Spiegel-Bestseller und nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021
Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman »Daheim« von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.
Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.
Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman »Daheim« von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.
Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2021Wildnis und Zuhause
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum 50. Mal: "Schöne Aussichten"
FRANKFURT Kamtschatka? Terra incognita. Niemand auf dem Podium im Frankfurter Literaturhaus wusste mit der nordostsibirischen Halbinsel etwas anzufangen. Dabei ist unter dem Titel "An das Wilde glauben" (Matthes & Seitz) erst vor Kurzem ein Buch der Ethnografin Nastassja Martin über Kamtschatka erschienen und in der F.A.Z. gleich zweimal besprochen worden. Jetzt aber war es ein Roman, den die professionelle Tennisdame und Autorin Andrea Petkovic als Gast der Kritikerrunde "Schöne Aussichten" vorstellte, des "Flaggschiffs" des Literaturhauses, wie Programmchef Hauke Hückstädt zur 50. Ausgabe glücklich hervorhob. Nicht ganz zufällig also hat Petkovics New Yorker Nachbarin Julia Phillips ihren Kriminalroman "Das Verschwinden der Erde" (dtv) genannt. Kamtschatka ist schon verschwunden, jedenfalls aus dem Bewusstsein des Westens.
Zwei Mädchen, elf und acht Jahre alt, sind nicht mehr aufzufinden. Der Roman löst den Fall. "Ein Kaleidoskop der Persönlichkeiten an einem unbekannten Flecken der Welt", so Petkovic. Wie ein Trauerflor ziehe sich das Verschwinden der Landschaft durch den Text. Mara Delius, Literaturkritikerin der Tageszeitung Die Welt und zum letzten Mal mit dabei, lobte die "verdichtete Atmosphäre" und tadelte die "erklärenden Sätze". Hubert Spiegel, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., hat das Buch gern gelesen, vermisste aber mehr Auskünfte über die Indigenen und die russischen Kolonisten. Da witterte Moderator Alf Mentzer vom Hessischen Rundfunk "kulturelle Aneignung" im Roman. "Nein", rief Delius. Als gebürtige Serbin wies Petkovic noch eigens auf "die Verhältnisse zwischen Mann und Frau in einer postsowjetischen Gesellschaft" hin.
Unter dem Titel "Levys Testament" (Suhrkamp) habe Ulrike Edschmid "drei Romane in einem auf 140 Seiten" verfasst, so Spiegel. Delius stellte das Buch vor mit der Frage, die den Text durchziehe: "Wie kann ein Jude ein Zuhause finden?" Die Mutter des Protagonisten mit seiner geheimen Familien- und öffentlichen Aufstiegsgeschichte in der Opernkunst habe ja auch vorausgesagt: "Du wirst dich nie zu Hause fühlen." Petkovic hätte sich "mehr klassische Erzähltechnik" gewünscht und nannte die Autorin "eine Meisterin des Weglassens". Als die Sportlerin auf ihren Lieblingsverein Tottenham Hotspur zu sprechen kam und Mentzer die Verbindung zu einer Shakespeare-Figur in "Henry IV." zog, hatte Spiegel "einen neuen Lieblingsverein" gefunden. Dennoch wandte er ein, man müsse viel über Zeitgeschichte wissen, um der Autorin folgen zu können.
Dann stellte er Judith Hermanns neuen Roman vor, der unter dem Titel "Daheim" bei S. Fischer erschienen ist: "Auch diese plastischen Figuren haben kein Zuhause." Spiegel wusste vor allem "den Wechsel aus Präzision und Unschärfe" zu schätzen: "Spannend geschrieben und entschlackt. Das tut gut." Delius konstatierte "wenig Affekte", Mentzer sprach von einer Aversion der Autorin gegen psychologische Erklärungen. Petkovic, die Romane mit Psychologie liebt, fand das Buch "zäh", aber als "impressionistisches Gemälde" wusste sie es zu schätzen. Von "trostlosen Verhältnissen" sprach Spiegel, von einer Frau, die nur im Hafenbecken schwimme, weil sie Angst habe vor dem offenen Meer. Ein "atmosphärisches Mobile" zwischen Freiheit und Begrenzung nannte Mentzer den Roman, aber: "Gelungen." "Absolut", kam das Echo von Spiegel.
