Travelling in Europe with her family, Daisy Miller, an exquisitely beautiful young American woman, presents her fellow-countryman Winterbourne with a dilemma he cannot resolve. Is she deliberately flouting social convention in the outspoken way she talks and acts, or is she simply ignorant of those conventions?
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Frankfurter Allgemeine ZeitungBei ihm hat alles einen doppelten Boden
Henry James zum Zweiten: Neuübersetzungen von "Daisy Miller" und "Die Europäer" lassen das vorletzte Jahrhundert geradezu postmodern erscheinen.
Von Jochen Schimmang
Amerikaner sind steinreich, aber ein bisschen naiv und/oder puritanisch. Europäer dagegen können durchaus zweifelhafte Figuren sein, verfügen aber über Raffinesse, Kultur und Lebenskunst. Im einen Roman fahren die Amerikaner nach Europa, genauer: an den Genfer See und nach Rom, und er endet vielleicht nicht tragisch, aber traurig. Im anderen fahren die Europäer nach Amerika, genauer: an die Ostküste unweit Boston, und er schließt mit einem mehrfachen Happyend. Erschienen sind beide Romane im selben Jahr, 1878. Da war Henry James 45 Jahre alt, hatte den amerikanischen Kontinent schon seit fast einem Jahrzehnt verlassen, war quer durch Europa gereist und lebte seit zwei Jahren in London.
Ganz so einfach mit den Amerikanern und den Europäern, wie oben geschildert, ist es natürlich nicht. Jedenfalls nicht bei James, von dem der kluge Günter Blöcker schon vor fast sechs Jahrzehnten geschrieben hat: "Wenn bei Flaubert der Autor der einzig Gescheite in einer Welt von Dummköpfen ist, so lässt James seine Geschöpfe an der Intelligenz des Autors teilhaben."
Und die war gewaltig, zumindest, was seinen Blick für die Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens und für interkulturelle Missverständnisse und seine Fähigkeit zur Vivisektion von Gefühlen angeht. Es geht bei ihm fast immer um die passende Heirat und um Geld, vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge, sehr wohl aber auch um Liebe und die Befreiung der Gefühle. Henry James, der ja als britischer Staatsbürger starb, ist in dieser Hinsicht durchaus ein Nachfolger von Jane Austen, die über die gesellschaftliche Bedingtheit der großen wie kleinen Gefühle, eingeschlossen die Fähigkeit, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu täuschen, schon ebenso gut Bescheid wusste wie ihr späterer Landsmann.
Da Henry James also seine Intelligenz, wenn zuweilen auch nur in kleinen Dosen, an seine Figuren weitergab, hat er nie vollständig naive oder gar dumme Charaktere geschaffen. Daisy Miller etwa, die Tochter eines steinreichen Fabrikanten aus Schenectady, die mit ihrer Mutter und ihrem neunjährigen Bruder Randolph auf ihrer Europa-Reise zuerst am Genfer See den Exilamerikaner Frederick Winterbourne und danach in Rom Signore Giovanelli kennenlernt - Daisy Miller also ist keineswegs gesellschaftlich so naiv, wie sie in den Augen der amerikanischen Kolonie in Europa und in den Augen der Europäer erscheint. Das zeigt allein ihre Gesprächsführung. Mr. Winterbourne, aus dessen Perspektive "Daisy Miller" - eigentlich eine Novelle - erzählt wird, mag der Ansicht sein, dass sie "plappert", und der Leser mag dem plaudernden Ton der Erzählung insgesamt gern folgen und sich auch vorstellen, wie das Ganze als Komödie auf der Bühne wirken würde. Dass der angeblich so naiven Daisy Sätze in der Konversation jedoch fast immer einen doppelten Boden haben, dass sie Sätze zuweilen geradezu strategisch einsetzt, wird dem Leser nach dem anfänglichen Geplänkel sehr schnell klar. Die Eindimensionalität dagegen liegt auf der anderen Seite - der Seite der "Gesellschaft", vor allem der exilamerikanischen Gesellschaft, die in den in Vevey spielenden ersten beiden Teilen durch Winterbournes Tante, Mrs. Costello, repräsentiert wird, und in Rom dann durch seine Bekannte Mrs. Walker, die dort einen großen Salon führt. Die Expatriates führen sich "europäischer" auf als die Europäer selbst. Wie sanft sich die Szene nur nach und nach verdüstert und die Komödie zur Tragödie wird, wie unausweichlich aber zugleich Daisy Millers gesellschaftlicher Emanzipationsversuch im Tod enden muss, zeigt schon James' ganze erzählerische Meisterschaft. Und dann ist in dieser Novelle für uns Nachgeborene noch eine hübsche Entdeckung zu machen. Auf Seite 64 findet sich, mit einer leichten Modifikation (Daisy befindet sich in Begleitung), eine vorweggenomme Beschreibung eines Fotos, das erst über siebzig Jahre später gemacht wurde und dann zur Ikone geworden ist: Ruth Orkins "American Girl in Italy".
Die Europäer, die in James' gleichnamigem Roman in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nach New England kommen, haben es leichter. Die Baronin Eugenia Münster, die durch ihre "morganatische Ehe" mit dem Prinzen von Silberstadt-Schreckenstein zu ihrem Titel gekommen ist, und ihr jüngerer Bruder, der Maler Felix Young, besuchen ihre Verwandten an der amerikanischen Ostküste. Die sind - siehe oben - steinreich, wissen aber nicht zu leben, weil der neuenglische Puritanismus sie fest im Griff hält. Ihr Vermögen verdankt die Familie übrigens nicht der Industrie, sondern der Vermögensverwaltung - obwohl zeitlich früher angesiedelt als "Daisy Miller", spielt dieser Roman also schon in einer fortgeschrittenen Fraktion des Kapitals, dem Finanzkapital. Kein Maschinenlärm und kein Ruß, sondern wunderbare Anwesen im Grünen, doch nicht zu weit von Boston.
