26,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in über 4 Wochen
  • Gebundenes Buch

Die Bilanz eines unverwechselbaren und doch eine ganze Epoche repräsentierenden Lebens
Nach »Karlmann« und »Vaterjahre« - der Höhepunkt von Michael Kleebergs Romankunst
Karlmann will's noch mal wissen. Obwohl in die Jahre gekommen, zählt er sich) keineswegs zum alten Eisen. Jetzt, zu seinem 60sten, lädt er zur großen Sause. Und er zieht Zwischenbilanz, wie eh und je mit süffisantem Eigensinn, frei von Sentimentalität und nach wie vor nicht willens, klein beizugeben.
Das, was sich für ihn wie eine zweite Jugend anfühlt, ist vom Gedanken an Unwiederbringliches überschattet. Doch gegen
…mehr

Produktbeschreibung
Die Bilanz eines unverwechselbaren und doch eine ganze Epoche repräsentierenden Lebens

Nach »Karlmann« und »Vaterjahre« - der Höhepunkt von Michael Kleebergs Romankunst

Karlmann will's noch mal wissen. Obwohl in die Jahre gekommen, zählt er sich) keineswegs zum alten Eisen. Jetzt, zu seinem 60sten, lädt er zur großen Sause. Und er zieht Zwischenbilanz, wie eh und je mit süffisantem Eigensinn, frei von Sentimentalität und nach wie vor nicht willens, klein beizugeben.

Das, was sich für ihn wie eine zweite Jugend anfühlt, ist vom Gedanken an Unwiederbringliches überschattet. Doch gegen die Übermacht der Gefühle hat Charly Renn sich schon immer zu wappnen gewusst. Das ist auch bitter nötig. Denn sein Selbstbild wird nicht nur in der Corona-Zeit auf eine harte Probe gestellt, sondern auch in der des Abschiednehmens vom sterbenden Vater und in der Konfrontation mit den eigenen Kindern, die längst ihre eigenen Wege gehen. So nimmt er ein letztes Projekt in Angriff,eins, das ihm noch einmal all seine Steherqualitäten abverlangt. In einer Hamburger Kultureinrichtung wird er zum Aktivisten wider Willen, nur um am Ende festzustellen, dass eine neue, eine völlig andere Zeit angebrochen ist, die nicht mehr viel mit ihm zu tun hat.

Im dritten und letzten Teil der »Karlmann«-Trilogie, die viele Jahrzehnte bundesrepublikanischer Gesellschaft erzählt, zeigt Michael Kleeberg seinen Protagonisten nun im reizvollen Licht der Dämmerung.
Autorenporträt
Michael Kleeberg, 1959 in Stuttgart geboren, studierte Politische Wissenschaften und Geschichte. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2008 als Mainzer Stadtschreiber. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen: "Ein Garten im Norden" (1998), "Der König von Korsika" (2001) und "Karlmann" (2007). 2010 erschien der Roman "Das amerikanische Hospital", der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und für den Michael Kleeberg 2011 den Evangelischen Buchpreis erhielt. Sein Roman "Vaterjahre" wurde u.a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet. 2016 erhielt Michael Kleeberg für sein Gesamtwerk den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Rezensent Jörg Magenau kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum es dieser Roman nicht mal auf die Longlist des Deutschen Buchpreis geschafft hat. Großartig findet es Magenau, wie Michael Kleeberg ein gesellschaftliches Panorama um seinen Romanhelden Karlmann Renn entspinnt, das nicht nur eine "boshaft-präzise Studie einer alternden Gesellschaft" umfasst, sondern auch bravourös die Zeit der Corona-Jahre, jubelt Magenau. Zu Beginn des Bandes feiert der Protagonist seinen 60. Geburtstag, zusammen mit allen möglichen Personen aus seiner Vergangenheit - 170 Seiten lang wird diese Party erzählt und das ist keine Zeile zu lang, versichert der Kritiker. Unterbrochen werden die Ereignisse von meisterlich erzählten Rückblenden auf Charlys Leben, Magenau denkt dabei an Proust und John Updike. Angetan ist er auch von der allwichtigen und allmächtigen Instanz des Erzählers und von den Figurenporträts, die dieser liefert. Der Kritiker ist also rundum glücklich mit diesem Abschlussband der Karlmann-Trilogie.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2023

Es wird mit dem Hammer erzählt

Michael Kleeberg beendet mit "Dämmerung" seine 2007 begonnene Romantrilogie um den Protagonisten Karlmann Renn.