Auch J. D. Salinger mit seinem pubertierend-fluchenden "Fänger im Roggen" (Kiwi) fand allgemeines Wohlgefallen und bestand damit den "Haltbarkeitstest". Petkovic war "total verliebt" in den Außenseiter Holden Caulfield und hätte ihn am liebsten zu einem brauchbaren Menschen erzogen. Er sei ja auch im Grunde "ein gutherziger Bursche", bestätigte Spiegel und zitierte aus Hesses Rezension von 1954: Das Buch führe "vom Ekel zur Liebe". Mehr könne Dichtung nicht erreichen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Erst haben alle vom Großstadtleben geschrieben, jetzt sind Dorfromane das große Ding, meint Rezensentin Julia Encke mit Blick auf Juli Zeh, Judith Hermann und Angelika Klüssendorf. Doch egal ob Stadt oder Land, es scheint dabei immer um das eigene Leben zu gehen: von den Mittelstandsoasen in der Stadt zu den Mittelstandsoasen in der Provinz ist es ja eigentlich auch nur ein kleiner Schritt, denkt sich die Rezensentin und gähnt. Die Ur-Dorfbewohner sind dabei oft nur Staffage, klagt sie, wie bei Juli Zeh, die sie als herzerwärmende Exoten beschreibt. Die großstadtflüchtigen Protagonisten wiederum flüchten in die reine Innerlichkeit, wie bei Judith Hermann. Der Rest versinkt in "Dorfliteraturtopoi" wie bei Angelika Klüssendorf, so die angeödete Rezensentin, die sich endlich wieder mehr Welt wünscht in der deutschen Literatur. Vielleicht mal eine Reise?
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2021Angemessen gewaltig
Judith Hermann wird für ihren Stil gefeiert und verspottet. Nun hat sie den idealen Stoff gefunden
Findet Judith Hermanns Stil allmählich zu sich selbst, oder kommen ihr bloß die Zeitläufte entgegen? Konsequenter jedenfalls noch als in ihren bisherigen Erzählungen leert sie in ihrem neuen Roman „Daheim“ die Welt aus, und es ist wieder eigenartig zu beobachten, wie das als literarisches Verfahren funktioniert: „Ich habe Otis getroffen, wir haben geheiratet und eine Tochter bekommen, Ann. Ann ist groß und Otis und ich sind auseinandergegangen“. Die Erzählerin ist 47 Jahre alt, sie zieht alleine aufs flache Land am Meer, wahrscheinlich an die Nordsee. Hermanns erzählte Welt sieht aus wie Bilder von Vilhelm Hammershøi und Edward Hopper: „Das Haus hat eine Küche, ein Bad und zwei Zimmer, eines im oberen, eines im unteren Stockwerk. Ich benutze das obere Zimmer nicht, ich schlafe im unteren ...“
Das Stop-and-go der Phrasierung, die Aufzählungen und Wiederholungen, die Parataxen, die suggerieren, hier gehe es nur um Gegebenheiten, nie um Affekte und Bedeutungen, lassen so etwas wie die Trümmerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg durchklingen: „Dies ist mein Notizbuch / dies meine Zeltbahn, / dies ist mein Handtuch, / dies ist mein Zwirn“, ging das Gedicht „Inventur“ von Günter Eich 1945, das Generationen deutscher Schüler in ihren Lesebüchern hatten. Nur dass so eine Kargheit im 21. Jahrhundert, das so gesteckt voller Stimmen, Meinungen, Zeug, Bilder und Medien ist, enorm künstlich erscheint. So sehr Judith Hermann Ästhetizistin ist, hat sie spätestens in diesem Buch aber auch etwas Präzises, womöglich Politisches zu sagen. Dass es zuerst gar nicht so klingt, spricht nur für den Roman.
Sein Ton scheint zu dem zu passen, was die Erzählerin vorhat. Nach einem gelebten Familienleben sucht sie, wie der Titel nahelegt, ein „Daheim“, die Einfachheit einer Vergangenheit, mit der der Roman beginnt: „Ich hatte eine Einraumwohnung im Neubaugebiet einer mittleren Stadt und Arbeit in der Zigarettenfabrik.“ Abends saß die Erzählerin als junge Frau auf dem Balkon, alleine, schaute auf eine Tankstelle, rauchte, „wie in einem finnischen Film“. Windstille in der Biografie.
