Nerven am Rande des Weltzusammenbruchs.
100 Jahre DADA
DADA: Waren das nicht schräge Verkleidungen, schrille Happenings, provokanter Nonsens, kurz: viel Lärm gegen das Nichts einer Kultur, die den Ersten Weltkrieg möglich gemacht hatten? Auch. Vor allem aber ist DADA eine Bewegung von Künstlern und Lebensstrategen, die lustvoll-kämpferisch auf eine unübersichtlich gewordene Welt reagierte. Martin Mittelmeier zeigt, wie überraschend aktuell diese Antworten sind und wie DADA noch immer die Kultur der Gegenwart beeinflusst.
Im Februar 1916 gründet mitten im Krieg im neutralen Zürich eine kleine Gruppe von Künstlern, Literaten und Theaterleuten das Cabaret Voltaire, in dem sich alsbald Unerhörtes abspielt. Hugo Ball zwängt sich in ein obeliskenartiges Kostüm und singt sinnlose Lautverse, Richard Huelsenbeck trommelt erfundene »Negerlieder« und Tristan Tzara dirigiert eine Kakophonie aus simultanem Gebrüll. DADA ist geboren und infiziert von Zürich aus die ganze Welt. Der Charakter von DADA ändert sich mit jedem Ort, denn die Dadaisten sind entschlossen, aus DADA kein neues Programm zu machen. Deswegen ist DADA, nach den Ready-mades von Duchamp, den Montagen von Grosz und Heartfield und den Skandalen im Paris von Breton rasch wieder vorbei. Aber es wirkt bis heute nach. Martin Mittelmeier flaniert und staunt mit uns durch das DADAUniversum, lässt uns teilhaben an der Vielzahl der DADA-Subversionen und zeigt, wie geschickt, verzweifelt und irrwitzig die Dadaisten auf die Probleme einer unmäßig komplex werdenden Welt reagierten, die der unsrigen zum Verwechseln ähnelt.
Ausstattung: mit Abbildungen
100 Jahre DADA
DADA: Waren das nicht schräge Verkleidungen, schrille Happenings, provokanter Nonsens, kurz: viel Lärm gegen das Nichts einer Kultur, die den Ersten Weltkrieg möglich gemacht hatten? Auch. Vor allem aber ist DADA eine Bewegung von Künstlern und Lebensstrategen, die lustvoll-kämpferisch auf eine unübersichtlich gewordene Welt reagierte. Martin Mittelmeier zeigt, wie überraschend aktuell diese Antworten sind und wie DADA noch immer die Kultur der Gegenwart beeinflusst.
Im Februar 1916 gründet mitten im Krieg im neutralen Zürich eine kleine Gruppe von Künstlern, Literaten und Theaterleuten das Cabaret Voltaire, in dem sich alsbald Unerhörtes abspielt. Hugo Ball zwängt sich in ein obeliskenartiges Kostüm und singt sinnlose Lautverse, Richard Huelsenbeck trommelt erfundene »Negerlieder« und Tristan Tzara dirigiert eine Kakophonie aus simultanem Gebrüll. DADA ist geboren und infiziert von Zürich aus die ganze Welt. Der Charakter von DADA ändert sich mit jedem Ort, denn die Dadaisten sind entschlossen, aus DADA kein neues Programm zu machen. Deswegen ist DADA, nach den Ready-mades von Duchamp, den Montagen von Grosz und Heartfield und den Skandalen im Paris von Breton rasch wieder vorbei. Aber es wirkt bis heute nach. Martin Mittelmeier flaniert und staunt mit uns durch das DADAUniversum, lässt uns teilhaben an der Vielzahl der DADA-Subversionen und zeigt, wie geschickt, verzweifelt und irrwitzig die Dadaisten auf die Probleme einer unmäßig komplex werdenden Welt reagierten, die der unsrigen zum Verwechseln ähnelt.
Ausstattung: mit Abbildungen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2016Frech sein ohne Rücksicht auf Verluste
Hundert Jahre Anti-Kultur: Martin Mittelmeier legt eine hervorragende Geschichte des Dadaismus vor
Martialische Proklamationen und steile Manifeste hängen gerahmt in der guten Stube rechtschaffener Avantgardisten wie der röhrende Hirsch beim Spießer. Das "Futuristische Manifest" aus der Feder von Filippo Marinetti erschien 1909. Aber weil die deutschen Avantgarden einen grotesken Witz als nordisches Erbteil besaßen, durchschauten sie auch dieses Spiel sehr schnell. 1913 erließ Franz Pfemfert, Herausgeber der Zeitschrift "Die Aktion", einen "Aufruf zum Manifestantismus". Von nun an gehörte auch der Bluff zur Avantgarde-Strategie. Vermutlich war es wiederum Pfemfert, der 1915 den "Impertinentismus" proklamierte: "Wir tun so, als ob wir Maler, Dichter oder sonst was wären, aber wir sind nur und nichts als mit Wollust frech."
