«Dad» ist ein Roman über einen Hippie-Vater, aber auch eine Reise in das Deutschland der 60er, 70er, 80er, 90er und Nullerjahre, in die Maghreb-Staaten und in viele Winkel Asiens. Die Ehe der Eltern, den Vater, die Wurstwarendynastie, aus der er stammte - das alles gibt es nicht mehr. Geblieben sind Geschichten von Drogentrips. Oder wie «Dad» als Student angeschossen wurde. Von großen Abenteuern. Und dem einen, das kein happy end hat, der HIV-Infektion, die er von einer seiner Reisen mitgebracht hat. «Mein Vater ist seit zehn Jahren tot, als ich ein blassblaues Notizbuch nehme und DAD vorne drauf schreibe. Das ist der Anfang.» Dies ist eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Sucht und Sehnsucht und über eine junge Frau, die versucht zu verzeihen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2020Keine
Heldengeschichte
Der Vater, eine Leerstelle: Nora
Gantenbrinks Debütroman „Dad“
Zwölf Jahre, nachdem ihr Vater gestorben ist, reist eine junge Frau allein nach Marokko, Indien und Thailand, wo ihr Dad alle möglichen Drogen ausprobiert, mit allen möglichen Frauen geschlafen und sich schließlich mit HIV infiziert hat. Sie, Marlene, sucht Menschen, die ihren Vater besser gekannt haben, sie sucht ihren Vater. Sie findet: zu sich selbst. Und sie findet heraus, dass man irgendwann aufhören kann, zurückzublicken.
Nora Gantenbrink, 34, ist seit 2013 Reporterin beim Stern – und hat neben dem Vollzeitjob nun ihren ersten Roman geschrieben: „Dad“, ein berührender Coming-of-Age-Roman. Gantenbrink schafft es, die wuchtigen Themen Trauer und Tod, Familie und Freundschaft ganz fein und lakonisch zu behandeln. In „Dad“ spinnt sie ihre eigene Biografie weiter: Wie der Vater ihrer Protagonistin Marlene war auch Gantenbrinks Vater in ihrer Kindheit und Jugend selten da; wie der Vater ihrer Protagonistin starb er an Aids. Und wie Marlene wollte Gantenbrink die Leerstellen in ihrer Vergangenheit füllen. „Dad“ enthält aber auch Fiktionales; es sollte in dem Buch nicht nur um sie selbst gehen, sagt Gantenbrink in Interviews. Auf dem Cover ist trotzdem ihr eigener Vater zu sehen.
Der Vater der Protagonistin Marlene also ist nie da, wenn etwas Wichtiges passiert in Marlenes Leben. Zuhause in der Provinz, im Eisenwald, besitzt Marlenes Familie eine Fleischwarenfabrik. Sie probiert mit ihren Freunden Oleg und Leonie zum ersten Mal Gras und Knutschen aus, nachts brechen die drei ins Freibad ein. Draußen kokst und vögelt sich ihr Vater durch die Welt. Bis er ins Krankenhaus kommt und stirbt. Marlene liest sein letztes Buch für ihn zu Ende, 28 Seiten, aber für sie ist damit nichts zu Ende. Sie zieht nach Hamburg, in eine Altbauwohnung am Transenstrich, und irgendwann nimmt sie ein blassblaues Notizbuch aus ihrem Sekretär, schreibt „Dad“ vorne drauf und macht sich auf die Reise. Zurück in den Eisenwald und dann weiter nach Marrakesch, Goa und Koh Samui, zu den Weggefährten ihres Vaters, die alt geworden sind.
Gantenbrinks Figuren, vor allem Marlenes Vater, sind ungewöhnlich, aber trotzdem so glaubwürdig beschrieben, dass man sie irgendwie für ganz normal hält. Gantenbrink findet im Einfachen das Besondere: Es ist eine Coca-Cola-Polyesterdecke, in die gehüllt Marlene nach der Beerdigung ihres Vaters endlich schlafen kann, und man versteht, warum es genau diese Decke sein muss. Gantenbrink lässt das Ungewöhnliche mit dem Gewöhnlichen zusammenprallen: „Ich erinnere mich daran, dass Dad mir vor Jahren von der amerikanischen Sängerin Janis Joplin vorgeschwärmt hat. Angeblich hat sie mal gesagt: Besser 25 gute Jahre leben als 70 beschissene. Und das sei auch sein Motto, hatte mein Vater damals gemeint. Ich suche Musik von der texanischen Sängerin und schalte sie an. Joplin starb mit 27 an einer Überdosis Heroin. Und die A1 Richtung Eisenwald ist wie immer voller Baustellen.“
Manchmal springt Gantenbrink in ihrer Erzählung, manchmal fehlen Szenen. Man kann der Handlung trotzdem folgen. Und sogar diese Lückenhaftigkeit passt: Wenn wir uns erinnern, dann in Bruchstücken. Wir erklären uns nicht selbst das Offensichtliche, denken nicht: „Mein Vater ist gestorben“, bevor etwas aus der Zeit nach seinem Tod im Kopf auftaucht.