Das ist eine fein selbstironische Erinnerung an das Szenario, mit dem Judith Hermann vor über 20 Jahren bekannt geworden ist: Ihr Erzählband „Sommerhaus, später“ (1998) faszinierte seine Leserinnen und Leser mit seinem elegischen Stil, dem phlegmatischen Begehren seiner ununterbrochen rauchenden Figuren, einer milchigen Atmosphäre, die wahnsinnig gut zur Epoche der Posthistoire zu passen schien. Nach der Jahrtausendwende und mit ihrem zweiten Buch „Nichts als Gespenster“ (2004) begann das Publikum zu streiten, ob ihr Stil schön traurig und anziehend sei, oder unterkomplex, naiv, pubertär und langweilig. Es kam vor, dass die Literaturkritik der Autorin und ihren Figuren empfahl, erwachsen zu werden.
Das ist vorbei, erwachsen waren die Leute im Roman „Daheim“ in einer formlosen Zwischenzeit, jetzt wollen sie alt werden. Das heißt, sie könnten bis ans Ende ihrer Tage rauchen und den Horizont ansehen: „Die Sonne sank. Ich ging rein und aß ein Schwarzbrot mit Butter und Salz.“ Aber ausgerechnet da wird die kunstvolle Reizarmut von Judith Hermanns literarischer Welt zur dröhnenden Stille.
Besonders in einer unvergesslichen Szene. Die Erzählerin hat eine Freundin an ihrem neuen Wohnort gefunden, Mimi, eine Bildhauerin mit breiten Händen und grauen Haaren, deren Bruder Arild den Bauernhof der Eltern übernommen hat. Umstandslos beginnt die Erzählerin eine unromantische Affäre mit ihm. Über ihrer ersten Nacht liegen die Geräusche der Schweinezucht, die er geerbt und auf moderne Dimensionen vergrößert hat. Die Schweine sind in der Erzählung vorher als etwas vage Bedrohliches vorgekommen und am nächsten Morgen „holt er Luft und sagt, willst du sie sehen.“
Er schaltet das Licht im Stall an, und dann stellt Judith Hermann in ihrer nüchtern additiven Art alles hin, was Massentierhaltung bedeutet: amorph aneinandergepresste Körper, Gitterböden, die abgebissenen Schwänze und Wunden, die sich die Tiere gegenseitig zufügen. Aber entgegen den Reflexen der engagierten Zeitgenossenschaft, wird nichts kommentiert: „Wir stehen nebeneinander und sehen hin, eine ganze Weile lang, schließlich macht Arild das Licht wieder aus.“ Über viele Seiten scheint dieser Eindruck kaum Auswirkungen auf die Geschichte und die Gefühle der Erzählerin zu haben.
So wenig wie der Umstand, dass es nie mehr regnet über dem Land am Meer. Oder dass ihr Exmann mit „Sachen, von denen er denkt, dass wir sie brauchen werden, wenn die Welt untergeht“, ihre Wohnung vollgestopft hat, bis Frau und Tochter nicht mehr mit ihm leben können. Oder dass ihr Bruder sich mit 60 Jahren in ein Mädchen verliebt, das als Kind misshandelt wurde und mit 20 keine Zähne mehr hat. Oder dass die Legenden der Gegend von einer Frau handeln, die eine Nixe gewesen sein soll, vielleicht aber einfach „eine Fremde gewesen ist“, erzählt die Künstlerin Mimi: „Sie haben sie eingesperrt, vergewaltigt, umgebracht, und später haben sie ihr die Schuld gegeben an Seuchen, Sturmflut, Pest. Das denke ich, aber es interessiert mich nicht wirklich. Es ist wie es ist.“
So scheinbar unbeteiligt, wie sie es sich eben durch ihren besonderen Stil ermöglicht, schiebt Judith Hermann dem Szenario des Rückzugs aufs Land eine Gewaltgeschichte unter. Damit stellt sich das Karge ihrer erzählten Welt, das Bedürfnis ihrer Figuren, alleine zu bleiben, ihr Somnambulismus, für den Judith Hermann als Schriftstellerin ebenso viel gepriesen wie verspottet wurde, auf einmal als Funktion einer schrecklichen Verfallenheit und Zerstörung heraus. Ihr Manierismus formt sprachlich und inhaltlich den brutal vergeblichen Versuch nach, sich zu beschränken, absolut stillzuhalten, weil jede Bewegung, jeder Besitz, jede Beziehung bedeutet, sich in alte und neue Schuldigkeiten zu verstricken. Insofern hat dieser Stil, bei allem, was ihn historisch davon trennt, wirklich mit dem ästhetischen Kahlschlag eines Günter Eich nach den Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu tun. So überdeutlich wie in diesem neuen Roman ist das noch in keiner von Judith Hermanns Geschichten geworden.
