermeister schnell zur NSDAP wechselt, um die Karrierechancen zu verbessern. Wie ein Pfarrer Gottesdienst in Uniform hält. Oder wie sich führende Mitglieder der Künstlervereinigung Dachau (KVD) den neuen Machthabern anbiedern, um Bilder zu vermarkten. Und wie gleichgültig es den allermeisten Dachauern ist, dass die Nazis am Stadtrand unschuldige Menschen einsperren und sämtliche Grundrechte außer Kraft setzen. So entsteht Satz um Satz ein auf wahren Begebenheiten basierendes Porträt einer Kleinstadt und ihrer Einwohner, die sich dem Nationalsozialismus hingeben.
Florian Göttler kennt man in Dachau. Der 45-Jährige ist bei der Stadt angestellt und dort für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Nebenbei schrieb er bisher satirische Romane oder trashige Kurzgeschichten. „Dachau 1933 – 1945“ ist sein fünfter und bisher ernstester Roman. Zwei Jahre hat er daran gearbeitet und recherchiert. Er las etwa 3500 Ausgaben des Amperboten, die zwischen 1933 und 1945 erschienen. Das Lokalblatt, das heute noch existiert, war ab März 1933 gleichgeschaltet. Die Artikel wendeten sich an die bürgerliche Mitte der NS-Gesellschaft. Zu lesen gab es Berichte aus dem Stadtrat oder über Aufmärsche, Faschingsbälle, das Volksfest sowie Besprechungen von Kunstausstellungen.
Auch über das Konzentrationslager wurde bis Mitte der 30er-Jahre regelmäßig berichtet, die menschenunwürdigen Verhältnisse und die Situation der Häftlinge beschönigt. Man kann bei Göttler nachlesen, wie das Lager bei den Dachauern nach und nach zur Gewohnheit wurde und sogar Eingang in den stocksteifen bürgerlichen Humor fand. An einer Stelle lässt er sich von einer Zeitungsmeldung inspirieren, der zufolge ein Bauer einen kritischen Kollegen ermahnt haben soll: „Hör auf mit dei’m Kritisieren, sonst kommst ins Kongregationslager nach Dachau.“
Solche grotesken Stellen, in denen Fakten im Umfeld der Fiktion aufblitzen, finden sich immer wieder im Roman. Göttler belegt sie mit Hunderten Verweisen auf entsprechende Artikel des Amperboten. Diese Quellen finden sich im Schnitt auf jeder dritten Seite. Göttler konstruiert immer wieder Szenen, wie zum Beispiel die Sache mit den antisemitischen Tafeln, von denen man heute denkt, das kann doch nicht wahr sein. Bis man am Ende des Absatzes die Quelle findet, eine datierte Ausgabe des Amperboten, der dies genauso berichtete. Als wolle Göttler dem Leser sagen: Du magst es nicht glauben? Hier hast du den Beweis. Auch das Entlanghangeln an Zeitungsberichten zeichnet diesen Roman aus.
Göttler imitiert phasenweise die Sprache des Lokaljournalismus der 30er-Jahre, dann liest sich sein Roman wie ein Tatsachenbericht, der aber natürlich größtenteils erfunden ist. Der aus heutiger Sicht eigentümliche Schreibstil strotzt vor Biederkeit und Borniertheit. Allein 800 Seiten des Amperboten habe er gelesen, „um in die Sprache zu kommen“, sagt Göttler. Er wollte einen authentischen Roman schreiben, „aus dem Blickwinkel der damaligen Zeit und nicht mit dem Wissen von heute“.
„Dachau 1933 – 1945“ ist auch ein Kunstroman. Fast alle Charaktere, die auftreten, sind Personen der Zeitgeschichte. Nur die beiden Hauptprotagonisten im ersten Teil seines zweibändigen Werkes hat Göttler erfunden: Heinrich Bürgers, der schnöselige Neffe des Dachauer Landschaftsmalers Felix Bürgers, und dessen jüdische Verlobte Nelly, die Wunderschöne, das „menschgewordene Meisterwerk“.
Sie sind junge talentierte Maler und versuchen, in der Künstlervereinigung Dachau Fuß zu fassen und mit dem Verkauf ihrer Bilder Geld zu verdienen. Man begleitet sie zu Ausstellungen im Schloss, Kinoabenden oder Faschingsbällen, welche die KVD dekoriert. Doch je mehr der Antisemitismus alle Bereiche der Gesellschaft erfasst, desto mehr wird Nelly ausgegrenzt. Das Standesamt verbietet ihr, Heinrich zu heiraten. Der Vorstand lehnt ihre Mitgliedschaft in der KVD partout ab. Als Leser mit dem Wissen von heute ahnt man, dass es für Nelly nur in der Katastrophe enden kann. Diese aber flüchtet sich in die Hoffnung, dass ihre Freunde ihr bestimmt helfen werden. Schließlich sagt sie: „Sogar einem wie dem Kneißl haben die Leute geholfen.“ Eine vergebliche Hoffnung, wie sie viele Juden in Deutschland während der NS-Zeit hegten.