Es braucht sozusagen zwei, um zu altern. Einen Körper, der das automatisch tut, und einen Geist, der sich dazu verhält, indem er sich seinerseits verändert." Das stellt der Erzähler von "Dämmerung" bei der rauschenden Feier des sechzigsten Geburtstags von Charly Renn fest. Altern ist ein großes Thema des dritten und abschließenden Bandes von Michael Kleebergs dreiteiligem Romanprojekt um diesen Karlmann Renn, dessen erster Teil, "Karlmann", 2007 erschien und dem 2014 "Vaterjahre" folgte.

Mit Charly, wie Karlmann Renn von Familie und Freunden genannt wurde, brachte der damals 48 Jahre alte Kleeberg im Jahr 2007 ein zumindest dem Geburtsjahr nach literarisches Alter Ego zur Welt: wie sein Autor 1959 geboren. Kleeberg unterstrich die besondere Nähe zur Hauptfigur durch die Wahl seiner Erzählperspektive: In allen drei Romanen wird Charlys Leben geschildert von einer ihm freundschaftlich gesinnten Instanz, die nicht direkt am Geschehen beteiligt ist, aber stets in Charlys Inneres blicken kann, sich hin und wieder als wohlwollend-wissender, im dritten der drei Teile - Stichwort "Altern" - zunehmend onkeliger Kommentator einschaltet, der die Leser direkt anspricht, dann wieder in den Hintergrund tritt, auf Abstand geht, das Erzählte aber stets kontrollieren und das Geschehen bewerten kann. Die Nähe zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur unterstreicht auch die Widmung des Romans: "Karlmann Renn gewidmet, im Gedenken der gemeinsamen Jahre."

Setzte das Geschehen von "Karlmann" mit dem legendären Wimbledon-Sieg von Boris Becker am 7. Juli 1985 ein, so endet "Dämmerung" mit dem letzten Maitag des Jahres 2022. Kleebergs Trilogie umspannt damit einen Zeitraum von 37 Jahren, erzählt von Charly als Verfallsgeschichte entlang der Zeitgeschichte, zeitweise stark gerafft, dann wieder kleinteilig. Die Handlung in "Dämmerung", dessen Titel man als Anspielung auf Richard Wagners "Götterdämmerung" oder Friedrich Nietzsches "Götzen-Dämmerung" lesen kann, umfasst vier Jahre, in denen der Ausbruch von Corona und der Krieg Russlands gegen die Ukraine als einschneidende Ereignisse auch auf das Leben Charly Renns entscheidend Einfluss nehmen.

Wer einen oder beide der vor "Dämmerung" erschienenen Teile kennt, weiß, dass man es in Charly, dem Sohn aus gutem hanseatischen Haus, mit einem rechtschaffenen Kotzbrocken zu tun hat. Er braucht Frauen, hält es aber, obwohl zunächst lange in der Rolle des Familienvaters, mit keiner der fünf Nachfolgerinnen seiner Gattin lange gut aus. Seinen Aufstieg vom Autohausinhaber zum Geschäftsführer der Hamburger Kautschukfirma Sieveking & Jessen, die ihren Sitz im altehrwürdigen Chile-Haus hat, verdankt er seiner mehr als pragmatischen Gerissenheit. Charly Renn ist der Typus Mann, der Golf, seinen alten Mercedes, teure Uhren und guten Wein liebt, der mit Viagra und Hyaluron seinen fortschreitenden körperlichen Verfall aufzuhalten versucht.

Umwege, die doch konstitutiv für Kultur sind, findet er dagegen meistens lästig. Er ist ein Upperclass-Konformist erster Sorte. Und so sammeln sich denn auch zu seiner Geburtstagsfeier, der ersten von insgesamt drei großen feierlichen Zusammenkünften im Roman "keine Gescheiterten, keine Künstler", auch "keine Politiker, keine Fernsehnasen, kein Olympiasieger, kein Bundesligafußballer", erst recht kein Toskanafraktionär, Drittwelt- oder Klimaaktivist". Die Partygesellschaft besteht aus "Anwälten, Ärzten, Zahnärzten", aus "Immobilienverwaltern, Technikern vom Agrar- bis zum Maschinenbauingenieur. Pharmazeuten, Verwaltungsjuristen, Bankern, Tradern", und unter den Gästen sind auch "Psychologen (die aber alle studierte Ärzte sind, also keine Quacksalber). Versicherungsmathematiker. Informatiker", wie es heißt - und womit sich hier wie im gesamten Roman zeigt, dass Michael Kleebergs Erzähler, anders als Charlys Werdegang, nicht unbedingt geraden Wegen folgt.