So glaubwürdig Gantenbrinks Figuren sind – was sie erleben, ist häufig ein bisschen drüber. Wohl mit Absicht. Auf ihrer Reise findet Marlene zu schnell die, die sie sucht. Man akzeptiert das, weil die Figuren und die Geschichte vielschichtig genug sind, aber berührend sind vor allem die alltäglichen Momente.
Gantenbrink schreibt einfache, oft komische Sätze. Sie findet die wenigen richtigen Worte: „Als Jugendliche fuhren wir oft auf einen der Hügel rund um den Eisenwald, schauten auf die Stadt und sehnten uns“, sagt Marlene – und damit ist alles gesagt. Gantenbrink streut kleine Weisheiten ein, die sich nie aufdrängen, wie diese: „Angst kann Menschen trinken.“ Sie spielt mit Sprache, verknüpft Bedeutungen: Marlenes Vater gleicht einer „Vater Morgana“; Marlene findet, dass Leonie sich für ihren Freund aufgibt, hört aber irgendwann auf, deshalb mit ihr zu streiten. Gantenbrink erzählt schnell, aber nicht oberflächlich. Nur, wenn sie Marlenes Freundinnen vom Transenstrich beschreibt, schrammt sie gefährlich knapp am Klischee vorbei.
Als sie nach Hause zurückkommt, stellt Marlene fest: „Am Ende ist die Geschichte meines Vaters keine Heldengeschichte geworden, weil mein Vater eben kein Held war.“ Und so ist auch „Dad“ keine Heldengeschichte geworden. Aber ein kluges, unaufdringliches, humorvolles Buch. Denn: „Die meisten Menschen sind keine Helden.“
AGNES STRIEGAN
Besser 25 gute Jahre leben,
als 70 beschissene, hat schon
Janis Jopin gesagt
Nora Gantenbrink:
Dad.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2020.
231 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Heldengeschichte
Der Vater, eine Leerstelle: Nora
Gantenbrinks Debütroman „Dad“
Zwölf Jahre, nachdem ihr Vater gestorben ist, reist eine junge Frau allein nach Marokko, Indien und Thailand, wo ihr Dad alle möglichen Drogen ausprobiert, mit allen möglichen Frauen geschlafen und sich schließlich mit HIV infiziert hat. Sie, Marlene, sucht Menschen, die ihren Vater besser gekannt haben, sie sucht ihren Vater. Sie findet: zu sich selbst. Und sie findet heraus, dass man irgendwann aufhören kann, zurückzublicken.
Nora Gantenbrink, 34, ist seit 2013 Reporterin beim Stern – und hat neben dem Vollzeitjob nun ihren ersten Roman geschrieben: „Dad“, ein berührender Coming-of-Age-Roman. Gantenbrink schafft es, die wuchtigen Themen Trauer und Tod, Familie und Freundschaft ganz fein und lakonisch zu behandeln. In „Dad“ spinnt sie ihre eigene Biografie weiter: Wie der Vater ihrer Protagonistin Marlene war auch Gantenbrinks Vater in ihrer Kindheit und Jugend selten da; wie der Vater ihrer Protagonistin starb er an Aids. Und wie Marlene wollte Gantenbrink die Leerstellen in ihrer Vergangenheit füllen. „Dad“ enthält aber auch Fiktionales; es sollte in dem Buch nicht nur um sie selbst gehen, sagt Gantenbrink in Interviews. Auf dem Cover ist trotzdem ihr eigener Vater zu sehen.
