Mit Chinas rasanter Entwicklung vom maoistischen Armenhaus zum "Fließband der Welt" entstehen neue Arbeitersubjekte, darunter die Dagongmei, wörtlich: arbeitende Schwestern. Millionen junge Frauen migrieren vom Land in die Städte, um dort in den Weltmarktfabriken zu arbeiten. Die Autorinnen haben Dagongmei interviewt und ihre Geschichten aufgeschrieben. Die Frauen erzählen von der Benachteiligung der Mädchen in der Familie, der Flucht aus dem Dorf, Gefahren der Wanderung, den Bedingungen in den Betriebswohnheimen und an den Fließbändern, von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Ein Buch, das hautnah deutlich werden lässt, auf welchen Schultern die Last des sagenhaften chinesischen Wirtschaftswachstums ruht, und wer den eigentlichen Preis der Exportwaren zu bezahlen hat.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2009Singen am Fließband
Wanderarbeiterinnen in China berichten über ihr Leben
Sie hatte einen Parteifunktionär erstochen. Doch überraschenderweise wurde die wegen Mordes angeklagte 21-jährige Kellnerin Deng Yujiao freigesprochen, weil sie sich gegen ihre drohende Vergewaltigung gewehrt hatte. Notwehr. Dank einer Internetkampagne wurde der Fall aus der Provinz Hubei publik, und die junge Frau wurde in China zum Symbol für den Kampf gegen korrupte Autoritäten. Solcherlei heftige Gegenwehr taucht in dem Buch „Dagongmei” nicht auf. Dafür zeigen die Autorinnen Pun Ngai und Li Wanwei zahlreiche andere Varianten, wie junge Frauen in China gegen träge Behörden, erbarmungslose Chefs und patriarchale Familien rebellieren.
Die beiden Aktivistinnen der Hongkonger Nichtregierungsorganisation Chinese Working Women Network beraten Arbeiterinnen, die aus den chinesischen Provinzen ins Perlfluss- und Jangtse-Delta gewandert sind, um in den Industriezonen Geld zu verdienen. Die Wanderarbeiterinnen vom Lande werden in China dagongmei genannt, wörtlich: kleine arbeitende Schwestern. Der relativ neue Begriff grenzt sich von der unter Mao Zedong verbreiteten Bezeichnung gongren ab. Die dagongmei arbeiten für einen kapitalistischen Chef, die anderen waren für den Staat tätig, der ihnen nicht nur Lohn zahlte, sondern auch eine lebenslange Beschäftigung, eine Wohnung, die Gesundheitsversorgung und die Ausbildung der Kinder garantierte.
Wie so oft in der Geschichte protestierte auch in China erst die zweite Arbeitergeneration, die Nachfolger derer, die vom Land in die Fabriken nach Shanghai, Shenzen und andere Industriestädte gekommen waren, gegen die lebensgefährlichen Produktionsbedingungen und die miserable Entlohnung. „Das Leben eines Menschen zählt so viel wie das einer Ameise. Man kann sie mal eben so zerquetschen”, sagt die Überlebende eines Fabrikbrandes. Protestmittel sind Bummelstreiks, kleinere Sabotagen, Singen am Fließband, offene Briefe, Streiks und Demonstrationen. Zur Not wechseln sie den Job, wenn er zu gefährlich oder langweilig ist. Tiaocao, das Jobhopping, ist weit verbreitet – zum Ärger der Manager.
China zählt 150 bis 200 Millionen Wanderarbeiter – weit mehr als die Hälfte junge Frauen – Hunderttausende Arbeitskonflikte, Aufstände und pro Jahr etwa 100 000 Tote durch Arbeitsunfälle. Genaue Zahlen existieren nicht. Aber selbst das Ministerium für Öffentliche Sicherheit meldete eine drastische Zunahme „größerer Vorfälle”. Vor allem seit 2003, etwa zehn Jahre nach Beginn der Wanderungswelle in die Industriestädte, nahmen die Arbeitskämpfe erheblich zu. Nicht zuletzt profitierten die jungen Leute vom Boom in der Konsumgüterindustrie, der die Arbeitskräfte in den Städten knapp werden ließ.