So muss der Existenzialismus des Anthropozäns aussehen. Und wann hätte man es besser begriffen als 2021, im zweiten Jahr einer Pandemie. In dem Ökologen und Soziologen warnen, dass die industrielle Fleischerzeugung durch die Enge, in der Tiere leben und Menschen mit ihnen arbeiten, voraussehbar neue Pandemien züchten wird. In dem sich die Erde erwärmt, die Meere steigen, das Wetter sich ändert, und alles, was man dagegen tun kann, eine Zusammenarbeit der Menschheit erfordern würde, die sie schon im kleineren Maßstab der Pandemie nicht zustande bringt.
All das wird in „Daheim“ nicht ausdrücklich erwähnt, aber es ist das Wissen, oder zumindest die Ahnung seiner Leser, auf die sich der Roman verlässt. Die Einsamkeit der Judith-Hermann-Gestalten sieht vor diesem Hintergrund weniger edel-ästhetizistisch aus als damals, 1998, als sie zu veröffentlichen begann. Heute kann man ihre Verlorenheit nur noch als bittere Einsicht der in den Siebziger- und Achtzigerjahren Geborenen in die schwindende Wohnlichkeit ihrer Welt verstehen.
Für die nächste Generation gibt es in diesem Buch kein Sinn- und Bindungsangebot. Von „Fridays for Future“ und neuer Frauenbewegung, Identitätspolitik und alternativen Energien ist nichts zu hören. Höchstens lässt man sie mit vagen Hoffnungen ziehen. Ann, die Tochter der Erzählerin, geht kaum volljährig in die Welt, mit nichts „außer einem Rucksack mit Zahnbürste, Handy, T-Shirt und Adressbuch, für den Fall, dass sie das Handy verlieren würde“. Ab und zu schickt sie Links zu Längen- und Breitengraden an die Mutter, eine fliegende Holländerin der übergehenden Weltmeere: „Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt.“
MARIE SCHMIDT
Judith Hermann: Daheim. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021. 192 Seiten, 21 Euro.
In ihrem neuen Roman „Daheim“
wollen die Leute alt werden
und den Horizont anschauen
„Wir stehen nebeneinander und sehen hin, eine ganze Weile lang, schließlich macht Arild das Licht wieder aus.“ So klingt Judith Hermann.Foto: Andreas Labes, S.Fischer Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Judith Hermann wird für ihren Stil gefeiert und verspottet. Nun hat sie den idealen Stoff gefunden
Findet Judith Hermanns Stil allmählich zu sich selbst, oder kommen ihr bloß die Zeitläufte entgegen? Konsequenter jedenfalls noch als in ihren bisherigen Erzählungen leert sie in ihrem neuen Roman „Daheim“ die Welt aus, und es ist wieder eigenartig zu beobachten, wie das als literarisches Verfahren funktioniert: „Ich habe Otis getroffen, wir haben geheiratet und eine Tochter bekommen, Ann. Ann ist groß und Otis und ich sind auseinandergegangen“. Die Erzählerin ist 47 Jahre alt, sie zieht alleine aufs flache Land am Meer, wahrscheinlich an die Nordsee. Hermanns erzählte Welt sieht aus wie Bilder von Vilhelm Hammershøi und Edward Hopper: „Das Haus hat eine Küche, ein Bad und zwei Zimmer, eines im oberen, eines im unteren Stockwerk. Ich benutze das obere Zimmer nicht, ich schlafe im unteren ...“
Das Stop-and-go der Phrasierung, die Aufzählungen und Wiederholungen, die Parataxen, die suggerieren, hier gehe es nur um Gegebenheiten, nie um Affekte und Bedeutungen, lassen so etwas wie die Trümmerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg durchklingen: „Dies ist mein Notizbuch / dies meine Zeltbahn, / dies ist mein Handtuch, / dies ist mein Zwirn“, ging das Gedicht „Inventur“ von Günter Eich 1945, das Generationen deutscher Schüler in ihren Lesebüchern hatten. Nur dass so eine Kargheit im 21. Jahrhundert, das so gesteckt voller Stimmen, Meinungen, Zeug, Bilder und Medien ist, enorm künstlich erscheint. So sehr Judith Hermann Ästhetizistin ist, hat sie spätestens in diesem Buch aber auch etwas Präzises, womöglich Politisches zu sagen. Dass es zuerst gar nicht so klingt, spricht nur für den Roman.