"Sie scheinen doch sehr gute Voraussetzungen zu haben, um genießen zu können", sagt Felix (der Name ist Programm) zu seiner Cousine Gertrude, die er am Ende heiraten wird. "Sie haben Geld, sind freie Menschen und verfügen über das, was man in Europa ,Prestige' nennt. Aber man kann sagen, Sie sehen das Leben nur als Mühsal." Und Gertrude wird ihm das einige Seiten später bestätigen. Über ihren Vater und ihre Schwester sagt sie: "Nichts macht sie glücklich. Hier ist niemand glücklich."
Auch dieser Roman ist vorwiegend dialogisch, und die Komödie, die hier aufgeführt wird, lässt sich noch besser auf der Bühne vorstellen als Daisy Millers Geschichte. Lange Zeit spielt sich alles - und alles heißt hier wie oft bei James: fast nichts, aber was für ein fast nichts! - auf der Ebene des Imaginären ab. Die Europäer haben Phantasien über die Amerikaner, und die Amerikaner haben andere über die Europäer. Im Hause Wentworth - so heißen die amerikanischen Verwandten - erscheint Eugenia alles "wunderbar friedlich und makellos, durchdrungen von einer gewissermaßen taubengrauen Frische, die jene Ruhe und Güte ausstrahlte, die sie mit dem Quäkertum verband, und es schien dennoch auf einem materiellen Wohlstand zu gründen." Das europäische Geschwisterpaar dagegen erscheint den Wentworths schon dadurch irgendwie frivol, dass es so viele französische Redewendungen in seine Sätze einflicht. Vor allem die Baronin ist Gegenstand hübscher Phantasien: "Sie wird ein Boudoir haben. Sie wird uns zum Dinner einladen - einem sehr späten Dinner. Sie wird in ihrem Zimmer frühstücken."
Am Ende gibt es, wie Gustav Seibt in seinem launigen Nachwort schreibt, "vier Hochzeiten und eine Abreise". Es gibt auch, darf man hinzufügen, in diesem Fall eine gelungene Emanzipationsgeschichte, nämlich die von Gertrude, die Felix heiratet, obwohl sie doch für den Familiengeistlichen vorgesehen war, Mr. Brand, von dem sie sagt: "Er kann die Tugend, die er mir beigebracht hat, wiederhaben." Mr. Brand bekommt dafür Gertrudes Schwester Charlotte, die sehr viel besser zu ihm passt. Nur die Baronin, die bei ihren Verwandten eigentlich nach Geld gesucht hatte, reist am Ende wieder ab und sagt: "Ich weiß nicht. Europa kommt mir viel größer vor als Amerika."
Als Günter Blöcker damals über James schrieb, stellte er sich auch die Frage, wieweit dieser noch den "Alten" und wieweit schon den "Modernen" angehörte. Sechzig Jahre danach lässt sich die Frage leichter beantworten. Henry James gehört, was man damals natürlich nicht wissen konnte, zu den Postmodernen und ist deshalb unser höchst lebendiger Zeitgenosse.
Henry James: "Daisy Miller". Roman.
Aus dem Englischen von Britta Mümmler. dtv Verlagsgesellschaft, München 2015. 126 S., geb., 14,90 [Euro].
Henry James: "Die Europäer". Roman.
Aus dem Englischen von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Gustav Seibt. Manesse Verlag, München 2015. 245 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Henry James zum Zweiten: Neuübersetzungen von "Daisy Miller" und "Die Europäer" lassen das vorletzte Jahrhundert geradezu postmodern erscheinen.
Von Jochen Schimmang
Amerikaner sind steinreich, aber ein bisschen naiv und/oder puritanisch. Europäer dagegen können durchaus zweifelhafte Figuren sein, verfügen aber über Raffinesse, Kultur und Lebenskunst. Im einen Roman fahren die Amerikaner nach Europa, genauer: an den Genfer See und nach Rom, und er endet vielleicht nicht tragisch, aber traurig. Im anderen fahren die Europäer nach Amerika, genauer: an die Ostküste unweit Boston, und er schließt mit einem mehrfachen Happyend. Erschienen sind beide Romane im selben Jahr, 1878. Da war Henry James 45 Jahre alt, hatte den amerikanischen Kontinent schon seit fast einem Jahrzehnt verlassen, war quer durch Europa gereist und lebte seit zwei Jahren in London.
Ganz so einfach mit den Amerikanern und den Europäern, wie oben geschildert, ist es natürlich nicht. Jedenfalls nicht bei James, von dem der kluge Günter Blöcker schon vor fast sechs Jahrzehnten geschrieben hat: "Wenn bei Flaubert der Autor der einzig Gescheite in einer Welt von Dummköpfen ist, so lässt James seine Geschöpfe an der Intelligenz des Autors teilhaben."
Und die war gewaltig, zumindest, was seinen Blick für die Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens und für interkulturelle Missverständnisse und seine Fähigkeit zur Vivisektion von Gefühlen angeht. Es geht bei ihm fast immer um die passende Heirat und um Geld, vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge, sehr wohl aber auch um Liebe und die Befreiung der Gefühle. Henry James, der ja als britischer Staatsbürger starb, ist in dieser Hinsicht durchaus ein Nachfolger von Jane Austen, die über die gesellschaftliche Bedingtheit der großen wie kleinen Gefühle, eingeschlossen die Fähigkeit, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu täuschen, schon ebenso gut Bescheid wusste wie ihr späterer Landsmann.