Dies alles war vor Dada, es war der Nährboden einer Bewegung, die sich als Attacke auf die Kunst mit künstlerischen Mitteln verstehen lässt. Das höchste Niveau der Verfeinerung war in der bürgerlichen Kultur erreicht; weiter ging es nur noch mit hochintelligenter Unterbietung, raffinierter Primitivierung.
1918 trug Richard Huelsenbeck das "Dadaistische Manifest" in Berlin vor, unterzeichnet wurde es von dem Rumänen Tristan Tzara, George Grosz, Franz Jung, Raoul Hausmann, Hans Arp und dessen Frau Sophie Taeuber. Aber schon vorher hatte Hugo Ball in Zürich am "Ersten Dada-Abend" ein "Eröffnungs-Manifest" verlesen: "Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit. Wie kann man alles Aalige und Journalige, alles Nette und Adrette, alles Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Indem man Dada sagt. Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt."
Was die dichterischen Formen im Einzelnen angeht, so genoss das sinnfreie Lautgedicht die höchste Autorität. Hugo Ball trug 1917 in Zürich bei einem der ersten Dada-Abende im "Cabaret Voltaire" in feierlich-priesterlicher Weise eines der bekanntesten vor: "Gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori". Christian Morgenstern war ihm 1905 vorangegangen mit dem "Großen Lalula" - "Kroklokwafzi? Semememi!". Der Futurismus wollte nicht abseitsstehen: "Marinetti ist in der Tat ein Kerl. Er trug auf höchst virtuose Weise ein ,Lärmgedicht' vor: Pferdewiehern, Kanonendonner, Wagenrasseln und Maschinengewehrfeuer etc.", meldete Walter Benjamin 1924 aus Capri. In der frühen Phase des Dadaismus stand Marinetti in hohem Ansehen.
Es ist das Verdienst von Martin Mittelmeier, den großen Kosmos gegen- und antikultureller Bestrebungen zu schildern, der sich in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg entfaltete. Mittelmeier erzählt sehr unterhaltsam, und nichts entgeht seinem Blick. Der fruchtbare Boden des Vorkriegs-anarchismus und der sexualrevolutionären Boheme - Otto Gross plante nichts Geringeres als die Zerschlagung der Familie - werden auf schöne Weise plastisch. Und die beim Gegenstand erwartbare Phraseologie (etwa "schrillschräg") hält sich in Grenzen. Gewiss ein künftiges Hausbuch!
Dada war, anders als der Surrealismus, eine sehr deutsche Bewegung. Während der Surrealismus, französisch-romanisch geprägt, auf die Eroberungen neuer Erfahrungsdimensionen ging, mit dem Traum und dem Unbewussten als Königswegen, überwog bei Dada die aggressive, manchmal auch gallige Geste. Ansonsten gab es Kraut und Rüben: echte Künstler wie Hannah Höch, Kurt Schwitters, Hans Arp und Raoul Hausmann, einen echten Verrückten wie den Architekten Johannes Baader, der sich selbst den "Oberdada" und "Präsidenten des Erdballs" nannte. Für einen kommenden "Internationalen interreligiösen Menschenbund" entwarf er 1906 eine Kathedrale: tausend Meter hoch, ebenso breit, "durchzogen und durchbaut von Sälen und Hallen, Kirchen und Kapellen, Nischen, Gängen, Mausoleen, Katakomben, Galerien, Treppen, Aufzügen und Laufbahnen." Albert Speers "Germania" nimmt sich dagegen fast mickrig aus.
Wieder andere gingen 1918 sofort in die gerade gegründete Kommunistische Partei wie die Brüder Wieland Herzfelde und John Heartfield, wo sie im Sinne der kulturellen Propaganda Hervorragendes leisteten. George Grosz hatte sich ihnen angeschlossen, ging aber bald eigene Wege im Fach des Blasphemischen und Brutal-Kritischen; seine Lebenserinnerungen, 1955 unter dem Titel "Ein kleines Ja und ein großes Nein" erschienen, sind erfreulich durch die Abwesenheit von nachträglicher Glorifizierung der Bewegung. Mittelmeier glänzt vor allem in der lebhaften Schilderung der Räume und Konstellationen, die sich beim Übergang Dadas von Zürich nach Berlin ergaben.