Pun Ngai analysiert in ihrer Studie, die die biographischen Berichte der Frauen ergänzt und einordnet, die Disziplinierung der Arbeiterinnen. Sie beschreibt die minutiös festgelegten Arbeitsschritte und die vorgeschriebenen Körperhaltungen. Nach dem Arbeitsgesetz beträgt die tägliche Arbeitszeit acht Stunden, und es dürfen nicht mehr als drei und im Monat nicht mehr als 36 Überstunden geleistet werden. Die Behörden kümmern sich aber nicht darum. Li Chunmei aus Sichuan zum Beispiel starb an Überarbeitung. Eine Kollegin berichtet: „Jeden Tag arbeiteten wir von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, und nach einer halben Stunde Essenspause dann weiter bis elf Uhr nachts, manchmal sogar bis zwölf. Und das ohne freies Wochenende.”
Hinzu kommen die Rund-um-die-Uhr-Kontrolle, die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen, das schlechte Essen in den Kantinen und die Wohnheime, wogegen die jungen Frauen rebellieren. Die zwölf biographischen Berichte junger Wanderarbeiterinnen zeigen, dass die meisten von ihnen dem öden Landleben, der Misshandlung durch den Ehemann oder einer anstehenden Zwangsheirat entflohen sind. Gleichwohl ist für viele die Rückkehr, wenn auch unter großer Scham, eine Option, wenn das Überleben in der Stadt nicht mehr möglich ist.
Das Buch ist auch ohne Vorkenntnisse verständlich, da es Hintergründe beleuchtet. Die erschütternden persönlichen Berichte zeugen von den Ambivalenzen, die die jungen Frauen zwischen der Langsamkeit des Landes und dem Drill der Fabrik, zwischen Familie und Freiheit hin- und hertreiben. Schade, dass bis auf einen Fall keine Firmennamen genannt werden und dass unberücksichtigt bleibt, wie sich das Engagement von Initiativen in Europa und Nordamerika, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen und Markenfirmen anprangern, auswirkt. ANKE SCHWARZER
PUN NGAI / LI WANWEI: Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin / Hamburg 2008. 227 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Wanderarbeiterinnen in China berichten über ihr Leben
Sie hatte einen Parteifunktionär erstochen. Doch überraschenderweise wurde die wegen Mordes angeklagte 21-jährige Kellnerin Deng Yujiao freigesprochen, weil sie sich gegen ihre drohende Vergewaltigung gewehrt hatte. Notwehr. Dank einer Internetkampagne wurde der Fall aus der Provinz Hubei publik, und die junge Frau wurde in China zum Symbol für den Kampf gegen korrupte Autoritäten. Solcherlei heftige Gegenwehr taucht in dem Buch „Dagongmei” nicht auf. Dafür zeigen die Autorinnen Pun Ngai und Li Wanwei zahlreiche andere Varianten, wie junge Frauen in China gegen träge Behörden, erbarmungslose Chefs und patriarchale Familien rebellieren.
Die beiden Aktivistinnen der Hongkonger Nichtregierungsorganisation Chinese Working Women Network beraten Arbeiterinnen, die aus den chinesischen Provinzen ins Perlfluss- und Jangtse-Delta gewandert sind, um in den Industriezonen Geld zu verdienen. Die Wanderarbeiterinnen vom Lande werden in China dagongmei genannt, wörtlich: kleine arbeitende Schwestern. Der relativ neue Begriff grenzt sich von der unter Mao Zedong verbreiteten Bezeichnung gongren ab. Die dagongmei arbeiten für einen kapitalistischen Chef, die anderen waren für den Staat tätig, der ihnen nicht nur Lohn zahlte, sondern auch eine lebenslange Beschäftigung, eine Wohnung, die Gesundheitsversorgung und die Ausbildung der Kinder garantierte.
Wie so oft in der Geschichte protestierte auch in China erst die zweite Arbeitergeneration, die Nachfolger derer, die vom Land in die Fabriken nach Shanghai, Shenzen und andere Industriestädte gekommen waren, gegen die lebensgefährlichen Produktionsbedingungen und die miserable Entlohnung. „Das Leben eines Menschen zählt so viel wie das einer Ameise. Man kann sie mal eben so zerquetschen”, sagt die Überlebende eines Fabrikbrandes. Protestmittel sind Bummelstreiks, kleinere Sabotagen, Singen am Fließband, offene Briefe, Streiks und Demonstrationen. Zur Not wechseln sie den Job, wenn er zu gefährlich oder langweilig ist. Tiaocao, das Jobhopping, ist weit verbreitet – zum Ärger der Manager.