Ihre Bilder, welche als „entartet“ gelten würden, müssen Nelly und Heinrich zuhause verstecken, während die anderen KVD-Maler die Kunstfreiheit den neuen Begebenheiten opfern und hauptsächlich „landschaften“, also das Dachauer Moos in allen möglichen Ausführungen und Farben auf Leinwände pinseln. Heinrich sagt zu seinem Freund und damaligen KVD-Vorsitzenden August Kallert: „Ich muss heute malen, was ich malen muss, egal ob ich es jemals zeigen oder verkaufen kann.“ Kallert erwidert: „Deswegen landschafte ich jetzt. Um durch diese Zeit zu kommen.“ Die zwei Freunde spiegeln unterschiedliche Ansichten, wie man sich in der NS-Zeit verhalten sollte. Es ist bezeichnend, dass Heinrich Bürgers eine fiktive Person und August Kallert eine Person der Zeitgeschichte ist. In Deutschland, dem Land der Täter, gab es während der NS-Zeit hauptsächlich August Kallerts, die sich lieber anpassten als Widerstand zu leisten. So berührt der Roman beim Leser auch die große deutsche Identitätsfrage: Wie hätte man sich im Nationalsozialismus selbst verhalten? Anklagen wolle er mit seinem Buch niemanden, sagt Göttler. Er schildere die Zeit in Dachau so, „wie ich sie mir vorstelle“.
Führende Mitglieder der KVD hatten keine Probleme, sich den neuen Machthabern schnell anzubiedern. Im August 1933 jubilierte der Amperbote, wie der damalige KVD-Vorsitzende Walter von Ruckteschell „mit großer Ehre“ Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß zu einer Kunstausstellung im Schloss begrüßte. Und im Mai 1935 bestimmte Ruckteschell wieder die Schlagzeilen in Dachau. Dieses Mal hatte er den „Führer“ selbst getroffen.
Göttler zeigt mit seinem Roman auch, wie viele Menschen im Nationalsozialismus zu Mitläufern wurden, um Karriere zu machen. Deutlich wird dies bei Mitgliedern des Stadtrates, vor allem bei Hans Zauner, der seit 1935 zweiter und ab 1940 erster Beigeordneter des Bürgermeisters war. 1952 wählten ihn dann die Dachauer zum Bürgermeister. Zauner erregte international Empörung, als er 1960 zu einem britischen Journalisten sagte, dass im Konzentrationslager Verbrecher inhaftiert gewesen seien, die gegen die legitime Regierung opponiert hätten. In Göttlers Roman kommen aber freilich auch die stolzen Nationalsozialisten vor, wie der Dachauer NSDAP-Vorsitzende Robert Teufelhart, der sogenannte „Nazibäck“. Der Bäckermeister und seine Stammtischbrüder berauschen sich im Unterbräu an den neuen Machtverhältnissen, die ab 1933 in Dachau gelten, leben den „wahr gewordenen Traum“, schreibt Göttler. Bei einem dieser SA-Treffen referiert Teufelhart, dem Göttler äußerlich etwas „Schweinzbratenartiges“ zuschreibt, wie die Nazis mit ihrer Politik die Arbeitslosigkeit in Dachau beendet hätten. Die Arbeitsscheuen hätten etwas Besseres gefunden, so Teufelhart. Und die Unbelehrbaren seien im Lager. „Das war freilich Spekulation“, heißt es im Roman, „aber Teufelhart sagte es, als wüsste er es ganz genau. Es stand ja immer wieder in der Zeitung“.
Wieder führt Göttler hier als Quelle einen Bericht im Amperboten vom 19. April 1935 an, wonach „drei arbeitsscheue Männer“ aus Nürnberg ins Lager geschafft wurden. Reine Propagandapresse. Doch diese gleichgeschalteten Berichte sind ein Beleg für etwas, was viele nach dem Krieg verdrängten: Vom Lager gewusst haben alle in Dachau. Es stand ja in der Zeitung. Vielleicht ist dies die entscheidende Botschaft des neuen Romans von Florian Göttler.
Florian Göttler: Dachau 1933 – 1945. Teil I. BoD – Books on Demand, Norderstedt. 320 Seiten, 15 Euro. Teil II erscheint voraussichtlich Ende des Jahres.
„Ich wollte einen Roman aus dem Blickwinkel
der damaligen Zeit
schreiben“:
Florian Göttler an
seinem Arbeitstisch.
Foto: Niels P. Jørgensen
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