Sein Ton scheint zu dem zu passen, was die Erzählerin vorhat. Nach einem gelebten Familienleben sucht sie, wie der Titel nahelegt, ein „Daheim“, die Einfachheit einer Vergangenheit, mit der der Roman beginnt: „Ich hatte eine Einraumwohnung im Neubaugebiet einer mittleren Stadt und Arbeit in der Zigarettenfabrik.“ Abends saß die Erzählerin als junge Frau auf dem Balkon, alleine, schaute auf eine Tankstelle, rauchte, „wie in einem finnischen Film“. Windstille in der Biografie.
Das ist eine fein selbstironische Erinnerung an das Szenario, mit dem Judith Hermann vor über 20 Jahren bekannt geworden ist: Ihr Erzählband „Sommerhaus, später“ (1998) faszinierte seine Leserinnen und Leser mit seinem elegischen Stil, dem phlegmatischen Begehren seiner ununterbrochen rauchenden Figuren, einer milchigen Atmosphäre, die wahnsinnig gut zur Epoche der Posthistoire zu passen schien. Nach der Jahrtausendwende und mit ihrem zweiten Buch „Nichts als Gespenster“ (2004) begann das Publikum zu streiten, ob ihr Stil schön traurig und anziehend sei, oder unterkomplex, naiv, pubertär und langweilig. Es kam vor, dass die Literaturkritik der Autorin und ihren Figuren empfahl, erwachsen zu werden.
Das ist vorbei, erwachsen waren die Leute im Roman „Daheim“ in einer formlosen Zwischenzeit, jetzt wollen sie alt werden. Das heißt, sie könnten bis ans Ende ihrer Tage rauchen und den Horizont ansehen: „Die Sonne sank. Ich ging rein und aß ein Schwarzbrot mit Butter und Salz.“ Aber ausgerechnet da wird die kunstvolle Reizarmut von Judith Hermanns literarischer Welt zur dröhnenden Stille.
Besonders in einer unvergesslichen Szene. Die Erzählerin hat eine Freundin an ihrem neuen Wohnort gefunden, Mimi, eine Bildhauerin mit breiten Händen und grauen Haaren, deren Bruder Arild den Bauernhof der Eltern übernommen hat. Umstandslos beginnt die Erzählerin eine unromantische Affäre mit ihm. Über ihrer ersten Nacht liegen die Geräusche der Schweinezucht, die er geerbt und auf moderne Dimensionen vergrößert hat. Die Schweine sind in der Erzählung vorher als etwas vage Bedrohliches vorgekommen und am nächsten Morgen „holt er Luft und sagt, willst du sie sehen.“
Er schaltet das Licht im Stall an, und dann stellt Judith Hermann in ihrer nüchtern additiven Art alles hin, was Massentierhaltung bedeutet: amorph aneinandergepresste Körper, Gitterböden, die abgebissenen Schwänze und Wunden, die sich die Tiere gegenseitig zufügen. Aber entgegen den Reflexen der engagierten Zeitgenossenschaft, wird nichts kommentiert: „Wir stehen nebeneinander und sehen hin, eine ganze Weile lang, schließlich macht Arild das Licht wieder aus.“ Über viele Seiten scheint dieser Eindruck kaum Auswirkungen auf die Geschichte und die Gefühle der Erzählerin zu haben.
