Nagasaki, Anfang der Fünfzigerjahre: Die Zerstörungen des Krieges sind der Stadt immer noch anzusehen, doch zwischen den Ruinen entstehen bereits neue, moderne Hochhäuser. In einem von diesen lebt Etsuko, zusammen mit ihrem Mann Jiro. Während dieser verbittert versucht Karriere zu machen, kümmert sich Etsuko um den Haushalt. Unterhaltung hat sie wenig, oft steht sie am Fenster und beobachtet, wie sich die Welt um sie herum verändert. Eines Tages zieht eine Frau in die Holzhütte unten am Fluss ein, zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Etsuko freundet sich mit den beiden an und muss bald feststellen, wie ihre Nachbarin über ihrem Traum vom Glück mit einem amerikanischen Soldaten mehr und mehr ihr Kind vergisst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2021Dass noch eine Spur dir bleibe
Butterfly-Mythos, Selbstmordgedanken, Kinderleid: Kazuo Ishiguros Roman "Damals in Nagasaki" als unglückliche Migrationsgeschichte
Der 1954 in Nagasaki geborene, 1960 mit seiner Familie nach England umgesiedelte Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat ein literarisches Werk geschaffen, das gemeinhin als kosmopolitisch, postethnisch oder "born translated" charakterisiert wird. Als Fremdkörper erscheinen in dieser Sicht seine ersten beiden Romane, die einzigen, die in Japan angesiedelt sind, "A Pale View of Hills" ("Damals in Nagasaki") von 1982 und "An Artist of the Floating World" ("Der Maler der fließenden Welt") von 1986. Diese Bücher wurden als essenziell japanisch, orientalisch und ästhetisierend gelesen. Jerrine Tan erörtert in ihrem Aufsatz "Screening Japan: Kazuo Ishiguro's Early Japan Novels and the Way We Read World Literature" in der Zeitschrift Modern Fiction Studies (Bd. 67, Heft 1, 2021 / Johns Hopkins University Press) Ishiguros Spiel mit Leseerwartungen an Weltliteratur: Diese seien entweder kulturnivellierend oder zelebrierten Nischenidentitäten.
"Damals in Nagasaki" besteht aus Reminiszenzen der Heldin Etsuko, einer Atombombenüberlebenden, die mit ihrer Tochter Keiko und dem Journalisten Sheringham nach England kam. Ihr Mann starb früh, und Keiko beging Selbstmord. Etsuko erzählt Niki, ihrer Tochter aus zweiter Ehe, in selbsttherapeutischen Gesprächen vom Nagasaki der Fünfzigerjahre. Einen Erzählstrang bildet ihre Freundschaft mit der Nachbarin Sachiko und deren Tochter Mariko. Keikos Tod wird von englischen Zeitungen trocken mit Hinweis auf die Neigung der Japaner zum Selbstmord kommentiert. Auch zivile Opfer von Hiroshima und Nagasaki werden im Westen oft unbewusst als Produkt suizidaler Ambitionen gesehen. Ästhetisierung erschwert Empathie mit Japanern in kritischen Momenten ihrer Geschichte und Anerkennung als Leidende und Mitgeschöpfe. Todesnähe als Klischee dekonstruierte schon Ishiguros Kriminalnovelle "A Family Supper" (1983), in der ein frustrierter Patriarch vermeintlich Fugu, letztlich aber gewöhnlichen Fisch zubereitet.
Einem Schauerroman nähert das Nagasaki-Buch das durchlaufende Motiv der - von den Müttern Etsuko und Sachiko wie von uns Lesern - ignorierten seelischen und physischen Verletzungen von Kindern an. Es ist eine Migrationsgeschichte ohne Akt des Übersetzens zwischen den Kontinenten. Tan deutet die ungeklärten Verletzungen der herumtollenden Mariko, die später wie Keiko vom Mutterland getrennt wird, als metaphorische Urwunde des Exilierten.
Japan ist weniger exotisches Dekor als versteckter Darsteller. Dem in Nagasaki angesiedelten Madame-Butterfly-Mythos, auf den der unstete amerikanische Freund Sachikos anspielt, steht eine mit Handel und Historie beladene Stadt gegenüber. Die Gegenpole vitaler Hafen - das Motorgeheul symbolisiert den erstarkenden Körper der verletzten Nation - und Brachland des Wachstums illustrieren das Zwiespältige des Wiederaufbaus. Das moskitogeplagte Ödland aus Abzugsgräben vor Etsukos Wohnblock zitiert Bilder infektiöser Sümpfe in Kurosawas Nachkriegsfilmen.