Da Henry James also seine Intelligenz, wenn zuweilen auch nur in kleinen Dosen, an seine Figuren weitergab, hat er nie vollständig naive oder gar dumme Charaktere geschaffen. Daisy Miller etwa, die Tochter eines steinreichen Fabrikanten aus Schenectady, die mit ihrer Mutter und ihrem neunjährigen Bruder Randolph auf ihrer Europa-Reise zuerst am Genfer See den Exilamerikaner Frederick Winterbourne und danach in Rom Signore Giovanelli kennenlernt - Daisy Miller also ist keineswegs gesellschaftlich so naiv, wie sie in den Augen der amerikanischen Kolonie in Europa und in den Augen der Europäer erscheint. Das zeigt allein ihre Gesprächsführung. Mr. Winterbourne, aus dessen Perspektive "Daisy Miller" - eigentlich eine Novelle - erzählt wird, mag der Ansicht sein, dass sie "plappert", und der Leser mag dem plaudernden Ton der Erzählung insgesamt gern folgen und sich auch vorstellen, wie das Ganze als Komödie auf der Bühne wirken würde. Dass der angeblich so naiven Daisy Sätze in der Konversation jedoch fast immer einen doppelten Boden haben, dass sie Sätze zuweilen geradezu strategisch einsetzt, wird dem Leser nach dem anfänglichen Geplänkel sehr schnell klar. Die Eindimensionalität dagegen liegt auf der anderen Seite - der Seite der "Gesellschaft", vor allem der exilamerikanischen Gesellschaft, die in den in Vevey spielenden ersten beiden Teilen durch Winterbournes Tante, Mrs. Costello, repräsentiert wird, und in Rom dann durch seine Bekannte Mrs. Walker, die dort einen großen Salon führt. Die Expatriates führen sich "europäischer" auf als die Europäer selbst. Wie sanft sich die Szene nur nach und nach verdüstert und die Komödie zur Tragödie wird, wie unausweichlich aber zugleich Daisy Millers gesellschaftlicher Emanzipationsversuch im Tod enden muss, zeigt schon James' ganze erzählerische Meisterschaft. Und dann ist in dieser Novelle für uns Nachgeborene noch eine hübsche Entdeckung zu machen. Auf Seite 64 findet sich, mit einer leichten Modifikation (Daisy befindet sich in Begleitung), eine vorweggenomme Beschreibung eines Fotos, das erst über siebzig Jahre später gemacht wurde und dann zur Ikone geworden ist: Ruth Orkins "American Girl in Italy".
Die Europäer, die in James' gleichnamigem Roman in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nach New England kommen, haben es leichter. Die Baronin Eugenia Münster, die durch ihre "morganatische Ehe" mit dem Prinzen von Silberstadt-Schreckenstein zu ihrem Titel gekommen ist, und ihr jüngerer Bruder, der Maler Felix Young, besuchen ihre Verwandten an der amerikanischen Ostküste. Die sind - siehe oben - steinreich, wissen aber nicht zu leben, weil der neuenglische Puritanismus sie fest im Griff hält. Ihr Vermögen verdankt die Familie übrigens nicht der Industrie, sondern der Vermögensverwaltung - obwohl zeitlich früher angesiedelt als "Daisy Miller", spielt dieser Roman also schon in einer fortgeschrittenen Fraktion des Kapitals, dem Finanzkapital. Kein Maschinenlärm und kein Ruß, sondern wunderbare Anwesen im Grünen, doch nicht zu weit von Boston.
"Sie scheinen doch sehr gute Voraussetzungen zu haben, um genießen zu können", sagt Felix (der Name ist Programm) zu seiner Cousine Gertrude, die er am Ende heiraten wird. "Sie haben Geld, sind freie Menschen und verfügen über das, was man in Europa ,Prestige' nennt. Aber man kann sagen, Sie sehen das Leben nur als Mühsal." Und Gertrude wird ihm das einige Seiten später bestätigen. Über ihren Vater und ihre Schwester sagt sie: "Nichts macht sie glücklich. Hier ist niemand glücklich."
Auch dieser Roman ist vorwiegend dialogisch, und die Komödie, die hier aufgeführt wird, lässt sich noch besser auf der Bühne vorstellen als Daisy Millers Geschichte. Lange Zeit spielt sich alles - und alles heißt hier wie oft bei James: fast nichts, aber was für ein fast nichts! - auf der Ebene des Imaginären ab. Die Europäer haben Phantasien über die Amerikaner, und die Amerikaner haben andere über die Europäer. Im Hause Wentworth - so heißen die amerikanischen Verwandten - erscheint Eugenia alles "wunderbar friedlich und makellos, durchdrungen von einer gewissermaßen taubengrauen Frische, die jene Ruhe und Güte ausstrahlte, die sie mit dem Quäkertum verband, und es schien dennoch auf einem materiellen Wohlstand zu gründen." Das europäische Geschwisterpaar dagegen erscheint den Wentworths schon dadurch irgendwie frivol, dass es so viele französische Redewendungen in seine Sätze einflicht. Vor allem die Baronin ist Gegenstand hübscher Phantasien: "Sie wird ein Boudoir haben. Sie wird uns zum Dinner einladen - einem sehr späten Dinner. Sie wird in ihrem Zimmer frühstücken."
Am Ende gibt es, wie Gustav Seibt in seinem launigen Nachwort schreibt, "vier Hochzeiten und eine Abreise". Es gibt auch, darf man hinzufügen, in diesem Fall eine gelungene Emanzipationsgeschichte, nämlich die von Gertrude, die Felix heiratet, obwohl sie doch für den Familiengeistlichen vorgesehen war, Mr. Brand, von dem sie sagt: "Er kann die Tugend, die er mir beigebracht hat, wiederhaben." Mr. Brand bekommt dafür Gertrudes Schwester Charlotte, die sehr viel besser zu ihm passt. Nur die Baronin, die bei ihren Verwandten eigentlich nach Geld gesucht hatte, reist am Ende wieder ab und sagt: "Ich weiß nicht. Europa kommt mir viel größer vor als Amerika."