Hugo Ball, der schon als Dada-Performer eine priesterliche Attitüde pflegte, wurde katholisch; vom Lautgedicht zum Logos war der Weg nicht allzu weit. Sein bis heute bekanntestes Buch, "Zur Kritik der deutschen Intelligenz", 1919 in Bern erschienen, war metaphysisches Antideutschtum und wurde von den diplomatischen Vertretungen der Entente in Bern finanziert. Pirmasens, die Geburtsstadt Balls, hatte zwischen 1793 und 1815 zu Frankreich gehört. Im Frühjahr 1919 reiste Ball im Tross von François-Émile Haguenin, einem französischen Diplomaten, der vor dem Versailler Vertrag in Berlin die Lage sondieren sollte. In Balls Aufruf vom 1. März 1919 "An unsere Freunde und Kameraden" las man, es gehe um die "Weltrevolution ,gegen' Deutschland". Auch das könnte man als "schrillschräg" bezeichnen, aber es kommt kein Lachen mehr auf.
LORENZ JÄGER
Martin Mittelmeier: "DADA". Eine Jahrhundertgeschichte.
Siedler Verlag, München 2016. 272 S., Abb., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hundert Jahre Anti-Kultur: Martin Mittelmeier legt eine hervorragende Geschichte des Dadaismus vor
Martialische Proklamationen und steile Manifeste hängen gerahmt in der guten Stube rechtschaffener Avantgardisten wie der röhrende Hirsch beim Spießer. Das "Futuristische Manifest" aus der Feder von Filippo Marinetti erschien 1909. Aber weil die deutschen Avantgarden einen grotesken Witz als nordisches Erbteil besaßen, durchschauten sie auch dieses Spiel sehr schnell. 1913 erließ Franz Pfemfert, Herausgeber der Zeitschrift "Die Aktion", einen "Aufruf zum Manifestantismus". Von nun an gehörte auch der Bluff zur Avantgarde-Strategie. Vermutlich war es wiederum Pfemfert, der 1915 den "Impertinentismus" proklamierte: "Wir tun so, als ob wir Maler, Dichter oder sonst was wären, aber wir sind nur und nichts als mit Wollust frech."
Dies alles war vor Dada, es war der Nährboden einer Bewegung, die sich als Attacke auf die Kunst mit künstlerischen Mitteln verstehen lässt. Das höchste Niveau der Verfeinerung war in der bürgerlichen Kultur erreicht; weiter ging es nur noch mit hochintelligenter Unterbietung, raffinierter Primitivierung.
1918 trug Richard Huelsenbeck das "Dadaistische Manifest" in Berlin vor, unterzeichnet wurde es von dem Rumänen Tristan Tzara, George Grosz, Franz Jung, Raoul Hausmann, Hans Arp und dessen Frau Sophie Taeuber. Aber schon vorher hatte Hugo Ball in Zürich am "Ersten Dada-Abend" ein "Eröffnungs-Manifest" verlesen: "Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit. Wie kann man alles Aalige und Journalige, alles Nette und Adrette, alles Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Indem man Dada sagt. Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt."
Was die dichterischen Formen im Einzelnen angeht, so genoss das sinnfreie Lautgedicht die höchste Autorität. Hugo Ball trug 1917 in Zürich bei einem der ersten Dada-Abende im "Cabaret Voltaire" in feierlich-priesterlicher Weise eines der bekanntesten vor: "Gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori". Christian Morgenstern war ihm 1905 vorangegangen mit dem "Großen Lalula" - "Kroklokwafzi? Semememi!". Der Futurismus wollte nicht abseitsstehen: "Marinetti ist in der Tat ein Kerl. Er trug auf höchst virtuose Weise ein ,Lärmgedicht' vor: Pferdewiehern, Kanonendonner, Wagenrasseln und Maschinengewehrfeuer etc.", meldete Walter Benjamin 1924 aus Capri. In der frühen Phase des Dadaismus stand Marinetti in hohem Ansehen.