Japanische Körper sind befrachtete Orte des sozialen Gedächtnisses und nationaler Integrität. Antikriegsrhetorik und Ökokritik verschmelzen im Panorama eines toxischen Nachkriegsjapans. Laut Tan spielt das Motiv verletzlicher Kätzchen auf die zunächst unter Katzen festgestellten Quecksilbervergiftungen der Minamata-Krankheit an. Die Deformierung, chronische Unlesbarkeit und Missinterpretation japanischer Körper bezeugt auch ein Ausflug Etsukos zum Friedenspark von Nagasaki. Die dortige, von einem Japaner geschaffene "weiße Statue" erinnert sie an einen "muskulösen griechischen Gott mit ausgestreckten Armen" und an einen Verkehrspolizisten: laut Tan ein Symbol für den aggressiven weißen Mann, der während der Besatzung Japan den Weg weist. Mit präzisen Übersetzungsvorschlägen für Ishiguros Zeichensprache plädiert Tan für eine Entuniversalisierung und soziohistorische Wiederentdeckung seiner Weltliteratur. STEFFEN GNAM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Butterfly-Mythos, Selbstmordgedanken, Kinderleid: Kazuo Ishiguros Roman "Damals in Nagasaki" als unglückliche Migrationsgeschichte
Der 1954 in Nagasaki geborene, 1960 mit seiner Familie nach England umgesiedelte Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat ein literarisches Werk geschaffen, das gemeinhin als kosmopolitisch, postethnisch oder "born translated" charakterisiert wird. Als Fremdkörper erscheinen in dieser Sicht seine ersten beiden Romane, die einzigen, die in Japan angesiedelt sind, "A Pale View of Hills" ("Damals in Nagasaki") von 1982 und "An Artist of the Floating World" ("Der Maler der fließenden Welt") von 1986. Diese Bücher wurden als essenziell japanisch, orientalisch und ästhetisierend gelesen. Jerrine Tan erörtert in ihrem Aufsatz "Screening Japan: Kazuo Ishiguro's Early Japan Novels and the Way We Read World Literature" in der Zeitschrift Modern Fiction Studies (Bd. 67, Heft 1, 2021 / Johns Hopkins University Press) Ishiguros Spiel mit Leseerwartungen an Weltliteratur: Diese seien entweder kulturnivellierend oder zelebrierten Nischenidentitäten.
"Damals in Nagasaki" besteht aus Reminiszenzen der Heldin Etsuko, einer Atombombenüberlebenden, die mit ihrer Tochter Keiko und dem Journalisten Sheringham nach England kam. Ihr Mann starb früh, und Keiko beging Selbstmord. Etsuko erzählt Niki, ihrer Tochter aus zweiter Ehe, in selbsttherapeutischen Gesprächen vom Nagasaki der Fünfzigerjahre. Einen Erzählstrang bildet ihre Freundschaft mit der Nachbarin Sachiko und deren Tochter Mariko. Keikos Tod wird von englischen Zeitungen trocken mit Hinweis auf die Neigung der Japaner zum Selbstmord kommentiert. Auch zivile Opfer von Hiroshima und Nagasaki werden im Westen oft unbewusst als Produkt suizidaler Ambitionen gesehen. Ästhetisierung erschwert Empathie mit Japanern in kritischen Momenten ihrer Geschichte und Anerkennung als Leidende und Mitgeschöpfe. Todesnähe als Klischee dekonstruierte schon Ishiguros Kriminalnovelle "A Family Supper" (1983), in der ein frustrierter Patriarch vermeintlich Fugu, letztlich aber gewöhnlichen Fisch zubereitet.
Einem Schauerroman nähert das Nagasaki-Buch das durchlaufende Motiv der - von den Müttern Etsuko und Sachiko wie von uns Lesern - ignorierten seelischen und physischen Verletzungen von Kindern an. Es ist eine Migrationsgeschichte ohne Akt des Übersetzens zwischen den Kontinenten. Tan deutet die ungeklärten Verletzungen der herumtollenden Mariko, die später wie Keiko vom Mutterland getrennt wird, als metaphorische Urwunde des Exilierten.
Japan ist weniger exotisches Dekor als versteckter Darsteller. Dem in Nagasaki angesiedelten Madame-Butterfly-Mythos, auf den der unstete amerikanische Freund Sachikos anspielt, steht eine mit Handel und Historie beladene Stadt gegenüber. Die Gegenpole vitaler Hafen - das Motorgeheul symbolisiert den erstarkenden Körper der verletzten Nation - und Brachland des Wachstums illustrieren das Zwiespältige des Wiederaufbaus. Das moskitogeplagte Ödland aus Abzugsgräben vor Etsukos Wohnblock zitiert Bilder infektiöser Sümpfe in Kurosawas Nachkriegsfilmen.
Japanische Körper sind befrachtete Orte des sozialen Gedächtnisses und nationaler Integrität. Antikriegsrhetorik und Ökokritik verschmelzen im Panorama eines toxischen Nachkriegsjapans. Laut Tan spielt das Motiv verletzlicher Kätzchen auf die zunächst unter Katzen festgestellten Quecksilbervergiftungen der Minamata-Krankheit an. Die Deformierung, chronische Unlesbarkeit und Missinterpretation japanischer Körper bezeugt auch ein Ausflug Etsukos zum Friedenspark von Nagasaki. Die dortige, von einem Japaner geschaffene "weiße Statue" erinnert sie an einen "muskulösen griechischen Gott mit ausgestreckten Armen" und an einen Verkehrspolizisten: laut Tan ein Symbol für den aggressiven weißen Mann, der während der Besatzung Japan den Weg weist. Mit präzisen Übersetzungsvorschlägen für Ishiguros Zeichensprache plädiert Tan für eine Entuniversalisierung und soziohistorische Wiederentdeckung seiner Weltliteratur. STEFFEN GNAM
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