Als Günter Blöcker damals über James schrieb, stellte er sich auch die Frage, wieweit dieser noch den "Alten" und wieweit schon den "Modernen" angehörte. Sechzig Jahre danach lässt sich die Frage leichter beantworten. Henry James gehört, was man damals natürlich nicht wissen konnte, zu den Postmodernen und ist deshalb unser höchst lebendiger Zeitgenosse.
Henry James: "Daisy Miller". Roman.
Aus dem Englischen von Britta Mümmler. dtv Verlagsgesellschaft, München 2015. 126 S., geb., 14,90 [Euro].
Henry James: "Die Europäer". Roman.
Aus dem Englischen von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Gustav Seibt. Manesse Verlag, München 2015. 245 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungDie alte
Jagd
Neu herausgegeben und
übersetzt – die Erzählkunst
von Henry James
VON LOTHAR MÜLLER
Im Jahr 2000 besuchte der österreichische Schriftsteller Walter Kappacher in New York den 1933 aus Europa emigrierten Biochemiker Erwin Chargaff. Der schenkte seinem Gast für die Rückreise einen kleinen Band mit Erzählungen von Henry James. Das war ein großes Glück für Kappacher, denn er wurde dadurch zum Leser eines ihm bis dahin unbekannten Autors, und es war ein Glück für das deutschsprachige Publikum. Denn Kappacher machte sich daran, die Erzählung, die es ihm besonders angetan hatte, zu übersetzen. Sie heißt „Die mittleren Jahre“ und ist 1893 zum fünfzigsten Geburtstag ihres Autors in Scribner’s Magazine erschienen, in seiner Geburtsstadt New York. Ihr erster Satz lautet in Kappachers Deutsch: „Der Apriltag war mild und hell, und der arme Dencombe, glücklich in der Einbildung wiedererlangter Kraft, stand im Garten des Hotels und erwog mit einer Bedachtsamkeit, in der noch etwas von Verträumtheit war, die Verlockungen leichter Spaziergänge.“ Der April ist in der Literatur kein einfacher Monat. Er kann sehr grausam sein. Der arme Dencombe ist ein alternder Schriftsteller, Rekonvaleszent und zur Erholung im Seebad Bournemouth in Südengland. Er wird nach wenigen Seiten in Ohnmacht fallen. Nicht nur der Spaziergang an den Klippen, sondern auch ein Zufallsgespräch über seinen eben erschienenen Roman „Die mittleren Jahre“ hat dazu beigetragen. Der junge Arzt, der ihm beisteht, erkennt ihn als Autor des Romans, erweist sich als ein großer Bewunderer und wird für sein Idol die alte Dame, in deren Dienst er steht, brüskieren und so seine Erbschaft verspielen. Henry James schrieb für das Zeitschriftenformat, so standen ihm für die Begegnung von Autor und Leser und die Intrige zweier alternder Figuren um die Jugend nur 5500 Worte zur Verfügung, auf Deutsch nicht mal 60 kleine Druckseiten. Aber die haben es in sich. Denn sie folgen wie Dencombes Roman, dessen Titel die Erzählung übernimmt, den wir aber nie werden lesen können, dem Ziel, „eine außerordentliche Verdichtung zu erreichen“. Und sie schlagen ein Thema an, das Henry James, je älter er wurde, mehr und mehr ins Zentrum seiner Erzählkunst rückte: das Vergehen der Zeit und was es mit den Menschen macht. „Another go“, einen neuen Anlauf, eine zweite Chance, mehr Leben wünscht sich Dencombe, erschöpft von der Anstrengung, sein Leben in den Dienst der Kunst zu stellen. Walter Kappacher hat es bei der makellosen Übertragung nicht belassen. Sein eigenes Buch „Der Fliegenpalast“ (2009) ist eine Hommage an „Die mittleren Jahre“, mit Hugo von Hofmannsthal in der Dencombe-Rolle: als erschöpfter, in den Salzburger Bergen Erholung suchender Mann von fünfzig Jahren, der Erzählungen von Henry James liest und auf ein „Another go“ hofft.
Im Sommer 1876, im Alter von 33 Jahren, als er sich bereits einen Namen als Erzähler und Europa-Kenner gemacht hatte, übersiedelte Henry James nach London. Im Sommer 1896 erwarb er das im 18. Jahrhundert errichtete „Lamb House“ in Rye an der Küste von East Sussex, im Juli 1915 nahm er die englische Staatsbürgerschaft an, am 28. Februar 1916 starb er in London. Im Vorgriff auf seinen 100. Todestag werden durch Neuübersetzungen und Neuausgaben seiner Romane und Erzählungen nun auch im Deutschen die Dimensionen eines Werks sichtbar, das zwei Kontinente umspannt, Europa und Nordamerika ineinander spiegelt, mit unerhörtem Detailreichtum den Aufbruch in die industrielle Moderne in sich aufnimmt, die Erosion sozialer Konventionen und moralischer Gewissheiten mit einer detektivischen Aufmerksamkeit verfolgt, die Sherlock Holmes alle Ehre machen würde und die Erforschung der tiefsten Bewusstseinsschichten der Figuren mit ständigen Seitenblicken auf ihre Bankkonten, Geschäftsverbindungen, Eheverträge und Testamentsverfügungen verknüpft.