Der Vater der Protagonistin Marlene also ist nie da, wenn etwas Wichtiges passiert in Marlenes Leben. Zuhause in der Provinz, im Eisenwald, besitzt Marlenes Familie eine Fleischwarenfabrik. Sie probiert mit ihren Freunden Oleg und Leonie zum ersten Mal Gras und Knutschen aus, nachts brechen die drei ins Freibad ein. Draußen kokst und vögelt sich ihr Vater durch die Welt. Bis er ins Krankenhaus kommt und stirbt. Marlene liest sein letztes Buch für ihn zu Ende, 28 Seiten, aber für sie ist damit nichts zu Ende. Sie zieht nach Hamburg, in eine Altbauwohnung am Transenstrich, und irgendwann nimmt sie ein blassblaues Notizbuch aus ihrem Sekretär, schreibt „Dad“ vorne drauf und macht sich auf die Reise. Zurück in den Eisenwald und dann weiter nach Marrakesch, Goa und Koh Samui, zu den Weggefährten ihres Vaters, die alt geworden sind.
Gantenbrinks Figuren, vor allem Marlenes Vater, sind ungewöhnlich, aber trotzdem so glaubwürdig beschrieben, dass man sie irgendwie für ganz normal hält. Gantenbrink findet im Einfachen das Besondere: Es ist eine Coca-Cola-Polyesterdecke, in die gehüllt Marlene nach der Beerdigung ihres Vaters endlich schlafen kann, und man versteht, warum es genau diese Decke sein muss. Gantenbrink lässt das Ungewöhnliche mit dem Gewöhnlichen zusammenprallen: „Ich erinnere mich daran, dass Dad mir vor Jahren von der amerikanischen Sängerin Janis Joplin vorgeschwärmt hat. Angeblich hat sie mal gesagt: Besser 25 gute Jahre leben als 70 beschissene. Und das sei auch sein Motto, hatte mein Vater damals gemeint. Ich suche Musik von der texanischen Sängerin und schalte sie an. Joplin starb mit 27 an einer Überdosis Heroin. Und die A1 Richtung Eisenwald ist wie immer voller Baustellen.“
Manchmal springt Gantenbrink in ihrer Erzählung, manchmal fehlen Szenen. Man kann der Handlung trotzdem folgen. Und sogar diese Lückenhaftigkeit passt: Wenn wir uns erinnern, dann in Bruchstücken. Wir erklären uns nicht selbst das Offensichtliche, denken nicht: „Mein Vater ist gestorben“, bevor etwas aus der Zeit nach seinem Tod im Kopf auftaucht.
So glaubwürdig Gantenbrinks Figuren sind – was sie erleben, ist häufig ein bisschen drüber. Wohl mit Absicht. Auf ihrer Reise findet Marlene zu schnell die, die sie sucht. Man akzeptiert das, weil die Figuren und die Geschichte vielschichtig genug sind, aber berührend sind vor allem die alltäglichen Momente.
Gantenbrink schreibt einfache, oft komische Sätze. Sie findet die wenigen richtigen Worte: „Als Jugendliche fuhren wir oft auf einen der Hügel rund um den Eisenwald, schauten auf die Stadt und sehnten uns“, sagt Marlene – und damit ist alles gesagt. Gantenbrink streut kleine Weisheiten ein, die sich nie aufdrängen, wie diese: „Angst kann Menschen trinken.“ Sie spielt mit Sprache, verknüpft Bedeutungen: Marlenes Vater gleicht einer „Vater Morgana“; Marlene findet, dass Leonie sich für ihren Freund aufgibt, hört aber irgendwann auf, deshalb mit ihr zu streiten. Gantenbrink erzählt schnell, aber nicht oberflächlich. Nur, wenn sie Marlenes Freundinnen vom Transenstrich beschreibt, schrammt sie gefährlich knapp am Klischee vorbei.
Als sie nach Hause zurückkommt, stellt Marlene fest: „Am Ende ist die Geschichte meines Vaters keine Heldengeschichte geworden, weil mein Vater eben kein Held war.“ Und so ist auch „Dad“ keine Heldengeschichte geworden. Aber ein kluges, unaufdringliches, humorvolles Buch. Denn: „Die meisten Menschen sind keine Helden.“
AGNES STRIEGAN
Besser 25 gute Jahre leben,
als 70 beschissene, hat schon
Janis Jopin gesagt
Nora Gantenbrink:
Dad.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2020.
231 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gantenbrink lässt das Ungewöhnliche mit dem Gewöhnlichen zusammenprallen. Ein kluges, unaufdringliches, humorvolles Buch. Agnes Striegan Süddeutsche Zeitung 20200708