Charlys Leben steht, mit Anspielung auf Gustave Flauberts "Erziehung der Gefühle", unter dem Diktum einer "Regulierung des Herzens", die der Erzähler als ein Eindämmen allzu starker, vor allem affektiver Regungen schildert, als eine Haltung, die "dem Willen und dem Bewusstsein ihre Aufgabe als Rückholfeder lässt, wenn die Hingabe ins Bodenlose zu fallen droht". Je älter, umso stärker prägt Charly sie aus. Die Trennung von seiner Frau, den Tod der Mutter, die Abwege seiner Tochter aus dem bürgerlichen Leben, die Demenz des Vaters bis zu dessen langsamem Tod, an dessen Ende die zweite der drei feierlichen Zusammenkünfte, die Beerdigung steht, lassen das Ausmaß seiner Erschütterung nur zeitweilig groß werden. Selbst den Umstand, dass ihm nach dem Abklingen der Corona-Pandemie sein Geschäftsführerposten durch die nachfolgenden jungen Inhaber der Firma gekündigt wird, hegt Charly rasch ein.

Er übernimmt die Geschäftsführung des Lessinghauses, einer Kultureinrichtung, der sein Vater als Vereinsvorsitzender angehörte und die tendenziell verschlafen vor sich hindümpelt, bis der Krieg in der Ukraine beginnt und Charly das Haus zum "Ukraine-Zentrum" umkrempelt: Er will mehr Öffentlichkeitswirksamkeit, gegen den Willen der Mitarbeiter, unter ihnen die aus Berlin stammende Programmverantwortliche Yelda Dereli, promovierte Kultur- und Theaterwissenschaftlerin, Tochter türkischer Arbeitsmigranten und vorher Dramaturgin am Thalia Theater. Nicht zuletzt ihretwegen wird Charly seinen Posten sehr schnell wieder räumen müssen. Denn bei der Ukraine-Benefiz-Gala, der dritten der drei Feierlichkeiten, die er unter der Conférence des unschwer als Thomas Gottschalk zu erkennenden Moderators organisiert, kommt es zum Eklat. Zwei ukrainische Frauen behaupten mit Yeldas Unterstützung in einem Brief an den Senat, Charly habe sie sexuell belästigt. "Deconstructing Charly" nennt Kleeberg das letzte Kapitel, mit unverkennbarer Anspielung auf Woody Allens Film "Deconstructing Harry". Damit stellt Kleeberg eine nicht unproblematische Parallele her: Charly Renn wird im Roman tatsächlich als Opfer einer Ranküne dargestellt und ergreift damit indirekt auch Partei für Woody Allen, dem seit Jahren der Missbrauch seiner Adoptivtochter nachgesagt wird, was er bis heute zurückweist.

Dämmerung" wandert an vielen Stellen auf dem schmalen Grat einer Figurenrede, von dem aus man immer wieder hinunterschauen muss in weltanschauliche Abgründe. Charly, charakterisiert als "Meister trügerischer oder produktiver Selbstprojektionen, denen es dann nachzuleben gilt", hat, so möchte uns der Erzähler glaubhaft machen, "offenbar und vielleicht verständlicherweise" den Ernst der Lage auch nach Tagen der Anschuldigungen noch immer nicht erfasst. Das ist höchst tragisch, denn der Zeitgeist - verkörpert durch die jungen Mitarbeiter im Lessinghaus, die er zuvor wochenlang ohne Arg, so scheint es, kujoniert hat, indem er ohne jeden Sinn für Unterschiede und Zwischentöne, seine Geschäftsführungserfahrungen aus dem Kautschuk-Geschäft auf die Kulturinstitution übertragen hat - ist einfach gegen ihn.