Die dicht getakteten Fahrpläne der transatlantischen Schiffsrouten und die Unterwasserkabel spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sind die Infrastruktur für das „internationale Thema“ seines Werks, das kontrastive Gegenüber und stetig wachsende Beziehungsgeflecht von Alter und Neuer Welt. In dem Roman „Die Europäer“, der erstmals 1878 im Atlantic Monthly erschien, reisen die Titelfiguren, eine Baronin aus dem kleinen deutschen Hof Silberstadt-Schreckenstein und ihr Bruder, nach Boston und mischen dort das Leben der puritanischen Familie Wentworth auf. Das klingt nach einer Komödie, in der Vertreter des alten, komplizierten europäischen Adels einfachen Gemütern der Neuen Welt den Kopf verdrehen, um in amerikanisches Geld einzuheiraten. Aber als er diesen schlanken Roman schrieb, war Henry James über die Typenkomödie schon hinaus. „Sie ist beeindruckend“, sagt eine der Töchter Wentworth von der Baronin aus Deutschland, „aber ich weiß noch nicht recht. Es geht mir mit ihr wie einer Sängerin, die ein Lied singt. Man weiß erst Bescheid, wenn das Lied zu Ende ist.“ „Oh“, sagt daraufhin der Bruder der Baronin, „das Lied ist nie zu Ende.“
Der europäischen Lust an Kunst und Vergnügungen, Salon und Bohème arbeitet etwas entgegen in Boston. Henry James hat seine Kunst des Erzählens verfeinert, um diesem Etwas auf die Spur zu kommen. „Daisy Miller“ erschien im selben Jahr wie „Die Europäer“, im Cornhill Magazine in London, unter der Ägide von Leslie Stephen, dem Vater von Virginia Woolf. In dieser Erzählung ist die Lebenslust in der amerikanischen Titelheldin versammelt, die mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder über die Schweiz nach Italien reist. Und ihr Landsmann Winterbourne, der ihrem Charme verfällt, ohne ihren „Mangel an Bildung und Erziehung“ zu übersehen, hat seine calvinistische Prägung nicht aus Amerika mitgebracht, sondern am Originalschauplatz erworben, er ist in Genf zur Schule gegangen und lebt dort seit Jahren. Winterbourne, das ist ein sprechender Kontrast zur frühlingshaften Daisy, deren Name im Englischen an die Aprilmargerite erinnert. Der April kann ein grausamer Monat sein. Der Erzähler, weitgehend unsichtbar und auf jeden expliziten Kommentar verzichtend, inszeniert mit leichter Hand, wie die strengen Moralapostel in der amerikanischen Kolonie in Rom die flirtende Daisy skandalisieren. Und er ruft die Aura des antiken Rom auf, so holt sich Daisy Miller das „römische Fieber“, an dem sie zugrundegeht, bei einem nächtlichen Besuch im Kolosseum. Das Ende ist freilich vom Konjunktiv II, dem Agenten des Möglichkeitssinns, durchtränkt: Was, wenn der zum Beobachter degradierte Winterbourne sich der aufblühenden Daisy – er ordnet sie flugs dem Typus der „flirtenden Amerikanerinnen“ zu – gewachsen gezeigt hätte? Wer einen Eindruck von der Dynamik gewinnen will, mit der bei Henry James der Konjunktiv II rumort und die Vergangenheit der Figuren in ein Terrain der verpassten Chancen und der Selbsttäuschungen verwandelt, die erst ein Chocmoment der Gegenwart enthüllt, greife zur Titelerzählung des Bandes „Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren“. Er wird, diesmal in Florenz, einem der Männer in mittleren Jahren begegnen, die alt genug sind, um vom plötzlich aufschießenden Verdacht, an einem Schlüsselmoment des Lebens versagt zu haben, empfindlich getroffen zu werden: sie haben nicht mehr genug Zukunft, um die Balance wiederherzustellen.
Wer nach diesen Werken auf den Geschmack gekommen ist, den erwartet schließlich ein Leseabenteuer, das ihn entweder ganz in sich hineinzieht und verschlingt oder aber schnell wieder freigibt: der Roman „The Ambassadors“ (Die Gesandten), der erstmals 1903 erschien, ein Höhepunkt im Spätwerk, ein weit hinausgeschobener Vorposten seiner Kunst, in dem sich das Thema der verrinnenden Zeit, der verlorenen Illusionen, verpassten Chancen und des nicht festgehaltenen Glücks auf nahezu 600 Seiten ineinander verschlingen. Aus diesem Zusammenführen hat der Balzac-Leser Henry James seine eigene „Menschliche Komödie“ hervorgehen lassen.
Die amerikanische Provinz in Gestalt des fiktiven Woollett, Massachusetts, und die europäische Metropole Paris stehen sich in „Die Gesandten“ gegenüber. Lewis Lambert Strether, ein Mann von etwa 55 Jahren, der vor Jahren Frau und Kind verloren hat, Herausgeber einer kleinen Zeitschrift, steht im Begriff, mit der reichen Mrs. Newsome eine neue Ehe einzugehen. Wie die Helden alter Ritterromane muss er aber zuvor eine Prüfung bestehen. Die so sittenstrenge wie kultivierte Mrs. Newsome schickt ihn nach Paris, damit er ihren Sohn Chad zurückholt, von dem sie vermutet, dass er dort in die Fänge einer Kurtisane geraten ist und das Schicksal der jungen Männer in französischen Romanen zu erleiden droht. Strether bricht auf, findet aber in Paris keinen Roman vor, sondern das undurchsichtige Dickicht des Lebens. Die Verführerin entpuppt sich als elegante, feinsinnige Comtesse aus dem Faubourg Saint-Germain mit einer reizenden Tochter, ungewiss ist die Natur der Beziehung zwischen ihr und Chad Newsome. Unverkennbar aber hat der junge Amerikaner vom Umgang mit der zehn Jahre älteren „femme du monde“ profitiert – ist er womöglich der Held eines Erziehungsromans und nicht eines Liebesromans? Will er ein fairer Amerikaner bleiben, dann muss Strether sich in das Dickicht des modernen Lebens hineinbegeben – und mit ihm gerät der Leser in eine Welt, in der scharfsichtige Augen durch Schildpattlorgnons blicken, die Dialoge die Abgründe des Ungesagten schäumend überdecken, Amerikaner und Europäer einen Fächer von Figuren bilden, die einander kommentieren, beobachten, erhellen und verdunkeln. Weit stößt Henry James das Tor zur Zukunft des modernen Romans auf. Auf alles, was geschieht, blickt der Leser in der Form, die es im Widerschein der Gefühle und Gedanken der Hauptfigur annimmt, ohne zu wissen, was der Erzähler ihm vorenthält.