So wenig wie der Umstand, dass es nie mehr regnet über dem Land am Meer. Oder dass ihr Exmann mit „Sachen, von denen er denkt, dass wir sie brauchen werden, wenn die Welt untergeht“, ihre Wohnung vollgestopft hat, bis Frau und Tochter nicht mehr mit ihm leben können. Oder dass ihr Bruder sich mit 60 Jahren in ein Mädchen verliebt, das als Kind misshandelt wurde und mit 20 keine Zähne mehr hat. Oder dass die Legenden der Gegend von einer Frau handeln, die eine Nixe gewesen sein soll, vielleicht aber einfach „eine Fremde gewesen ist“, erzählt die Künstlerin Mimi: „Sie haben sie eingesperrt, vergewaltigt, umgebracht, und später haben sie ihr die Schuld gegeben an Seuchen, Sturmflut, Pest. Das denke ich, aber es interessiert mich nicht wirklich. Es ist wie es ist.“
So scheinbar unbeteiligt, wie sie es sich eben durch ihren besonderen Stil ermöglicht, schiebt Judith Hermann dem Szenario des Rückzugs aufs Land eine Gewaltgeschichte unter. Damit stellt sich das Karge ihrer erzählten Welt, das Bedürfnis ihrer Figuren, alleine zu bleiben, ihr Somnambulismus, für den Judith Hermann als Schriftstellerin ebenso viel gepriesen wie verspottet wurde, auf einmal als Funktion einer schrecklichen Verfallenheit und Zerstörung heraus. Ihr Manierismus formt sprachlich und inhaltlich den brutal vergeblichen Versuch nach, sich zu beschränken, absolut stillzuhalten, weil jede Bewegung, jeder Besitz, jede Beziehung bedeutet, sich in alte und neue Schuldigkeiten zu verstricken. Insofern hat dieser Stil, bei allem, was ihn historisch davon trennt, wirklich mit dem ästhetischen Kahlschlag eines Günter Eich nach den Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu tun. So überdeutlich wie in diesem neuen Roman ist das noch in keiner von Judith Hermanns Geschichten geworden.
So muss der Existenzialismus des Anthropozäns aussehen. Und wann hätte man es besser begriffen als 2021, im zweiten Jahr einer Pandemie. In dem Ökologen und Soziologen warnen, dass die industrielle Fleischerzeugung durch die Enge, in der Tiere leben und Menschen mit ihnen arbeiten, voraussehbar neue Pandemien züchten wird. In dem sich die Erde erwärmt, die Meere steigen, das Wetter sich ändert, und alles, was man dagegen tun kann, eine Zusammenarbeit der Menschheit erfordern würde, die sie schon im kleineren Maßstab der Pandemie nicht zustande bringt.
All das wird in „Daheim“ nicht ausdrücklich erwähnt, aber es ist das Wissen, oder zumindest die Ahnung seiner Leser, auf die sich der Roman verlässt. Die Einsamkeit der Judith-Hermann-Gestalten sieht vor diesem Hintergrund weniger edel-ästhetizistisch aus als damals, 1998, als sie zu veröffentlichen begann. Heute kann man ihre Verlorenheit nur noch als bittere Einsicht der in den Siebziger- und Achtzigerjahren Geborenen in die schwindende Wohnlichkeit ihrer Welt verstehen.
Für die nächste Generation gibt es in diesem Buch kein Sinn- und Bindungsangebot. Von „Fridays for Future“ und neuer Frauenbewegung, Identitätspolitik und alternativen Energien ist nichts zu hören. Höchstens lässt man sie mit vagen Hoffnungen ziehen. Ann, die Tochter der Erzählerin, geht kaum volljährig in die Welt, mit nichts „außer einem Rucksack mit Zahnbürste, Handy, T-Shirt und Adressbuch, für den Fall, dass sie das Handy verlieren würde“. Ab und zu schickt sie Links zu Längen- und Breitengraden an die Mutter, eine fliegende Holländerin der übergehenden Weltmeere: „Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt.“
MARIE SCHMIDT
Judith Hermann: Daheim. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021. 192 Seiten, 21 Euro.
In ihrem neuen Roman „Daheim“
wollen die Leute alt werden
und den Horizont anschauen
„Wir stehen nebeneinander und sehen hin, eine ganze Weile lang, schließlich macht Arild das Licht wieder aus.“ So klingt Judith Hermann.Foto: Andreas Labes, S.Fischer Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Judith Hermann hat einen ganz leichten, ganz großen Metaroman geschrieben. Er handelt von der Literatur, die erlösen soll und nicht erlöst. Adam Soboczynski Die Zeit 20210429