In Charly, so suggeriert der Roman, ist ein bestimmter Typus Mann gealtert und vom Zeitgeist zu Fall gebracht. Dass damit zugleich ein Zeitalter verabschiedet wird, legt der Epilog nahe. Die Kongruenz zwischen Charly und seiner Zeit und die zwischen der Stimme, die seine Geschichte erzählte, hat durch den MeToo-Vorwurf den "brutalstmöglichen Bruch" erlitten. Schwarz-weiß gestreifte oder gesprenkelte Seelen wie die von Charly, so der Erzähler, fielen nicht unter die Schnellgerichtsbarkeit des Netzes wie unter das offizielle Strafrecht. Kleeberg entlässt mit "Dämmerung" seinen Protagonisten und die Leser in jene obskure Ambivalenz, die man bei diesem Autor immer wieder findet, schon in der frühen SM-Novelle "Barfuß", an deren Schluss eine Kreuzigung steht. Manch einer mag sich beim Ende von "Dämmerung" auch an Kleebergs Frankfurter Poetikvorlesungen erinnert fühlen, die von einem Eklat begleitet waren, nämlich um die Äußerungen Kleebergs über das Aufeinandertreffen "einer Mehrheitsidentität, die sich auflösen, mit einer Minderheitsidentität, die sich durchsetzen will".

"Dämmerung" erzählt also mit dem Hammer, kokettiert recht kalkuliert mit dem Unterschied zwischen Figurenrede und allenfalls mutmaßlicher Autorenmeinung. Dass dem redseligen Erzähler zukünftig tatsächlich die Sprache wegbleiben wird, mag man ihm angesichts seiner Wortgirlanden und -kaskaden und seinem Drang, einer Zeit nachzutrauern, nur halb abnehmen. Es sei ihm hier aufmunternd gesagt: So schnell geht die Welt nicht unter. BEATE TRÖGER

Michael Kleeberg: "Dämmerung". Roman.

Penguin Verlag, München 2023. 480 S., geb., 26,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.09.2023