Gesandte sind oft auch Spione. Dieser wird „umgedreht“, läuft zur Gegenseite über. – nein, er lässt sich langsam in sie hineinziehen. Der Leser, vollauf damit beschäftigt, keine im labyrinthischen Satzbau des späten Henry James versteckte Andeutung zu übersehen, wird wie Strether selbst zum Jäger, der sich auf die Spuren einer verborgenen Wahrheit setzt. Diese Wahrheit ist – zwar in Paris angesiedelt, aber gut viktorianisch – der Sex, der nicht zur Sprache kommen darf. Michael Walter, trainiert durch seine vor einigen Jahren erschienene Neuübersetzung von Laurence Sternes „Tristram Shandy“, hat diese Jagd mit allen ihren Schlupfwinkeln und Spiegelfechtereien neu ins Deutsche geholt, angetrieben von der Rivalität mit der ihrerseits verdienstvollen Übersetzung von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser. Von der Jagd seines Helden nach „dem nicht Gesehenen und Okkulten“ spricht Henry James im Vorwort zur definitiven Ausgabe: „Die alte gräuliche Jagd nach einem versteckten Sklaven, mit Hilfe von Bluthunden und einem Fetzen Stoff für die Witterung, dürfte wohl keinen Moment ,aufregender‘ gewesen sein.“ In den Prospekten der Kultiviertheit, der eleganten Mode und des Interieurs, für die Henry James berühmt ist, tun sich immer wieder Risse auf, in denen die Schafotte revolutionäre Paris sichtbar werden. Mit einer Komödie will das urbane Wild am Ende seine Nacktheit überspielen. Aber es ist so gut wie sicher, dass der Liebesroman diese Komödie nicht überlebt. Und der Jäger, für den sie gespielt wird, entnimmt ihr eine weitere vorläufige Gewissheit: „Er gelangte wiederholt zu dem Schluss, dass es in dieser bezaubernden Geschichte einfach eine Lüge gegeben hatte – eine Lüge, auf die man nun, aus der Distanz und mit Behutsamkeit, bedenkenlos den Finger legen konnte.“ Aber was folgt daraus? Lesen Sie selbst!
Bücher
Henry James: Die mittleren Jahre. Aus dem Englischen von Walter Kappacher. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2015. 66 Seiten, 12 Euro.
Henry James: Daisy Miller. Aus dem Englischen neu übersetzt von Britta Mümmler. Dtv, München 2015. 128 Seiten, 14,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Henry James: Die Europäer. Roman. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich 2015. 248 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Erzählungen. Aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen. Manesse Verlag, Zürich 2015. 416 S., 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Henry James: Die Gesandten. Roman. Aus dem Englischen von Michael Walter. Carl Hanser Verlag, München 2015. 704 Seiten, 39,90 Euro.
Hazel Hutchison: Henry James. Biografie. Aus dem Englischen von Ute Astrid Rall. Parthas Verlag, Berlin 2015. 300 Seiten, 24,80 Euro.
Henry James (1843-1916).
Foto: AmerikaHaus
Beobachten, wie die Zeit vergeht – „Mann am Fenster“, 1875 von Gustave Caillebotte.
Foto: Getty Images
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Jagd
Neu herausgegeben und
übersetzt – die Erzählkunst
von Henry James
VON LOTHAR MÜLLER
Im Jahr 2000 besuchte der österreichische Schriftsteller Walter Kappacher in New York den 1933 aus Europa emigrierten Biochemiker Erwin Chargaff. Der schenkte seinem Gast für die Rückreise einen kleinen Band mit Erzählungen von Henry James. Das war ein großes Glück für Kappacher, denn er wurde dadurch zum Leser eines ihm bis dahin unbekannten Autors, und es war ein Glück für das deutschsprachige Publikum. Denn Kappacher machte sich daran, die Erzählung, die es ihm besonders angetan hatte, zu übersetzen. Sie heißt „Die mittleren Jahre“ und ist 1893 zum fünfzigsten Geburtstag ihres Autors in Scribner’s Magazine erschienen, in seiner Geburtsstadt New York. Ihr erster Satz lautet in Kappachers Deutsch: „Der Apriltag war mild und hell, und der arme Dencombe, glücklich in der Einbildung wiedererlangter Kraft, stand im Garten des Hotels und erwog mit einer Bedachtsamkeit, in der noch etwas von Verträumtheit war, die Verlockungen leichter Spaziergänge.“ Der April ist in der Literatur kein einfacher Monat. Er kann sehr grausam sein. Der arme Dencombe ist ein alternder Schriftsteller, Rekonvaleszent und zur Erholung im Seebad Bournemouth in Südengland. Er wird nach wenigen Seiten in Ohnmacht fallen. Nicht nur der Spaziergang an den Klippen, sondern auch ein Zufallsgespräch über seinen eben erschienenen Roman „Die mittleren Jahre“ hat dazu beigetragen. Der junge Arzt, der ihm beisteht, erkennt ihn als Autor des Romans, erweist sich als ein großer Bewunderer und wird für sein Idol die alte Dame, in deren Dienst er steht, brüskieren und so seine Erbschaft verspielen. Henry James schrieb für das Zeitschriftenformat, so standen ihm für die Begegnung von Autor und Leser und die Intrige zweier alternder Figuren um die Jugend nur 5500 Worte zur Verfügung, auf Deutsch nicht mal 60 kleine Druckseiten. Aber die haben es in sich. Denn sie folgen wie Dencombes Roman, dessen Titel die Erzählung übernimmt, den wir aber nie werden lesen können, dem Ziel, „eine außerordentliche Verdichtung zu erreichen“. Und sie schlagen ein Thema an, das Henry James, je älter er wurde, mehr und mehr ins Zentrum seiner Erzählkunst rückte: das Vergehen der Zeit und was es mit den Menschen macht. „Another go“, einen neuen Anlauf, eine zweite Chance, mehr Leben wünscht sich Dencombe, erschöpft von der Anstrengung, sein Leben in den Dienst der Kunst zu stellen. Walter Kappacher hat es bei der makellosen Übertragung nicht belassen. Sein eigenes Buch „Der Fliegenpalast“ (2009) ist eine Hommage an „Die mittleren Jahre“, mit Hugo von Hofmannsthal in der Dencombe-Rolle: als erschöpfter, in den Salzburger Bergen Erholung suchender Mann von fünfzig Jahren, der Erzählungen von Henry James liest und auf ein „Another go“ hofft.