China zählt 150 bis 200 Millionen Wanderarbeiter – weit mehr als die Hälfte junge Frauen – Hunderttausende Arbeitskonflikte, Aufstände und pro Jahr etwa 100 000 Tote durch Arbeitsunfälle. Genaue Zahlen existieren nicht. Aber selbst das Ministerium für Öffentliche Sicherheit meldete eine drastische Zunahme „größerer Vorfälle”. Vor allem seit 2003, etwa zehn Jahre nach Beginn der Wanderungswelle in die Industriestädte, nahmen die Arbeitskämpfe erheblich zu. Nicht zuletzt profitierten die jungen Leute vom Boom in der Konsumgüterindustrie, der die Arbeitskräfte in den Städten knapp werden ließ.
Pun Ngai analysiert in ihrer Studie, die die biographischen Berichte der Frauen ergänzt und einordnet, die Disziplinierung der Arbeiterinnen. Sie beschreibt die minutiös festgelegten Arbeitsschritte und die vorgeschriebenen Körperhaltungen. Nach dem Arbeitsgesetz beträgt die tägliche Arbeitszeit acht Stunden, und es dürfen nicht mehr als drei und im Monat nicht mehr als 36 Überstunden geleistet werden. Die Behörden kümmern sich aber nicht darum. Li Chunmei aus Sichuan zum Beispiel starb an Überarbeitung. Eine Kollegin berichtet: „Jeden Tag arbeiteten wir von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, und nach einer halben Stunde Essenspause dann weiter bis elf Uhr nachts, manchmal sogar bis zwölf. Und das ohne freies Wochenende.”
Hinzu kommen die Rund-um-die-Uhr-Kontrolle, die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen, das schlechte Essen in den Kantinen und die Wohnheime, wogegen die jungen Frauen rebellieren. Die zwölf biographischen Berichte junger Wanderarbeiterinnen zeigen, dass die meisten von ihnen dem öden Landleben, der Misshandlung durch den Ehemann oder einer anstehenden Zwangsheirat entflohen sind. Gleichwohl ist für viele die Rückkehr, wenn auch unter großer Scham, eine Option, wenn das Überleben in der Stadt nicht mehr möglich ist.
Das Buch ist auch ohne Vorkenntnisse verständlich, da es Hintergründe beleuchtet. Die erschütternden persönlichen Berichte zeugen von den Ambivalenzen, die die jungen Frauen zwischen der Langsamkeit des Landes und dem Drill der Fabrik, zwischen Familie und Freiheit hin- und hertreiben. Schade, dass bis auf einen Fall keine Firmennamen genannt werden und dass unberücksichtigt bleibt, wie sich das Engagement von Initiativen in Europa und Nordamerika, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen und Markenfirmen anprangern, auswirkt. ANKE SCHWARZER
PUN NGAI / LI WANWEI: Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin / Hamburg 2008. 227 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sehr lesenswert findet Matthias-Martin Becker dieses Buch des Autorenduos Pung Ngai und Li Wanwei, das nun erstmals auf deutsch erschienen ist. "Dagongmei" (arbeitende Schwestern) porträtiert chinesische Wanderarbeiterinnen, die, von Not und großen Hoffnungen getrieben, in den Fabriken der Großstädte am Existenzminimum leben. Ohne sie wäre der sagenhafte Aufschwung Chinas wohl kaum möglich gewesen, bemerkt der Rezensent. Verstörend-bewegend seien die Interviews, die die junge Soziologin Pung Ngai mit einigen Frauen geführt hat und die deutlich die Ambivalenz des gegenwärtigen epochalen Umbruchs zeigten. Ebenso schätzt Becker ihren im Buch enthaltenen Aufsatz zum Thema, dessen Ausführungen zur "industriellen Knochenmühle" er für besonders aufschlussreich erachtet. Ein "eindringliches Zeugnis" sei "Dagongmei" daher, das, im Gegensatz zu vielen auf bloßen Annahmen basierenden westlichen Quellen, einen echten Einblick in die Funktionsweisen und die "Brutalität" der chinesischen Wirtschaftsmaschinerie liefere.
© Perlentaucher Medien GmbH
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