Ein Mann der Mitte
Michael Kleebergs Roman „Dämmerung“
Wer einen Gesellschaftsroman schreiben will, tut gut daran, mit einem Fest zu starten. Da sind sie alle beieinander und alles liegt offen da für den, der es sehen will. In diesem Fall begeht Karlmann Renn, genannt Charly, seinen 60. Geburtstag. Er ist Geschäftsführer des Kautschukimporteurs Sievering & Jessen, Hamburg, und kann auf ein erfolgreiches Leben zurückblicken. Es ist ein ziemlich homogener Haufen, der sich hier eingefunden hat, Anwälte, Ärzte, Ingenieure, Versicherungsmathematiker, alle mit Krawatte und Gattin. Was den physischen Erhaltungszustand angeht, so sind vertreten: fünf künstliche Hüften, neunmal Prostatavergrößerung, 16-mal Blutdruck senkende Medikamente, 45 überkronte Gebisse. Man sollte meinen, dass eine solche Ansammlung von westdeutschen Profis und Erben, dem Mainstream des Mainstreams sozusagen, nur langweilig werden könnte. Aber Michael Kleeberg versteht es, daraus etwas anderes und Spannendes zu machen.
Sie fahren immer noch ab auf die Musik ihrer Jugend, sprich „Bridge over Troubled Waters“ und „Dancing Queen“. Aber wie sie dazu tanzen! Da gibt es diejenigen, die in ihrer Tanzstunde vor 45 Jahren Foxtrott erlernt haben und, diagonal durch den Raum fegend wie ein Saugroboter. Dann die Rock’n’Roller, die fünfmal so viel Platz brauchen wie die anderen und ihrer Partnerin fast den Arm auskugeln. Unverdrossen marschieren Frauen auf die Tanzfläche, die beim Après-Ski sozialisiert worden sind und die Arme so entschieden hochschmeißen, dass man jede rasierte Achselstoppel einzeln zählen kann. Kleeberg wendet viel Raum für diese Einzelheiten auf und besitzt einen scharfen Blick. Doch obwohl es seiner Darstellung nicht an Witz und Ironie mangelt, hält er sich doch klar diesseits der Satire. Satire urteilt, sie sieht nur, was zu ihren Absichten passt. Dieser Autor aber will schlechthin alles sehen, weil sich nur darin die Wahrheit einer Gesellschaft offenbart.
Mit „Dämmerung“ legt Kleeberg nach „Karlmann“ und „Vaterjahre“ den dritten Teil seiner Karlmann-Trilogie vor, mit der er vierzig Jahre Sozialgeschichte der alten und der neuen Bundesrepublik abdeckt, ein hierzulande beispielloses Projekt. Sucht man nach Vergleichbarem, bietet sich am ehesten John Updikes „Rabbit“-Serie an. Auch Rabbit ist ein Mann der unauffälligen konservativen Mitte, der „silent majority“, wie Nixon sie beschwor, und durfte auf Sympathie nur hoffen, weil sein Autor so standhaft zu ihm hielt. Ermöglicht wird ein solcher Blick durch eine Erzählhaltung, die auf verwirrende Weise mit den Pronomina jongliert. Um das Nötige sagen zu können, muss der Erzähler zugleich eine personale Position, die sich in den Protagonisten einfühlt, und eine auktoriale einnehmen, denn nur sie liefert das Gesamtbild. „Charly lehnt sich in seinen Sessel zurück. Ich wusste es.“ Wer ist Ich? Nicht Charly selbst, sondern der Erzähler; dieser aber schwebt nicht olympisch über den Dingen, sondern bangt mit.
Auch das „Wir“ hat verschiedene Auftritte, teils als Pluralis auctoris („Drücken wir kurz die Pausentaste ...“), teils als Forum verallgemeinernder Reflexion: „Reagieren wir auf unsere Umwelt, oder kreieren wir ein Bild unserer Umwelt, das unseren Wünschen entspricht?“ Damit öffnet Kleeberg den Roman ins Essayistische und setzt dem Buch gewissermaßen ein zweites Auge in den Kopf, das neben dem sozialen Vorkommnis auch die moralische Tiefe erschließt – ein hybrides Verfahren, aber ein sehr leistungsfähiges. Es versetzt den Autor in die Lage, die verschiedensten Szenerien ungemein lebendig und erhellend zu gestalten: wie es etwa, Satz für Satz, bei einer Podiumsdiskussion zugeht; wie sich das Publikum bei der Beerdigung eines sehr alten Mannes (Charlys Vater) benimmt; in welches Feld ein neuer Chef eintritt, der auf das passiv-aggressive Verhalten der alteingesessenen Mitarbeiterinnen stößt. Eine von ihnen, mit der er zu flirten glaubte, bringt Charly zu Fall.
Auch der Schluss wird beherrscht von einem rauschenden Fest, einer Gala für die Flüchtlinge aus der Ukraine. Sie wird präsentiert von einem Star, den Kleeberg nicht namentlich nennt, den er vielmehr dadurch ehren will, dass man ihn erraten soll. Es ist ein Höhepunkt des Buchs, und bestimmt hat Thomas Gottschalk noch nie eine solche Hommage für seine Person und sein Werk erhalten. Kleeberg würdigt den absolut sicheren Takt, mit dem der Moderator sich jedem einzeln zuwendet und ihm das Gefühl gibt, persönlich geschätzt zu sein. „Charly staunte, er hatte die Menschen in der Hand wie ein Zauberkünstler, aber ein weißer Zauberer, ein menschenfreundlicher.“ Mehr als ein Gottschalk, scheint der Autor zu implizieren, kann in dieser Gesellschaft menschlich nicht erreicht werden. Mit „Dämmerung“ erklärt Kleeberg seine Trilogie für abgeschlossen, und obwohl Charly noch zwanzig Jahre leben kann, wird er das doch in der Zurückgezogenheit eines Rentnerdaseins tun, das wenig Ausblick ins Ganze mehr bietet. Das große Projekt hat sein Ziel erreicht.
BURKHARD MÜLLER
Dieser Autor will nicht urteilen,
die Wahrheit soll sich offenbaren,
indem er schlichtweg alles zeigt
Michael Kleeberg:
Dämmerung. Roman.
Penguin, München 2023. 480 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr
»Mit "Dämmerung" legt Kleeberg [...] den dritten Teil seiner Karlmann-Trilogie vor, mit der er vierzig Jahre Sozialgeschichte der alten und der neuen Bundesrepublik abdeckt, ein hierzulande beispielloses Projekt.« Süddeutsche Zeitung, Burkhard Müller