Im Sommer 1876, im Alter von 33 Jahren, als er sich bereits einen Namen als Erzähler und Europa-Kenner gemacht hatte, übersiedelte Henry James nach London. Im Sommer 1896 erwarb er das im 18. Jahrhundert errichtete „Lamb House“ in Rye an der Küste von East Sussex, im Juli 1915 nahm er die englische Staatsbürgerschaft an, am 28. Februar 1916 starb er in London. Im Vorgriff auf seinen 100. Todestag werden durch Neuübersetzungen und Neuausgaben seiner Romane und Erzählungen nun auch im Deutschen die Dimensionen eines Werks sichtbar, das zwei Kontinente umspannt, Europa und Nordamerika ineinander spiegelt, mit unerhörtem Detailreichtum den Aufbruch in die industrielle Moderne in sich aufnimmt, die Erosion sozialer Konventionen und moralischer Gewissheiten mit einer detektivischen Aufmerksamkeit verfolgt, die Sherlock Holmes alle Ehre machen würde und die Erforschung der tiefsten Bewusstseinsschichten der Figuren mit ständigen Seitenblicken auf ihre Bankkonten, Geschäftsverbindungen, Eheverträge und Testamentsverfügungen verknüpft.
Die dicht getakteten Fahrpläne der transatlantischen Schiffsrouten und die Unterwasserkabel spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sind die Infrastruktur für das „internationale Thema“ seines Werks, das kontrastive Gegenüber und stetig wachsende Beziehungsgeflecht von Alter und Neuer Welt. In dem Roman „Die Europäer“, der erstmals 1878 im Atlantic Monthly erschien, reisen die Titelfiguren, eine Baronin aus dem kleinen deutschen Hof Silberstadt-Schreckenstein und ihr Bruder, nach Boston und mischen dort das Leben der puritanischen Familie Wentworth auf. Das klingt nach einer Komödie, in der Vertreter des alten, komplizierten europäischen Adels einfachen Gemütern der Neuen Welt den Kopf verdrehen, um in amerikanisches Geld einzuheiraten. Aber als er diesen schlanken Roman schrieb, war Henry James über die Typenkomödie schon hinaus. „Sie ist beeindruckend“, sagt eine der Töchter Wentworth von der Baronin aus Deutschland, „aber ich weiß noch nicht recht. Es geht mir mit ihr wie einer Sängerin, die ein Lied singt. Man weiß erst Bescheid, wenn das Lied zu Ende ist.“ „Oh“, sagt daraufhin der Bruder der Baronin, „das Lied ist nie zu Ende.“
Der europäischen Lust an Kunst und Vergnügungen, Salon und Bohème arbeitet etwas entgegen in Boston. Henry James hat seine Kunst des Erzählens verfeinert, um diesem Etwas auf die Spur zu kommen. „Daisy Miller“ erschien im selben Jahr wie „Die Europäer“, im Cornhill Magazine in London, unter der Ägide von Leslie Stephen, dem Vater von Virginia Woolf. In dieser Erzählung ist die Lebenslust in der amerikanischen Titelheldin versammelt, die mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder über die Schweiz nach Italien reist. Und ihr Landsmann Winterbourne, der ihrem Charme verfällt, ohne ihren „Mangel an Bildung und Erziehung“ zu übersehen, hat seine calvinistische Prägung nicht aus Amerika mitgebracht, sondern am Originalschauplatz erworben, er ist in Genf zur Schule gegangen und lebt dort seit Jahren. Winterbourne, das ist ein sprechender Kontrast zur frühlingshaften Daisy, deren Name im Englischen an die Aprilmargerite erinnert. Der April kann ein grausamer Monat sein. Der Erzähler, weitgehend unsichtbar und auf jeden expliziten Kommentar verzichtend, inszeniert mit leichter Hand, wie die strengen Moralapostel in der amerikanischen Kolonie in Rom die flirtende Daisy skandalisieren. Und er ruft die Aura des antiken Rom auf, so holt sich Daisy Miller das „römische Fieber“, an dem sie zugrundegeht, bei einem nächtlichen Besuch im Kolosseum. Das Ende ist freilich vom Konjunktiv II, dem Agenten des Möglichkeitssinns, durchtränkt: Was, wenn der zum Beobachter degradierte Winterbourne sich der aufblühenden Daisy – er ordnet sie flugs dem Typus der „flirtenden Amerikanerinnen“ zu – gewachsen gezeigt hätte? Wer einen Eindruck von der Dynamik gewinnen will, mit der bei Henry James der Konjunktiv II rumort und die Vergangenheit der Figuren in ein Terrain der verpassten Chancen und der Selbsttäuschungen verwandelt, die erst ein Chocmoment der Gegenwart enthüllt, greife zur Titelerzählung des Bandes „Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren“. Er wird, diesmal in Florenz, einem der Männer in mittleren Jahren begegnen, die alt genug sind, um vom plötzlich aufschießenden Verdacht, an einem Schlüsselmoment des Lebens versagt zu haben, empfindlich getroffen zu werden: sie haben nicht mehr genug Zukunft, um die Balance wiederherzustellen.