Es ist das Verdienst von Martin Mittelmeier, den großen Kosmos gegen- und antikultureller Bestrebungen zu schildern, der sich in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg entfaltete. Mittelmeier erzählt sehr unterhaltsam, und nichts entgeht seinem Blick. Der fruchtbare Boden des Vorkriegs-anarchismus und der sexualrevolutionären Boheme - Otto Gross plante nichts Geringeres als die Zerschlagung der Familie - werden auf schöne Weise plastisch. Und die beim Gegenstand erwartbare Phraseologie (etwa "schrillschräg") hält sich in Grenzen. Gewiss ein künftiges Hausbuch!
Dada war, anders als der Surrealismus, eine sehr deutsche Bewegung. Während der Surrealismus, französisch-romanisch geprägt, auf die Eroberungen neuer Erfahrungsdimensionen ging, mit dem Traum und dem Unbewussten als Königswegen, überwog bei Dada die aggressive, manchmal auch gallige Geste. Ansonsten gab es Kraut und Rüben: echte Künstler wie Hannah Höch, Kurt Schwitters, Hans Arp und Raoul Hausmann, einen echten Verrückten wie den Architekten Johannes Baader, der sich selbst den "Oberdada" und "Präsidenten des Erdballs" nannte. Für einen kommenden "Internationalen interreligiösen Menschenbund" entwarf er 1906 eine Kathedrale: tausend Meter hoch, ebenso breit, "durchzogen und durchbaut von Sälen und Hallen, Kirchen und Kapellen, Nischen, Gängen, Mausoleen, Katakomben, Galerien, Treppen, Aufzügen und Laufbahnen." Albert Speers "Germania" nimmt sich dagegen fast mickrig aus.
Wieder andere gingen 1918 sofort in die gerade gegründete Kommunistische Partei wie die Brüder Wieland Herzfelde und John Heartfield, wo sie im Sinne der kulturellen Propaganda Hervorragendes leisteten. George Grosz hatte sich ihnen angeschlossen, ging aber bald eigene Wege im Fach des Blasphemischen und Brutal-Kritischen; seine Lebenserinnerungen, 1955 unter dem Titel "Ein kleines Ja und ein großes Nein" erschienen, sind erfreulich durch die Abwesenheit von nachträglicher Glorifizierung der Bewegung. Mittelmeier glänzt vor allem in der lebhaften Schilderung der Räume und Konstellationen, die sich beim Übergang Dadas von Zürich nach Berlin ergaben.
Hugo Ball, der schon als Dada-Performer eine priesterliche Attitüde pflegte, wurde katholisch; vom Lautgedicht zum Logos war der Weg nicht allzu weit. Sein bis heute bekanntestes Buch, "Zur Kritik der deutschen Intelligenz", 1919 in Bern erschienen, war metaphysisches Antideutschtum und wurde von den diplomatischen Vertretungen der Entente in Bern finanziert. Pirmasens, die Geburtsstadt Balls, hatte zwischen 1793 und 1815 zu Frankreich gehört. Im Frühjahr 1919 reiste Ball im Tross von François-Émile Haguenin, einem französischen Diplomaten, der vor dem Versailler Vertrag in Berlin die Lage sondieren sollte. In Balls Aufruf vom 1. März 1919 "An unsere Freunde und Kameraden" las man, es gehe um die "Weltrevolution ,gegen' Deutschland". Auch das könnte man als "schrillschräg" bezeichnen, aber es kommt kein Lachen mehr auf.
LORENZ JÄGER
Martin Mittelmeier: "DADA". Eine Jahrhundertgeschichte.
Siedler Verlag, München 2016. 272 S., Abb., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Lorenz Jäger freut sich, dass mit Martin Mittelmeiers neuem Werk nun ein sehr gelungenes Hausbuch zum Dadaismus vorliegt. Der Autor erzählt klug, unterhaltsam und mit präziser Beobachtungsgabe und verzichtet erfreulicherweise auf allzu viele "schrillschräge" dadaistische Wendungen, lobt der Kritiker, der die Gelegenheit nutzt, sich noch einmal ausführlich mit der avantgardistischen Bewegung zu beschäftigen. Aufmerksam liest er Mittelmeiers Schilderungen der antikulturellen und anarchistischen Bestrebungen, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg ausbreiteten, amüsiert sich über die bisweilen grotesken Auswüchse des Dadaismus, die der Autor lebendig beschreibt und folgt mit großem Interesse dem Schicksal der Künstler nach der Hochphase der Bewegung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Glänzend geschrieben.« Rüdiger Safranski, SRF Literaturclub