Wer nach diesen Werken auf den Geschmack gekommen ist, den erwartet schließlich ein Leseabenteuer, das ihn entweder ganz in sich hineinzieht und verschlingt oder aber schnell wieder freigibt: der Roman „The Ambassadors“ (Die Gesandten), der erstmals 1903 erschien, ein Höhepunkt im Spätwerk, ein weit hinausgeschobener Vorposten seiner Kunst, in dem sich das Thema der verrinnenden Zeit, der verlorenen Illusionen, verpassten Chancen und des nicht festgehaltenen Glücks auf nahezu 600 Seiten ineinander verschlingen. Aus diesem Zusammenführen hat der Balzac-Leser Henry James seine eigene „Menschliche Komödie“ hervorgehen lassen.
Die amerikanische Provinz in Gestalt des fiktiven Woollett, Massachusetts, und die europäische Metropole Paris stehen sich in „Die Gesandten“ gegenüber. Lewis Lambert Strether, ein Mann von etwa 55 Jahren, der vor Jahren Frau und Kind verloren hat, Herausgeber einer kleinen Zeitschrift, steht im Begriff, mit der reichen Mrs. Newsome eine neue Ehe einzugehen. Wie die Helden alter Ritterromane muss er aber zuvor eine Prüfung bestehen. Die so sittenstrenge wie kultivierte Mrs. Newsome schickt ihn nach Paris, damit er ihren Sohn Chad zurückholt, von dem sie vermutet, dass er dort in die Fänge einer Kurtisane geraten ist und das Schicksal der jungen Männer in französischen Romanen zu erleiden droht. Strether bricht auf, findet aber in Paris keinen Roman vor, sondern das undurchsichtige Dickicht des Lebens. Die Verführerin entpuppt sich als elegante, feinsinnige Comtesse aus dem Faubourg Saint-Germain mit einer reizenden Tochter, ungewiss ist die Natur der Beziehung zwischen ihr und Chad Newsome. Unverkennbar aber hat der junge Amerikaner vom Umgang mit der zehn Jahre älteren „femme du monde“ profitiert – ist er womöglich der Held eines Erziehungsromans und nicht eines Liebesromans? Will er ein fairer Amerikaner bleiben, dann muss Strether sich in das Dickicht des modernen Lebens hineinbegeben – und mit ihm gerät der Leser in eine Welt, in der scharfsichtige Augen durch Schildpattlorgnons blicken, die Dialoge die Abgründe des Ungesagten schäumend überdecken, Amerikaner und Europäer einen Fächer von Figuren bilden, die einander kommentieren, beobachten, erhellen und verdunkeln. Weit stößt Henry James das Tor zur Zukunft des modernen Romans auf. Auf alles, was geschieht, blickt der Leser in der Form, die es im Widerschein der Gefühle und Gedanken der Hauptfigur annimmt, ohne zu wissen, was der Erzähler ihm vorenthält.
Gesandte sind oft auch Spione. Dieser wird „umgedreht“, läuft zur Gegenseite über. – nein, er lässt sich langsam in sie hineinziehen. Der Leser, vollauf damit beschäftigt, keine im labyrinthischen Satzbau des späten Henry James versteckte Andeutung zu übersehen, wird wie Strether selbst zum Jäger, der sich auf die Spuren einer verborgenen Wahrheit setzt. Diese Wahrheit ist – zwar in Paris angesiedelt, aber gut viktorianisch – der Sex, der nicht zur Sprache kommen darf. Michael Walter, trainiert durch seine vor einigen Jahren erschienene Neuübersetzung von Laurence Sternes „Tristram Shandy“, hat diese Jagd mit allen ihren Schlupfwinkeln und Spiegelfechtereien neu ins Deutsche geholt, angetrieben von der Rivalität mit der ihrerseits verdienstvollen Übersetzung von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser. Von der Jagd seines Helden nach „dem nicht Gesehenen und Okkulten“ spricht Henry James im Vorwort zur definitiven Ausgabe: „Die alte gräuliche Jagd nach einem versteckten Sklaven, mit Hilfe von Bluthunden und einem Fetzen Stoff für die Witterung, dürfte wohl keinen Moment ,aufregender‘ gewesen sein.“ In den Prospekten der Kultiviertheit, der eleganten Mode und des Interieurs, für die Henry James berühmt ist, tun sich immer wieder Risse auf, in denen die Schafotte revolutionäre Paris sichtbar werden. Mit einer Komödie will das urbane Wild am Ende seine Nacktheit überspielen. Aber es ist so gut wie sicher, dass der Liebesroman diese Komödie nicht überlebt. Und der Jäger, für den sie gespielt wird, entnimmt ihr eine weitere vorläufige Gewissheit: „Er gelangte wiederholt zu dem Schluss, dass es in dieser bezaubernden Geschichte einfach eine Lüge gegeben hatte – eine Lüge, auf die man nun, aus der Distanz und mit Behutsamkeit, bedenkenlos den Finger legen konnte.“ Aber was folgt daraus? Lesen Sie selbst!
Bücher
Henry James: Die mittleren Jahre. Aus dem Englischen von Walter Kappacher. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2015. 66 Seiten, 12 Euro.
Henry James: Daisy Miller. Aus dem Englischen neu übersetzt von Britta Mümmler. Dtv, München 2015. 128 Seiten, 14,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Henry James: Die Europäer. Roman. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich 2015. 248 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Erzählungen. Aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen. Manesse Verlag, Zürich 2015. 416 S., 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Henry James: Die Gesandten. Roman. Aus dem Englischen von Michael Walter. Carl Hanser Verlag, München 2015. 704 Seiten, 39,90 Euro.
Hazel Hutchison: Henry James. Biografie. Aus dem Englischen von Ute Astrid Rall. Parthas Verlag, Berlin 2015. 300 Seiten, 24,80 Euro.
Henry James (1843-1916).
Foto: AmerikaHaus
Beobachten, wie die Zeit vergeht – „Mann am Fenster“, 1875 von Gustave Caillebotte.
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